Eine Besteigung des Obergabelhorns als Alleingänger
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Eine Besteigung des Obergabelhorns als Alleingänger

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VON ADRIEN BONJOUR

Mit 2 Bildern ( 91,92 ) Karin gewidmet, die Ja sagen und warten kann.

Nachdem ich schon einmal im November'das Rothorn als Alleingänger bestiegen habe, wird diese neue Fahrt ohne Zweifel Protest hervorrufen, als eine in Manie ausgeartete Unvorsichtigkeit ( um nicht mehr zu sagen ). Es gibt jedoch beim Bergsteigen eine Art, der Gefahr ins Auge zu sehen, 1 « Die Alpen », Januar 1955. 256 die darin besteht, ihr in verantwortbarem Verhältnis günstige Umstände entgegenzustellen. Ich hoffe, man werde es mir nicht verübeln, wenn ich diesem Bericht über meine Bergfahrt einige persönliche Bemerkungen über solche Abenteuer vorausschicke.

Weit entfernt davon, eine Manie zu sein, wird die Besteigung eines schwierigen Gipfels im Alleingang immer eine Ausnahme bleiben. Wenn ich aber die vollgestopften Hütten, den Lärm der Menge und ihre Anhäufung in den Bergen nicht schätze; wenn ich die Stille der Natur oder das Rollen des Wassers in den Gletschermühlen, das Donnern herabstürzender Seraks oder das Rauschen von Eisnadeln, die der Wind vom Firn herabjagt, den mehr oder weniger heiseren Stimmen irgendeines improvisierten Männerchors vorziehe, so glaube ich, nicht allein dazustehen. Dagegen schätze ich eine Fahrt zu zweit, und wenn ich wählen müsste, würde ich ohne Zögern das Solo dem Duo 1 opfern. Wenn man alles in Betracht zieht, bringt jene Ausnahme, die eine Alleinbesteigung darstellt, eine einzige Ergänzung, aber eine durch nichts zu ersetzende Ergänzung aller Freuden, die der Berg bieten kann, eine Bereicherung, welche sich nur diejenigen vorstellen können, die dieses Abenteuer selbst schon einmal erlebt haben. Ganz auf seine eigene Kraft angewiesen und dabei mehr als je der eigenen Schwächen bewusst, hat hier der Mensch zu kämpfen; er kann nur auf seinen eigenen moralischen Halt zählen, auf seinen eigenen Willen; nur von seiner eigenen Begeisterung gestützt, steht er dem Berg gegenüber, den er bewundert und achtet, aber nie fürchtet, vor allem aber, den er liebt. Sei es im freien Klettern, bei der Querung eines Couloirs oder auf der luftigen Schneide eines Schneegrates: die geringste Schwäche kann den Absturz zur Folge haben. Daher die Notwendigkeit einer nie aussetzenden Konzentration ( eine heilsame Selbstdisziplin ), eine Tiefe der Konzentration, durch welche die Pausen und Halte, als Kontrast dazu, um so wohltuender empfunden werden und welche die Fähigkeit der Kontemplation in keiner Weise herabsetzt.

Ich sprach eben davon, dass die Erfolgschancen in ein möglichst gutes Verhältnis zum Gefahrenmoment zu bringen sind. So soll in erster Linie das Wetter beständig sein; vor allem aber muss der Alleingänger, auch wenn die Tour in vollem Gange ist, auf den Gipfel verzichten können, sobald die herrschenden Bedingungen das Unternehmen gewagt erscheinen lassen ( und der einzige Weg, sich darüber ein Urteil bilden zu können, ist der, sich die Verhältnisse an Ort und Stelle anzusehen ). Es ist mir einmal im Laufe des Mai passiert, dass ich kurz vor dem Gipfel des Bishorns, dieses Viertausenders für Damen par excellence, aufgeben musste. Und das nur, weil ich allein und zu Fuss war. Ich war nicht sicher, ob die Schneebrücke, die am Tag vorher noch von Skifahrern passiert worden war, mich tragen würde.Verzichten können! Aber bei gutem Willen hinterlässt eine Niederlage am Berg nie Bitterkeit. Im Gegenteil! Sie kann nur als Ansporn dienen.

Im Falle des Obergabelhorns war der Enderfolg das Ergebnis langer Annäherungsarbeit: zuerst ein Traum, der, eine Zeitlang genährt, dann ins Reich der Hirngespinste verwiesen und mit grösserer Beharrlichkeit wieder aufgenommen wurde, bis er eines schönen Tages, Ende Juni 1955, zum erstenmal in Angriff genommen und zu einem missglückten Versuch wurde.Vom « Cœur » aus im direkten Weg aufsteigend, hatte ich die Höhe der roten Gendarmen erreicht, als ich gewahr wurde, dass sich das Wetter verschlechterte. Offen gestanden, hätte ich es früher merken müssen. Aber bei der letzten Farbfoto-Aufnahme hatte ich den Eindruck gehabt, dass die paar Wolken am blauen Himmel, von dem sich die Seraks des Arbjochs abzeichneten, nichts Schlimmes zu bedeuten hätten. Und dann war ich vom Aufstieg so in Anspruch genommen - es ging ein sehr 1 Ich wählte absichtlich die musikalische Bezeichnung, um die Harmonie zu betonen, die zwischen den Teilnehmern einer Zweierpartie herrscht.

steiles Couloir hinauf, mit auf einer Eisschicht liegendem, lockerem Schnee, und über einige Steinplatten mit einer kaum sichtbaren Spur Glatteis in den schattigen Rissen -, dass ich etwas zu spät zur Einsicht kam, schleunigst den Rückzug antreten zu müssen. Auf eine letzte Versuchung, die Rekognoszierung noch bis zum ersten weissen Dom vorzutreiben, verzichtete ich rasch, als der erste Donnerschlag vom Grand Cornier widerhallte. Ich hatte dann nicht den zehnten Teil der 600 Meter Abstieg hinter mir, als ich mich schon von den Wolken eingehüllt sah, was meine Einsamkeit vervollständigte. Da klebte ich am Abhang, nur mit dem Pickel zu meiner Verteidigung, und bemühte mich schlecht und recht, meiner Aufstiegsspur zu folgen, um mich in diesem watte-artigen beweglichen Weiss, in diesem Reich des Unsichtbaren, nicht gänzlich zu verlieren. Beim grossen Felsinselchen hörte jedoch die Spur auf. Die Blitze folgten sich immer schneller und jagten mir jedesmal eine neue Salve von Graupeln ins Gesicht, ein ziemlich unangenehmes Gefühl, während man ohne Seil im nassen Fels abwärtsklettert. Ja, die Träume des einsamen Wanderers beschäftigten sich nur noch mit dem Dilemma: « Wirst du durchhalten - oder wirst du nicht durchhalten? » Ich war etwas fehlgegangen, und eine Sackgasse zwang mich, wieder mehrere Meter zurückzusteigen. Die Graupelschwaden, die mir in den Mund drangen, liessen mich plötzlich an den Adler von Hérédia denken, der seinen Funkenregen verschlang. Die Ironie des Vergleichs gab mir den Mut, die gefährliche Stelle zu überwinden. Dann kam ziemlich schnell die « Anticlimax », wie die Engländer sagen. Der Donner hörte auf. Die Gewitterwolken lichteten sich. Der Mountet wurde wieder sichtbar. Und der Rest des Abstiegs ging gut vonstatten.

Die einzigen zwei Gäste in der Hütte, zwei Österreicher, hatten sich schon niedergelegt, als ich todmüde und nass, aber zufrieden ankam. Sie versicherten mir am andern Morgen, wie sehr sie sich um mich gesorgt hätten und glücklich gewesen seien, als sie am Abend von ihrem Schlafraum aus meine Schritte hörten. Die Niederlage, die die beiden am Rothorn erwartete, bestätigte mit dann, dass das Wetter wirklich nicht günstig für Besteigungen war.

Erst im letzten Herbst, also mehr als ein Jahr nach diesem missglückten Versuch, träumte ich von neuem vom Obergabelhorn, diesmal fest entschlossen, einen Freund mitzunehmen, um mir besser darüber klar werden zu können, ob ich den Mut finden würde, es noch einmal allein zu versuchen. Mitte Oktober ist Luc bereit, trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit mitzuhalten. Es liegt etwas Pulverschnee, aber im ganzen scheinen die Bedingungen gut zu sein. Aber dann offenbart sich doch wieder der Wetterfaktor als entscheidend. Nach und nach bedecken sich die Gipfel; im Westen kündigt sich ein drohendes Unwetter an und zwingt uns plötzlich zur Umkehr, als wir etwas über die roten Gendarmen hinausgelangt sind. Seltsame Ironie: es ist ein paar Meter über dem Punkt, wo ich meinen ersten Versuch aufgeben musste. Die weisse Kuppe war mir also auch dieses Jahr nochmals entschlüpft. Der unheilverkündende Himmel, der uns auf unserm ganzen Weg der Moräne des Petit Mountet entlang bis nach Zinal begleitete, gab uns die Überzeugung, dass die Saison zu Ende sein würde.

Es erwartete uns jedoch ein Wunder: kaum eine Woche später war das Wetter heiterer als je, ein kurzes Aufflammen des Nachsommers: jene klaren Spätherbsttage mit ihrer so durchsichtigen Luft. Und wir machten uns beschwingten Schrittes wieder auf zum Mountet, diesmal der Gunst des Wetters sicher. Kurzer Kriegsrat im Frieden einer Hütte, die ihren langen Winterschlaf schon angetreten hat, und Aufbruch um 4 Uhr in der Mondhelle des beginnenden 23. Oktobers. Dieser prächtige Tag schenkte uns dann den Gipfel. Kühle Luft, Sonne, kein Windhauch und einzigartige Sicht: man unterscheidet klar die Ligurischen Alpen und auf der andern Seite, ganz hinten « vers chez nous », die letzten grünen Wiesen am Fusse der Jurawälder in der Gegend von Isle. Wer könnte die Pracht eines Herbsttages auf 4000 Meter beschreiben? Wer kann den Vorurteilen jener begegnen, die die Besteigung eines Viertausenders als seltene Ausnahme betrachten?

Gegen 6 Uhr, gerade vor Nachteinbruch, waren wir zurück und feierten zu Hause noch unsere geglückte Fahrt, immer noch fasziniert von all den Lichteindrücken. Und ich dachte an das einzige Missgeschick dieses Tages, an meinen Pickel, den ich beim Aufstieg zerbrach, bei der Querung des « Verrou»1, des « Riegels ». Die Gipfelpartie, das « Toit », war vereist, und Luc musste eine gute Stunde lang Stufen schlagen, die ich, wenn nötig, mit meinem Pickelstumpf säuberte. Noch fühle ich den leichten Schauer, der mich überrieselte, als ich nachher die Gipfelsonne verliess, um über unsere Eistreppe in den zu dieser Jahreszeit stets schattigen Abhang hinabzusteigen, nur mit diesem Viertel von einem « Alpenstock », der von meinem Pickel übriggeblieben war, bewehrt!

Aber dann sagte ich mir: « Wenn ich schon unter dieser erschwerenden Bedingung imstande bin, den Abstieg zu bewältigen, ohne ein einziges Mal auszugleiten, wie sollte mir das gleiche nicht auch im Alleingang gelingen, zwar ohne Sicherung, aber mit einem unversehrten Pickel in der Hand ?» In diesem Augenblick wusste ich, dass ich wiederkehren würde, allein. Später, noch während des gemeinsamen Abstiegs, konnte ich es nicht unterlassen, eine leichte Anspielung auf mein Vorhaben zu machen. Ich höre jetzt noch die Antwort meines Gefährten, eine lakonische Antwort, reich an Untertönen ( er ist ein besserer Alpinist als ich und geht weniger Risiken ein ). « Ich hoffe, Sie kommen wieder zurück », sagte er. Dass ich heil zurückgekommen bin, habe ich zum Teil dieser Fahrt zu zweit zu danken, die mich überzeugt hat, dass mein Unternehmen, unter günstigen Bedingungen ausgeführt, nicht zu riskiert sei.

An jenem Montag, 1. Juli, wandere ich gemächlich auf dem neuen Fussweg dem Mountet zu, glücklich, endlich wieder einmal in die Hochalpen steigen zu können. Den neuen Fussweg kann ich mit Überzeugung verteidigen. Wie angenehm ist es doch, auf der Höhe einer schönen Moräne zu gehen, hoch über dem Strom von Schutt ( « Dieu reconnaîtra les siens », sagt Samivel ), der auf der Karte als Zinalgletscher bezeichnet ist. Man kann Alpenrosen pflücken, man hört -was sage ich -, man sieht Murmeltiere; es gibt frisches Wasser im Überfluss, und vor allem man ist hoch genug, um dauernd einen schönen Ausblick zu haben. Und endlich ist ein gut markierter, luftiger Weg weniger ermüdend als eine unermessliche Steinwüste. « Gut markiert » ist stellenweise etwas zuviel gesagt an diesem Tag; denn der Weg hat vom Winter gelitten, aber viel weniger, als ich mir gedacht hätte, und schon zwei Tage später, beim Abstieg, waren die wenigen etwas mitgenommenen Stellen, im Hinblick auf die Saison, wieder hergerichtet worden. Es lebe die neue Trasse!

Ich bummelte, noch ohne bestimmtes Ziel. In Zinal hatte ich eben durch Eduard Vianin erfahren, dass bis dahin nur der Besso « gemacht » worden war. Ich entschloss mich, es dem Wetter anheimzustellen, was ich unternehmen würde. Wenn es nicht absolut zuverlässig war, würde ich mich für den Besso entschliessen, bei ausgesprochen guter Witterung aber das Gabelhorn versuchen. Auf 1 Das « Cœur » ist ein kleines Felsmassiv westlich des grossen Schneekegels, der den Gletscher am Fusse der Nordwestwand des Obergabelhorns verlängert. Vom Mountet aus gesehen, befindet es sich in der Vertikalen unter dem Schneesattel am Fusse des Arbengrats. Ein Felsriegel trennt das « Cœur » von dem langen Schneeband, das auf der gewöhnlichen Route direkt gequert wird, dem man aber auch in östlicher Richtung folgen kann bis zum erwähnten Nordgrat. Wenn man diesem Grat folgt, gelangt man auf ca. 3600 m zu einem horizontalen, ziemlich steilen Felsband, welches den Zugang zur ersten Schneekuppe versperrt, die zum weissen, letzten Grat führt: dies ist der « Verrou », der « Riegel ». Unmittelbar an der Basis des « Riegels » befinden sich westlich zuerst die roten Gendarmen, dann das letzte Couloir der direkten Route ( die gewöhnliche Route verläuft noch etwas westlicher und führt zur zweiten Schneekuppe ).

dem letzten Plateau angekommen, auf der Höhe des « Grépon », überlege ich mit Musse meine eventuelle Gabelhorn-Route. Abgesehen von beunruhigend grossen Schmelzwasserrinnen, die den couloirreichen Abhang durchziehen, macht das Ganze einen ziemlich guten Eindruck.

Die Fensterläden der Hütte sind, zu meiner Überraschung, geöffnet. Sie ist leer, aber es ist warm darin ( natürlich, denn es ist während der Wärmeperiode mit über 30° in der Ebene ), eine ungewöhnliche Empfindung für denjenigen, der sie bis jetzt nie im Sommer betreten hat. Ich richte mich ein und bereite mir den traditionellen Tee. Gegen Abend erscheint Oskar mit seinem Gehilfen und der Pater Jean Paul. Herzlichste Begrüssung ( ich fühle, dass ihre moralische Unterstützung noch grösser sein wird als die von Seiten meiner beiden Österreicher ). Familiäres Abendessen, ausgezeichneter Dôle, liebenswürdige Atmosphäre, und jeder hat seinen eigenen Schlafraum. Was könnte man mehr wünschen?

Auf Tourenprojekte für morgen zu sprechen kommend, rede ich in erster Linie vom Besso und erwähne nur so nebenbei, wie wenn es mich nicht weiter interessieren würde, das Obergabelhorn. Ein leichtes Lächeln auf Oskars Lippen verrät mir, was ein solches Unternehmen Ungewöhnliches bedeuten würde. Er will mir sein altes Seil zur Verfügung stellen; man könnte froh sein darum beim Abstieg in den Felsen. Damit er ausschlafen kann, werde ich am Morgen allein aufstehen, und es ist abgemacht: wenn er nachher sein Seil noch auf dem Tisch findet, bin ich zum Besso aufgebrochen ( Seil überflüssig ), wenn nicht, liegt es in meinem Sack und weilt mit mir irgendwo auf den unteren Hängen des Obergabelhorns.

Kurz vor 4 Uhr öffne ich, auf den Zehenspitzen gehend, meine Läden: eine wahre Pracht! Letzte, verglimmende Sterne und keine einzige Wolke. Das Barometer unten, das sehr hoch stand, hat sich nicht verändert. Mein Entschluss ist gefasst. Während ich das Feuer für mein kurzes Frühstück anzünde, fühle ich, dass sich alles in mir auf das grosse Abenteuer vorbereitet. Unmerklich stellt sich mein Inneres auf einen neuen Grundton ein, als Anpassung an das intensive Leben und Erleben, das mir dieser Tag bringen wird. In meine Ruhe mischt sich eine leise Erregung, und diese lässt mich meinen Pickel, fast wie ein Verliebter, mit zärtlicher Hand liebkosen und verleiht dem metallischen Laut der Steigeisen, die ich an meinem Sack befestige, einen mitreissenden musikalischen Klang.

Die frische Luft regt meine Tatkraft an, und ich bewältige die Moräne in einem Anlauf, um möglichst bald den Gletscher unter meinen Schritten knirschen zu hören. Der leicht verharschte Schnee gibt von Zeit zu Zeit nach - die Nacht ist nicht sehr kalt gewesen -, aber ich weiss, dass er vom « Cœur » an fester werden wird, und in raschem Gang erreiche ich den Beginn der ersten Steigung. Nun trennt mich noch ein Höhenunterschied von mehr als 1200 Meter vom Gipfel, und ich weiss wohl, dass ich, ohne Sicherung, jedem Schritt Aufmerksamkeit schenken muss. Aber der Anblick meiner Umgebung ist so packend, dass das Gefühl der Freude viel zu sehr überwiegt, als dass mich der Gedanke an die intensive Anstrengung, die ich vor mir habe, bedrücken könnte.

Bald habe ich die Höhe des Mountet erreicht. Wie weit werde ich sein, wenn sich die übrigen Läden der Hütte öffnen? Wo werden mich die ersten Sonnenstrahlen treffen, die schon die ganze Dent Blanche erhellen? Der Pseudo-Bergschrund, beim grossen Kegel östlich vom « Cœur », lässt sich ohne Hindernis überschreiten ( der Schnee trägt immer besser ), und ich gelange zum Felsriegel, der zu jenem Schneeband führt, das einem riesigen T gleicht und dessen Basis das « Cœur » bildet. Am Rande des Schrundes lege ich meine Steigeisen an und mache mich bereit, unserer Route vom Oktober zu folgen, die ziemlich weit unten zum schon erwähnten Grat führt, dem man dann bis zum « Riegel » folgt. Aber der Schnee ist so hart und das Gestein so lose, dass ich das « Vergnügen », mich daran anzuklammern, nicht unnötig verlängern möchte. Ich wähle den direktesten Weg, die Route meines ersten Versuches. Diese Felsen, in denen ich damals Haufen von Graupeln schluckte, sind trocken, und es ist ein wahres Vergnügen, sie unter den Händen zu fühlen.

Strecken mit hartem, sicherem Schnee, welcher sich den Felsen zu immer mehr in Eis verwandelt, wechseln mit nicht schwierigen Steinplatten, das Ganze immer steiler werdend, je höher man kommt. Aber welch luftiges, freies Gefühl! Der Gletscher liegt zu meinen Füssen ausgebreitet ( besser gesagt, zwischen den Füssen, wenn ich, mit dem Gesicht gegen die Wand, hinunterschaue ) und der Mountet, so winzig und flach! Die Gipfel um mich her scheinen hingegen höher emporzuwachsen. Die Dent Blanche und das Rothorn werden immer schlanker, und immer neue und weiter entfernte Grate werden sichtbar. Die Sonne erreicht mich gerade an der Stelle, wo ich damals des Gewitters wegen umkehren musste. Welcher Kontrast! Statt den schwarzen Kumuluswolken, die den ganzen Gesichtskreis drohend füllten, ein durchsichtiger Himmel und der Glanz der ersten Sonnenstrahlen, der mich blendet.

Ich schlage einige Tritte an der schroffsten Stelle des Couloirs. Zur Rechten bemerke ich einen ziemlich heikel scheinenden Quergang, den es zu überwinden gilt. Vollkommen ruhig führe ich jede nötige Bewegung aus und gelange zur verschneiten Basis der ersten Kuppe. Nun habe ich das Gröbste des Aufstiegs hinter mir und stehe bald auf dem Schneegrat, wo mich noch knappe 400 Meter vom Gipfel trennen. Der Ausblick wird immer berauschender, die Einsamkeit verdichtet sich - ein Gefühl der Erhabenheit und doch voll heiterer Ruhe, die mich den Sinn für die Wirklichkeit nicht verlieren lässt. Nach der zweiten Kuppe wird der Grat schärfer, und wenn ich den Sinn für die Wirklichkeit verloren hätte, so würde ich ihn hier sicher wieder finden. Hemdärmelig bei der herrschenden Hitze stehe ich nun vor dem schwierigsten Teil des Grates, den ich ohne Sicherung überwinden soll. Mit dem Pickel einmal nach links und wieder nach rechts balancierend, entferne ich Hieb um Hieb die messerscharfe oberste Schneeschicht der Gratschneide, tauche dann vorsichtig meinen Fuss ein und bewege mich langsam vorwärts wie ein Seiltänzer, der sein gespanntes Seil betritt. In ganz kleinen Schritten setze ich Fuss vor Fuss, ängstlich jeden Fehltritt vermeidend ( denn unter mir ist kein Netz gespannt ).

Jetzt verbreitert sich der Grat zum « Boulevard », wird aber dafür steiler, und die Temperatur steigt. Keuchend und schwitzend halte ich alle zwanzig Schritte an und trockne mir die Stirne. Langsam nähere ich mich den Viertausend, und paradoxerweise nimmt die Hitze noch immer zu. Indessen erlaubt mir jede kleine Pause einen Blick auf einen Gipfel in der Nähe oder weiter weg -denn ich habe die Wahl. Ich weiss, das heisst ich fühle, dass mich meine Hüttenkameraden, Oskar und Pater Jean Paul, von unten beobachten ( sie werden jetzt zu Mittag gegessen haben ). Und wenn ich den Gipfel erreicht habe, werden sie einen Gruss zu mir heraufschicken, den ich nicht hören kann.

Nun bleibt noch das « Toit ». Die Hitze ist so gross, dass ich glaube, aufgeben zu müssen, wenn ich, wie damals Luc, gezwungen wäre, eine Stunde lang Stufen zu schlagen. Der Bergschrund am Gipfel, der im Kurz-Führer als manchmal unübersteigbar beschrieben ist, erweist sich als « gutartig », da er verschneit ist. Ich kann ihn ohne viel Gymnastik überwinden und nähere mich dem Gipfelhang. Werde ich verzichten müssen? Nein, der Schnee ist ausgezeichnet. Die Fußspitze sinkt prächtig ein, der Pickel bis zur Haue und die linke Hand bis zum Gelenk; ich brauche mir nur die « Leiter » zurechtzumachen. Der Grand Cornier erscheint am Horizont. Der einzige kleine Fels des « Toit », kaum sichtbar, ist erreicht. Die 4000 Meter sind überstiegen; es bleiben nur noch etwa sechzig Meter. Trotz der Hitze stapfe ich geduldig Sprosse um Sprosse meiner Leiter in den Firn ( ich denke an die Wüste Neu-Arizona, wo die Julisonne auf uns niederstach, immerhin im ockerfarbenen Sand weniger blendend als im Schnee ). Der Gipfelgrat nähert sich; bald wird der ganze Zirkus von Zermatt erscheinen. Von der Dufourspitze werde ich meinen Blick zum Hotel Beau-Site in der Triftmulde ( eine Jugenderinnerung; ich zählte damals vierzehn Jahre ) schweifen lassen, genau 3000 Meter weiter unten.

Die Eindrücke der letzten Schritte werde ich nie zergliedern und wiedergeben können. Die Gipfelwächte, die wie ein Flügel ins Leere hinausragt; dahinter ein Abgrund, die Trift; wieder ein Abgrund, der Zmuttgletscher. Im Rücken, oder vielmehr unter meiner Ferse, der Mountet. Ich schicke Oskar einen Gruss zur Hütte hinab, eine weit ausholende Armbewegung, die, gerade so gut wie ihm, dem ganzen Horizont gelten kann. Die Gipfelwächte, auf die ich mich vorsichtig hinaus-wage - bis zum Punkt, den ich als Sicherheitsgrenze beurteile... Das Leben hat seine Augenblicke, deren man sich vielleicht noch ganz zuletzt - am Ende - erinnern wird.

Ein wenig Dörrfleisch, ein wenig Zitrone, ein paar lange Züge Tee mit Zitrone. Ein Menu von fünf Minuten für mich, der gerne stundenlang am Tisch sitzt in Bourgogne. Ich werde die Askese fortan noch mehr bewundern als bisherAber ich gewahre zwischen meinen Knöcheln den Mountet - sehr weit unten! Und nach einem Biwak - allein - gelüstet mich wenig. Also reisse ich mich los von diesen Augenblicken, wie sie sich uns so selten bieten. Das Schwerste steht mir noch bevor. Ist doch der Abstieg die Kehrseite eines Aufstiegs als Alleingänger. Das Gesicht dem Abhang zugekehrt, beginne ich über die Leitersprossen den Abstieg. Auf dieser Höhe halten sich die Stufen gut; aber wie werden die Verhältnisse weiter unten, in den Couloirs, sein, bei dieser Hitze? Lose Schneeplatten, Rutsche, Lawinen, wenn nicht gar Einstürze? Qui vivra verra.

Vorläufig geht es gut voran mit dem « Kater auf dem Dach », und, um mir Mut zu machen, denke ich an Hans Erti, der ganz allein in den schwindelnden Abhängen des Illimani hing. Mit seiner verglichen, ist meine Jakobsleiter nicht viel steiler als der Petit-Chêne in Lausanne. Ein Sprung von zwei Meter über den Bergschrund, und ich habe eine ruhige Strecke vor mir bis oberhalb der Couloirs, kann ich doch meiner Aufstiegsspur folgen. Diesmals arbeite ich mit den Absätzen. Der Riss, der zum oberen Couloir führt, ist heikler; aber ich gehe mit einer Ruhe vor, die mich selbst erstaunt. Im Couloir gewöhne ich mich an die Steilheit. Als ich die ersten Platten auf der Höhe der roten Gendarmen erreiche ( immer wieder die roten Gendarmen ), bemerke ich belustigt einen Haken, an dem noch ein kleiner Rest eines silbergrauen Schnürchens hängt. Trotz des heimtückischen Eises bediene ich mich desselben nicht.

Da es etwas spät geworden ist, entschliesse ich mich nun aber doch, beim nächsten Felsriegel Oskars Seil zu verwenden ( es soll nicht heissen, ich habe es umsonst hinaufgetragen ). Zwei Seillängen hintereinander geht alles gut; ich bekomme das Seil ohne grosse Mühe wieder los. Bei der dritten und letzten jedoch wird es widerspenstig. Ich probiere es auf alle Art, aber so sehr ich es auch in allen Richtungen bewege: es hakt nicht aus. Soll ich noch einmal zurück? Nein, jetzt eilt es. Lassen wir also das alte Seil als Andenken zurück. Welch ein schöner Tod für ein Hanfseil! Und Oskar werde ich es ersetzen durch ein glänzendes, neues Nylonseil. Requiescat.

Ich nehme mein Missgeschick nicht tragisch - im November hat mir der Wind am Rothorn eine Lumberjacke fortgetragen, diesmal handelt es sich um ein noch « äusserlicheres » Objekt -, aber ohne Seil entschliesse ich mich nun doch, die Felsen zu meiden, denn der Schnee ist schwer und lässt sich gut treten. Zweimal traversiere ich die eigenartigen Schmelzwasserfurchen ( drei Meter breit, zwei tief, mit vereistem Grund ), welche weit unten in der Wand in richtigen Wasserfällen endigen. Ein grosser Haken, um das Felsinselchen zu umgehen, und ich erreiche, nicht ohne schwere Arbeit, das Schneeband, jenes grosse T über dem « Cœur ». Die Sonne ist untergegangen; aber ich sinke immer noch tief ein und befürchte, dass « etwas herunterkommen » könnte. Aber es scheint heute alles ziemlich stabil und sicher zu sein; nichts von Belang fällt herab. Am nächsten Tag löste sich Schnee und Eis am Obergabelhorn, und alles fegte die Couloirs herunter ( ich erfuhr es eine Woche später durch Oskar )... Warum nicht an diesem Tag? Verwegenheit, Intuition, Glück? Wer weiss es?

Ich bangte vor dem Aufstieg zur hohen Moräne, der letzten Anstrengung vor dem Siegestrunk. Aber nein, mein Schritt war noch leicht und sicher, und als ich den Ruf Oskars und des Paters Jean Paul vernahm, die mir etwas beunruhigt entgegenkamen - denn vorher hatten sie beobachtet, dass sich meine Spur auf dem Gletscher scheinbar verlor -, da wusste ich, dass das Abenteuer zu Ende war.

Wie schmeckte mir dieses Nachtessen « en famille »! Und wie wohl tat es, als der milde Dôle die ausgetrocknete, brennende Kehle hinabrann.

Übersetzung aus dem Französischen. F. Oe.

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