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Ein lehrreicher Fehler

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Ivan Cherpillod, Crissier VD

Langsam geht die Sonne hinter dem Massiv des Mont Blanc auf, während die Drahtseilbahn der Aiguilles Rouges mit uns zur Bergstation hinaufschwebt. Tief unter uns liegt Chamonix. Wir steigen aus und beobachten für Augenblicke die verschiedenen Gruppen von Bergsteigern, die ihren Zielen zustreben. Niemand schlägt unsern Weg ein, und das ist gut so, denn Einsamkeit kann sehr wertvoll sein, nicht zuletzt in der Umgebung des grossen französischen Ferienortes.

Jean-Luc, mein Gefährte, geht über das erste Firnstück voran, das uns an den Fuss jener Wand führen soll, die wir durchsteigen wollen: die Südwand der Aiguille du Pouce. Am liebsten würde ich schon von den Felsen träumen, die auf uns warten, doch der eisige, steile und trügerische Firn lässt dies zunächst nicht zu.

Nach einem ersten Abstieg folgt unsere Route einer Schlucht, die auf den Pass der Lacs Noirs mündet. Jetzt, da es bergan geht, scheint die Sonne auf diese Seite und macht uns einiges zu schaffen. Noch einmal werfen wir einen Blick zurück auf unsere Spuren: niemand folgt uns — wir werden ohne Zweifel allein in der Wand sein. Dies gibt Anlass zu einem Freudentaumel, der uns -jetzt wieder im Schatten - anspornt, nachdem wir den Sattel hinter uns gebracht haben.

Zwischen ein paar weissen Hügeln eingebettet, liegen die Lacs Noirs. Sie präsentieren sich in einem milchigen Weiss, befleckt von Eisklumpen, die aus der zugefrorenen Oberfläche herausragen. Es ist ein erstaunliches, vollkommen uneinheitli-ches Farbspiel: weissliche Arabesken schmücken das durchscheinende, reine Blau des Wassers. Aber trotz seiner Faszination kann uns dieser Anblick nicht lange aufhalten; denn uns liegt ein bestimmtes Ziel am Herzen. Vor jeder Tour empfinde ich — und sicher geht es meinem Kameraden genau so — eine gewisse innere Unruhe. Es ist nicht Angst, vielmehr eine Art Spannung, die die An- Dr. Carlo Sganzini Zentralpräsident Presidente centrale \

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Di. Kimes Borioh Eugenio Filippini Régine Schneiter Vincenzo Pasquali /. Vizepräsident //, Vizepräsident. Vizepräsident Zentralsekretär I. Vice-Presidente IL Vice-Presidente III. Vice-Presidente Segretario centrale Armando Skory Aldo Poncioni Reto Salzborn Renzo Ambrosetti Zenlralkassier Sommeralpinismus Winteralpin ismus Jugendorganisation Cassiere centrale Alpinismo estivo Alpinismo invernale Organizzazione giovanile Jean-Mario Bosia Alpines Rettungswesen Soccorso alpino Hans Gschwend Bergführerwesen Guide

SAC ZENTRALKOMITEE TESSIN 1980-1983

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Renato Buzzini Hüttenverwaltung Amministrazione capanne Dr. Claudio Abächerli Publikationen Pubblicazioni Dr. Ernies Borsari Versicherungen Assicurazioni Guido Bustelli Delegationen Delegazioni Aldo Verzaroli Stv. 30 Sostituto OG Paolo Steiner Stv. alpines Rettungswesen Sostituto Soccorso alpino Massimo Pini Informationen Informazioni Fausto Celio Rechlsdienst Servizio giuridico Oscar Tagliabue Stv. des Zentralkassiers Sosl. del Cassiere centrale Oscar Hofmann Stv. des Hüttenbaus Sost. costr. capanne Romolo Nottaris Stv. des Bergführerwesens Sostituto guide Margherita Rathgeb //. Sekretärin IL Segretaria 22 Rund um den Monte Rosa: Aufstieg zum Colle d' Olen Photo R. Didier ziehungskraft der Felsen in mir auslöst: ich bin ungeduldig und nervös in einem, würde am liebsten auf den Anmarsch verzichten und schon vom ersten Augenblick an mitten in der Wand sein. Daher rührt auch sicher ein Teil meiner Liebe zu Klettergärten: denn mehr als die Dauerleistung suche ich das Akrobatische, mehr als den Berg das Ungewöhnliche. Und eben dieses Ungewöhnliche möchte ich auf den hohen Gipfeln, auf den Gletschern, in den endlosen Weiten entdecken.

Wir übersteigen ein paar vorspringende Kuppen des Pouce, und bald sehen wir das Bollwerk vor uns in die Höhe ragen. Fast etwas furchterregend, aber meine Spannung lässt eher nach. Sie wird sogar ganz verschwinden, sobald ich die ersten Griffe im Fels spüre. Doch zuerst gilt es, möglichst rasch die Schlucht hinter uns zu bringen, die uns noch vom Einstieg trennt.

Anstatt in die Mulde hinab- und auf der andern Seite wieder hinaufzusteigen, entschliessen wir uns, seitlich den Felsen entlang zu gehen, um an den Fuss der Wand zu gelangen.

Ich beginne den steilen und vereisten Firn zu erkunden. Meine Schuhe greifen kaum einen Zentimeter tief in den harten Schnee. Ein Eispickel hätte nicht geschadet! Dessen ungeachtet gehe ich weiter und erreiche die Felsen; sie bieten keine einzige Unebenheit, und der Hang wird immer steiler. Darum mache ich kehrt und will aufjene Passage zusteuern, die wir eigentlich hätten begehen sollen; sie wäre etwas weniger steil gewesen, hätte uns aber zu einem Umweg gezwungen. Da -plötzlich gleitet mein Fuss aus, und ich beginne zu rutschen. Mit dem Gesicht zur Wand gekehrt, versuche ich, mich mit den Fingernägeln im Eis festzukrallen und meinen Fall zu bremsen. Ich verstärke auch den Druck auf meine Sohlen, rutsche aber immer schneller. Zwischen meinen Beinen hindurch erkenne ich ein paar Felsausbuch-tungen und - rund zweihundert Meter tiefer -den Firn... Das sind nun die letzten Sekunden meines Lebens. Ich habe Angst und schreie; es ist ein wilder, verzweifelter Schrei, der Schrei eines Todgeweihten, der um jeden Preis weiterle- 23 Col du Midi 24 Col du Midi 25 In der Nordwand der Barre des Escrins 26 Combe Maudite 27 Jonction: Séracs Photos Gaston Rébullat ben möchte, und wenn es auch nur noch eine Minute wäre. Nun verstehe ich den zum Tod Verurteilten, der noch eine letzte Zigarette rauchen will!

Auf die Panik folgt eine merkwürdige Stille: « Jetzt werde ich endlich erfahren, was Sterben bedeutet... » Ich bin über die Buckel hinwegge-rutscht und stürze nun von Felsplatte zu Felsplatte, immer steiler. « Schau an! Meine Knochen sind ja stärker, als ich gedacht hätte !» Noch habe ich das Bewusstsein nicht verloren, nicht einmal jetzt, wie ich kopfvoran aufdenFirn unterhalb der Felswand aufpralle. Ein paar schmerzhafte Kapriolen, und ich lande schliesslich in sitzender Stellung ganz unten am Ende der Schlucht.

« Alles in Ordnung? » ruft mein Freund herunter.

« Hmmm, ja! Ich bin noch ganz! » schreie ich zurück und bringe damit mein Erstaunen darüber zum Ausdruck, dass ich nicht in mehrere Stücke zerschmettert worden bin. Hände und Arme sind arg zerkratzt, und von meiner Stirn tropft Blut. Meine Hüften schmerzen, doch der Rucksack hat zum grossen Glück meinen Rücken geschützt. Ein paar Notverbände werden angelegt; dann machen wir uns auf den Rückweg. Leider! Denn kaum war ich sicher, noch am Leben zu sein, also unmittelbar nach dem fürchterlichen Sturz, verspürte ich schon wieder Lust, mich in die Südwand des Pouce zu wagen. Aber das erlaubte mein gegenwärtiger Zustand eben nicht.

Nach einstündigem Marsch erreichen wir wieder die Bahnstation, wo ich den Touristen zuzulä-cheln versuche, die entsetzt mein blasses, blutver-schmiertes Gesicht anstarren.

« I did a fall of about two hundred meters », erkläre ich dem liebenswürdigen Engländer, der mich ins Spital fährt.

Noch heute habe ich den Eindruck, ein Glückspilz zu sein, der etwas ganz Aussergewöhnliches hat erleben dürfen. In der Tat, ich kann ja noch davon erzählen... An jenem Tag bin ich über das Ungewöhnliche hinausgegangen; ich habe mich der Schwelle des Metaphysischen genähert. Seither neige ich dazu, jene Menschen für My thoma-nen zu halten, die behaupten, sie hätten im Augenblick der Todesgefahr ihr ganzes Leben noch einmal durchlebt! Doch das ist ja unwichtig, denn ich weiss es jetzt besser.

Aus dem Französischen übersetzt von D. W. Portmann i940i950 Proportion centésimale des glaciers en allongement

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