Eine Sage aus dem Urserental: Die Nidelgret
herausgegeben vom Friedrich Reinhardt Verlag, Basel Peter Kilian, Zürich
Aus: « Der Bär und andere Schweizer Hirtensagen » Im Urserental, nur ein geringes Wegstück von Andermatt entfernt, kann man auch heute noch einen mächtigen weissen Felsbrocken sehen, der sich vor Jahrtausenden hoch oben am Berg losgelöst haben mag, mit gewaltigem Getöse in die Tiefe stürzte und im weichen Erdreich steckenblieb. Vor Zeiten indessen, als sich die Leute der Talschaft an den langen Winterabenden noch viele merkwürdige und seltsame Geschichten zu erzählen wussten, da hatte es mit diesem Brocken eine andere Bewandtnis, und diese Sage soll jetzt hier berichtet werden.
Dort nämlich, wo sich der Steinblock befindet, stand einst ein Haus, das einem klapperdürren Weib gehörte, und diese Alte nannte man die Nidelgret. Man fürchtete sie wie die Pest und ging ihr ängstlich aus dem Weg, denn schon seit langem ging das Gerücht um, dass sie eine Hexe sei und mit dem Bösen unter einer Decke stecke. Wie sonst hätte sich ihr Reichtum erklären lassen! Denn obschon die Nidelgret nur eine einzige Kuh in ihrem Stall hielt, gab diese doch mehr Nidel her als fünfzig der besten Melkkühe, wenn sie zur Zeit der Sommerung bis zum Bauch im würzigsten Futter stehen.
Wie also hätte man diesen unerhörten Nidelse-gen anders deuten können als mit Teufelsspuk und Hexerei?
Nun hauste zu jener Zeit, nur etwa einen Steinwurf vom Haus der Nidelgret entfernt, ein Senn, der sich wohl jahraus und jahrein abrackerte und doch auf keinen grünen Zweig kam. Es schien im Gegenteil, als ob er mit jedem Jahr noch ärmer würde. Immer häufiger kreiste er nachts um die Hütte seiner reichen Nachbarin, und der Neid und die Habsucht frassen an ihm und versauerten immer mehr seine Tage. Und eines Tages konnte er seine Missgunst nicht mehr länger im Zaum halten; er wollte endlich wissen, wie die alte Vet-tel, ohne einen Finger zu rühren, zu ihrem Nidel kam, und nicht zum erstenmal ertappte er sich selbst dabei, wie er ingrimmig und gottlos murmelte: « Meinetwegen soll die Hexe meine Seele haben, aber jetzt will ich doch endlich einmal wissen und mit meinen eigenen Augen sehen, wie sie das macht ».
Und so kam es, dass er an einem Abend zur Melkzeit, als es schon dunkel geworden war, wie ein Dieb in ihren Stall schlich und sich hinter dem Futtertrog versteckte.
Lang brauchte er sich nicht zu gedulden; denn schon bald hörte er die Alte im Haus rumoren, und ein wenig später schlurfte sie mit dem Melkeimer in den Stall. Sie kraulte die Kuh im krausen Stirnhaar, sie tätschelte liebevoll ihre faltige Wamme und murmelte mit ihrer heiser krächzenden Stimme unverständliche Koseworte, kicherte und muffelte dazwischen und benahm sich überhaupt recht sonderbar.
Der Senn hockte reglos in seinem Versteck, luchste mit weit offenen Augen in den dämmerdunklen Stall und spitzte die Ohren wie noch nie in seinem Leben.
Alsdann hockte sich die Nidelgret auf ihren Melkstuhl und stellte ein irdenes Krüglein in den Eimer. Und immerzu leise mit ihrem zahnlosen Mund vor sich hinmümmelnd, liebkoste sie die Euterstriche und machte wunderliche Zeichen und Gesten dazu.
Der Senn hielt gebannt den Atem an, und die Augen rollten ihm fast aus den Höhlen; denn keinen Laut und keine Bewegung der Alten wollte er sich entgehen lassen.
Diese aber fing langsam an zu melken und sagte auf einmal deutlich hörbar die Worte:
« Hexengut und Sennenzoll, heut will ich nur ein Krüglein voll. » Dreimal wiederholte sie diese Worte, dann verstummte sie - und siehe da, im gleichen Augen- blick zischte der Rahm schäumend in den Eimer, und im Handumdrehen war er auch schon voll, voll von süssem Rahm bis zum Rande.
Die Alte nahm den Eimer auf, kraulte und tätschelte von neuem liebevoll ihre Kuh und schlurfte, leise vor sich hinkichernd, aus dem Stall.
Kaum war sie draussen, kroch der Senn aus seinem Versteck hervor, rieb sich frohlockend die Hände und machte dazu ein Gesicht, wie wenn er den Stein der Weisen gefunden hätte. Seine Augen funkelten vor Freude und Habgier. Endlich wusste er, wie die garstige Hexe zu ihrem Nidel kam! Und wie von bissigen Hunden gehetzt, lief er über die finsteren Matten zu seiner Hütte hinüber, indem er unablässig den Zauberspruch der Alten vor sich hinmurmelte, um ihn ja nicht zu vergessen. Unverzüglich wollte er die Kraft des Hexenspruchs an seiner eigenen mageren Melkkuh erproben. Was die Nidelgret vermochte, das musste ihm doch auch gelingen! Freilich, mit einem einzigen lumpigen Krüglein voll Rahm wollte er sich nicht zufriedengeben, das wäre ja gelacht! Je mehr Nidel er aus dem schlaffen Euter zauberte, um so schneller wurde er der reichste Senn weitum. Jawohl, gleich zwei Brenten voll Nidel wollte er haben. Schwitzend vor Eifer trug er sie in den Stall und verrammelte die Tür, damit ja niemand ihn bei seinem geheimnisvollen Tun belauschen und ihm den gestohlenen Zauberspruch stehlen konnte.
Dann kraulte er seine Kuh, doch bloss, weil er das der Nidelgret abgeguckt hatte; denn sonst war er ein unvernünftiger Tropf und Grobian und teilte lieber Schläge und Schimpfworte aus als Liebkosungen. Und ungeduldig, wie er war, von einer bösen Habsucht besessen, nahm er sich noch weniger Zeit, die Euterstriche zu massieren, sondern stellte kurzweg den ersten Eimer unter und sagte hastig dreimal hintereinander:
« Hexengut und Sennenzoll, heut will ich diese Brenten voll! » Und das Wunder geschah! Der Rahm begann fett und süss in die Brente zu zischen, dass es eine wahre Lust war. Übermütig lachte der Senn auf. Frohlockend tanzte er im Stall herum. Wie das zischte und schäumte! Wie dick der Rahm aus den Strichen schoss! Im Handumdrehen war die erste Brente voll, und sogleich begann er die andere zu füllen. Wie aus einer unerschöpflichen Quelle strömte der Nidel, lief bald über - und der Senn wusste nicht, wie dem Segen wehren.
« Halt! Halt! » schrie er ausgelassen lachend, als sich der Rahm schon über den schmutzigen Stall-boden ergoss. « Ich habe doch genug für heute! Genug! In des Teufels Namen genug! » Doch der Nidel floss weiter, und die arme Kuh begann vor Schmerz zu brüllen. Ratlos und verzweifelt auf einmal, watete der Senn durch die schnell höhersteigende süsse Flut. Im Nu stand der törichte Tropf hilflos bis zur Brust im Nidel. Er wusste nicht, was er verkehrt gemacht hatte, wusste nicht, wie den Zauber bannen. Er wollte entrinnen und fliehen, doch die Tür war ja verrammelt, und er konnte nicht mehr hinaus. Schon schrie er verzweifelt um Hilfe, schrie nach der Nidelgret. Aber niemand hörte ihn, und jetzt schwappte ihm die süsse Labe schon in den Mund; doch sie schmeckte ihm nicht mehr, sie ging ihm jetzt ans nackte Leben. In seiner Not und Todesangst rief er noch alle Heiligen an, die ihm in den Sinn kamen, aber umsonst, der Nidel schlug über seinem Kopf zusammen, und er ertrank elendiglich in dem köstlichen süssen Bad.
Die Nidelgret freilich hatte seinen Hilferuf vernommen; sie hockte rittlings auf dem Dachfirst und schrie frohlockend mit gellender Stimme:
« Der Dummkopf hat 's nicht gut getroffen und ist im Nidelbad ersoffen! » Kaum hatte der Wind diese Worte verschluckt. da wurde es dunkel über den Bergen, und schon bald brach ein fürchterlicher Wirbelsturm los. Brüllend und tosend fegte er über das Tal hin, erstickte die Stimme der wild kreischenden und krächzenden Hexe auf dem First, hüllte alles in Grauen und Finsternis, und als der Sturm abflaute und die tintenschwarzen Wolken sich endlich wieder lichteten, da war das Haus des Sennen spurlos verschwunden, und an der Stelle, wo die Hütte der Nidelgret eben noch gestanden hatte, ragte ein haushoher, weisser Felsblock empor. In diesem Stein aber, so berichtet die Sage, hält die Hexe den Senn gefangen und muss ihn hüten bis zum Jüngsten Tag.