Eltern-Freud und -Leid beim FaBe. Die Angst des Vaters vor der Wand
Die Angst des Vaters vor der Wand
Die andern sitzen so locker da, plaudern so leicht, als drohe keine Gefahr. Als seien wir nicht dazu verurteilt, in wenigen Minuten über den Rand einer Felswand zu steigen und dort an einem dünnen Seil 120 Meter über dem Boden zu hängen. Ich sitze unter diesen unbeschwert plaudernden Menschen und habe Schiss. « Höhenangst », sagt der Bergführer, « ist angeboren und überlebenswichtig. »
Der Kurs hat die Bezeichnung « Familienbergsteigen ». Das tönt harmlos und leicht. Es seien keine alpintechnischen Kenntnisse erforderlich, hiess es in einer Informationsschrift. Das wäre etwas für Emanuel, dachte ich vor einem halben Jahr. Emanuel ist der jüngere von unsern Buben, einer, der schon als kleines Kind in das Büchergestell hineinstieg und vom herunterfallenden « Kapital » nur deshalb nicht erschlagen wurde, weil es sich um die broschierte Ausgabe von Ullstein handelte. « Familienbergsteigen. Da melden wir uns an », sagte ich, und Emanuel, mittlerweile zehn Jahre alt, war begeistert. « Besteigung Schmal-stöckli/Abseilpiste » hiess es im Kursprogramm. Ich dachte an eine Wanderung mit einfachen Kletterübungen an vier, fünf Meter hohen Steinbrocken. Ich würde unten stehen und meinen Sohn sichern, dachte ich. Er dachte an Felswände.
Klettern wie Tanzen Am ersten Tag machten wir tatsächlich Kletterübungen. Paul Nigg, ein erfahrener Mensch, einer, der nicht nur vom
Im FaBe-Lager kommen die Kleinen und die Grossen auf die Rechnung, manchmal gemeinsam, manchmal getrennt.
Auch Eltern und Kinder ohne alpintechnische Kenntnisse können sich für ein FaBe-Lager anmelden.
Die Kinder setzen sich meistens ganz unbeschwert mit der Materie Fels auseinander.
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Bergsteigen etwas versteht, liess uns an einem Stück Karstfels herumturnen und relativierte die eherne Regel, die ich von früher her im Ohr hatte, nämlich, dass man stets nur eine Hand oder einen Fuss frei bewegen dürfe. Die andern Gliedmassen, hiess es in dieser Regel, müssten sicheren Halt haben, mit dem Fels ver-hakt und verklebt. Griff-und-Schritt-und-Griff-und-Schritt-und-so-weiter. Es war Klettern wie im Militär, nur nicht so zackig. Paul demonstrierte, wie es auch gehen kann. « Dynamisches Klettern », sagte er. Seine Hände glitten strei-chelnd über den Fels. Er drehte sich in den Hüften, er übersprang einen Schritt, stützte sich leicht ab, strich von Felsband zu Felskopf. Es war Klettern wie Tanzen, fünfzig Zentimeter über dem Boden nur. Wir versuchten, Paul nachzutanzen, und es gelang uns ganz leidlich. Einmal wurde ich für eine kreative Lösung sogar gelobt. Die Bewegungen waren die gleichen wie in einer hohen Wand. Theoretisch jedenfalls, denn mir bangte vor dem Moment, da wir das alles vier, fünf Meter weiter oben machen müssten, aber der Moment kam nicht. Wir blieben auf Absprunghöhe über dem Boden. Die Alpenrosen blühten, am Himmel zogen die Wolken, ein Bergfink pfiff, und alles war gut.
Gerüchte – Gerüchte? In einer Pause erklärte Paul die Vorteile und Nachteile von reinen Sitzgurten und von Kombigurten, in denen die Bänder auch den Oberkörper halten. Er sprach von herumgeschleuderten Körpern, von Brustamputationen, von Tetra-und Paraplegikern, und am Himmel zogen immer noch die Wolken dahin, und auf der Weide bimmelten die Glocken der Kälber, und weil wir in einer Wiese sassen, war immer noch alles gut. Irgendwann machte die Nachricht die Runde, wir würden schon am Dienstag über die Wand des Schmal-stöcklis abseilen. Es war eine hirnver-brannte Vorstellung, die ich sofort als Gerücht entlarvte. Eben erst angekommen, hätten wir uns in die Schlinge aus dünnem Seil hängen müssen, die wir selber geknüpft hatten. Das konnte unmöglich jemandes Ernst sein. Die Lagerleiter, erfahrene Bergführer alle, würden uns nicht schon am zweiten Lagertag an den Abgrund führen. So verantwortungslos würden die nicht sein.
Erwachsen werden in zwei Tagen Aber sie waren so verantwortungslos. Am Morgen machten wir Erwachsene uns tatsächlich auf den Weg zum Schmalstöckli. Vor dem Einstieg setzten wir uns zwischen Alpenrosenbüsche, und Paul gab eine kurze Einführung. Seil verkürzen. Standplatz suchen. Sichern. Kommandi. « Wir üben es besser hier auf der Wiese als im Fels. Da ist weniger Stress. » Ich bin im falschen Kurs, hätte ich einwerfen können. Ich will gar keinen Stress! Wenn ich rechtsumkehrt gemacht hätte, wäre ich aufgefallen, und auffallen war verboten. Emanuel wollte es so. So wünschte ich mir einfach, ich wäre wieder zehn Jahre alt, so wie er, und ich könnte wie die Kinder noch einen Tag lang an Felsbrocken herumkraxeln. « Sie lernen viel schneller als wir », hatte
Familienbergsteien – nur gemeinsam erfolgreich Familienbergsteigen – in der Gruppe ist es unterhaltsamer.
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Paul gesagt. « Die Koordinationsfähigkeit in dem Alter ist enorm. » Ich sass mit meinen 48 Jahren und mit klopfendem Herzen am Fuss eines Felskopfs, hatte Angst und sah zu, wie Emanuel seinen naturgegebenen Vorsprung ausbaute. Weil ich unter all den Erwachsenen offensichtlich am wenigsten Felserfah-rung hatte, nämlich fast vier Jahrzehnte lang gar keine, durfte ich im Seil gleich hinter Paul gehen. Er stieg langsam und sicher voran, hängte das Seil in die vorbereiteten Haken, suchte einen Standplatz, sicherte. Ich stieg nach und war der kleine Hanspeter, der fast vierzig Jahre früher hinter seinem Vater in die Berge gegangen war und ihm voll und ganz vertraut hatte. Solange Paul, solange mein Vater, voranging, konnte nichts passieren. « Merkt euch die Abläufe », sagte Paul. « Am Donnerstag werdet ihr voransteigen, und die Kinder werden nachkommen. » Es war der Befehl, in nur zwei Tagen erwachsen zu werden.
Hilfreiche Notfallkügelchen Und jetzt sitzen wir auf dem Schmalstöckli. Man könnte jauchzen, so schön ist es hier, aber ich jauchze nicht. Ich habe eine Kröte im Hals und Schlangen im Bauch und Gelee in den Knien. Laut sage ich: « Mir wird schlecht. » Ich hoffe, mein Coming-out sei dem einen oder anderen Ermunterung, ebenfalls Angst zu äussern, und wir könnten dann zu zweit oder zu dritt auf dem harmlosen Rücken des Felskopfes absteigen, statt uns in die Wand zu hängen. Aber niemand meldet sich. Nur Pia. Sie ist früher mit ihrem Mann den Kristallklüften nachgestiegen, hat mit Klettern aufgehört, als sie schwanger wurde, und will jetzt wieder anfangen. « Ich habe Notfallkügelchen dabei », sagt sie. Das sind kleine weisse Kügelchen, die laut einem Dr. Bach Pflanzenkraft enthalten sollen, aber vielleicht handelt es sich auch nur um Hexerei. Mir ist alles recht. Ich nehme die Kügelchen und werde – Pflan-zenkraft hin, Placebo her – tatsächlich ruhiger. Die Angst ist immer noch da,
In den Wänden des Schmal-stöcklis: Familienbergsteigen mit Tiefblick Für einen Nichtbergsteiger bietet das Schmalstöckli mit seinen abweisenden Felswänden einen Schwindel erregenden Anblick. Links unten ist noch die Lidernenhütte zu erkennen.
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aber sie überschwemmt mich nicht mehr. Ich steige als einer der Ersten über die Felskante und würde mir angesichts des Abgrundes wohl schaudernd die Hände vor das Gesicht schlagen, wenn diese nicht vollauf damit beschäftigt wären, sich krampfhaft am Seil festzuhalten. « Loslassen », sagt Meieli, Witzbold und Bergführer, nachdem er meine Ausrüstung minutiös kontrolliert hat. « Die Prusik-Schlinge hält dich. » Ich hänge ungefähr den zehnten Teil meines Gewichts in die Schlinge. « Ganz », sagt Meieli. « Spür, wie es dich trägt. » Ich glaube ihm nicht. Eine Sekunde lang will ich loslassen, und nach fünf Sekunden merke ich, dass die Schlinge tatsächlich hält. Ich drücke mich mit den Beinen weg von der Wand, erinnere mich daran, was eine Hebamme im Geburtsvor-bereitungskurs über das Atmen gesagt hat, und steige ab. Allein im Fels – grossartig Nach drei Seillängen stehe ich am Fuss der Wand und bin ein Held. Und bin der Einzige, der das weiss. Am Donnerstag steigen Emanuel und ich auf dem gleichen Weg, den ich zwei Tage zuvor hinter Paul und im Status eines Kindes gegangen bin, hinauf aufs Schmalstöckli. Diesmal bin ich der Vater, gehe voran und weiss Emanuel hinter mir. Ich versuche, meinem Tritt die Festigkeit zu geben, die ein Bub von seinem Vater erwartet. Ich versuche, das Seil und die Karabinerhaken ruhig und bestimmt zu handhaben. Es funktioniert. Niemand, weder ein Bergführer noch Emanuel, müssen kor-rigierend eingreifen. Und Emanuel, so sagt er mir später, merkt nichts von meiner Unsicherheit.
Oben auf dem Schmalstöckli fragt Pia, ob ich die Notfallkügelchen wieder brauche. Ich brauche sie nicht. Schiss habe ich trotzdem, und auch Emanuel ist etwas ruhiger als sonst. Wieder ist es Meieli, der uns einweist. Die Bergführer haben zwei parallele Seile eingerichtet, und so hängen Emanuel und ich in der Wand, die immer noch sehr hoch ist, und langsam, Schritt für Schritt und sehr konzentriert, lassen wir uns in den Abgrund hinunter. Wolken ziehen. Dohlen fliegen. Von unten kommt das Bimmeln von Kuhglocken, und ich hänge mit meinem Jüngsten in einer Wand, die ich zwei Tage zuvor noch verflucht habe.. " " .Va-ter und Sohn allein im Fels. Es ist ein grossartiger Moment.
Später sagt Emanuel, das Schönste am Kletterlager sei das Schmalstöckli gewesen. Wegen des Abseilens. Nicht wegen des Vaters. a
Hanspeter Bundi, Meikirch Blick von der Umgebung der Lidernenhütte auf den Felszahn des Schmalstöcklis ( 2012 mden Prüfstein für den nach vielen Jahren erstmals wieder kletternden Vater DIE ALPEN 2/2002
Für den Skitourenfahrer, Bergsteiger und -wanderer
Per l' alpinista, lo sciatore e l' escursionista
Pour l' alpiniste skieur et le randonneur