Erfolg ohne Gipfel
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Erfolg ohne Gipfel

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Peter Molinari, Kalhmandu

Bericht über die versuchte Besteigung des Numbur ( 6g$g in ) im Nepalesischen Himalaya 22. Mai, morgens 4.30 Uhr: das Geräusch des Reissverschlusses am Zelt weckt mich aus einem tiefen Schlaf im vorgeschobenen Basislager auf 5150 Meter. Mit schlaftrunkenen Augen versuche ich, die Zeit auf meiner Armbanduhr zu erkennen: halb fünf? Grossartig, die beiden Porter sind früher als erwartet bereit, um mit mir zum Camp i ( 5700 m ) aufzusteigen. Morgensoll es zusammen mit dem im Camp i wartenden Tenzing zum Lager 2 ( 6250 m ) gehen, und von da aus sollten wir am 24. den dritten Gipfelversuch unternehmen. Ich lehne mich nochmals zurück in die wohlig-warme Umgebung des Daunenschlafsacks und warte auf die übliche allmorgendliche Begrüssung: « Moming, tea, sir », bevor ich jegliche Anstrengung unternehme, um die mich umgebende, reifbeschlagene Wirklichkeit zu akzeptieren. Wie diese gewohnte Begrüssung ausbleibt, hebe ich nochmals den Kopf und erkenne im Zelteingang das lächelnde Gesicht unseres nepalesischen Expeditions-Ko-Leiters Rinzi. Immer noch schlaftrunken, verschwende ich höchstens einen Bruchteil einer Sekunde an den Gedanken, dass Rinzi ja eigentlich im Basecamp, 2-3 Marsch- stunden vom Advanced Basecamp entfernt, sein sollte und daher zu dieser frühmorgendlichen Stunde gar noch nicht hier sein kann. Mit konstantem Lächeln grüsst er ins Zelt: « Good morning, two members are missing! » Nun braucht es plötzlich keinen Tee mehr, um mir das Zurückfinden in die kalte Wirklichkeit zu erleichtern. Auch der neben mir schlafende Expeditionsleiter Jacques, der bis dahin vermutlich mit innerer Schadenfreude dachte, das Aufstehen gelte nur mir, und mit der Aussicht, so lange liegenbleiben zu können, bis die Sonne um 6.30 Uhr das Zelt erwärme, sich einmal drehte und friedlich weiter-schlummerte, schnellt mit einem Mal hoch: « Hein? Quoi? Comment? » In aller Kürze lassen wir uns von Rinzi erklären, was geschehen ist, während wir uns aus unseren verschiedenen Lagen Daunenzeug schälen und die mühsame Prozedur des morgendlichen Anziehens in Angriff nehmen.

Das erste Gipfelteam unserer Expedition, Mukhiya und Urs, seien gestern um 6.00 Uhr vom Camp 2 aus zum ersten Gipfelversuch gestartet und hatten um 13.30 Uhr eine Höhe von 6700 Metern erreicht. Im dann stattfindenden Funkkontakt mit dem Basecamp schätzte Urs den Zeitaufwand für die verbleibenden 250 Höhenmeter auf etwa 2'/2 bis 3 Stunden. Wegen des fast regelmässig am Nachmittag eintretenden schlechten Wetters und um beim Abstieg zum Lager 2 nicht von der Nacht überrascht zu werden, entschlossen sich Mukhiya und Urs, dem Gipfel den Rücken zu kehren und den Abstieg anzutreten. Um 18.30 Uhr hatten sie Camp 2 erreicht, fanden aber das dort installierte Zweierzelt schon besetzt vor. Nun folgte am Funk eine heftige Diskussion zwischen Mukhiya und Rinzi im Basecamp. Mukhiya wollte unbedingt den Abstieg bis ins Lager 1 fortsetzen, während Rinzi von diesem Vorhaben abriet. Schliesslich machten sich die beiden, entgegen allen Warnungen, entlang den von uns installierten fixen Seilen über die 400 Meter hohe, etwa 50° geneigte Eiswand - Schlüsselstelle in der Besteigung des Numbur auf dieser Route - auf den Weg zum Camp i. Die Walkie-talkies im Camp i und im Basecamp blieben von nun an fast ununterbrochen auf Empfang. Es wurde Mitternacht, und Urs und Mukhiya waren immer noch nicht im Camp i eingetroffen - der Abstieg vom Camp 2 zum Camp benötigte unter normalen Umständen maximal 2'/2 Stunden. Um Mitternacht wurde der Funkkontakt abgebrochen, und morgens um 3 Uhr machte sich Rinzi mit zwei Portern vom Basecamp aus auf den Weg, um Jacques und mich zu alarmieren ( wir hatten im Advanced Basecamp kein Walkie-talkie und wussten deshalb nicht, was vor sich gegangen war ) und eventuell einen Suchtrupp zu organisieren. Während Jacques und ich uns laut fluchend bereit machten, fragten wir uns, wie gross die Überlebenschancen auf etwa 6000 Metern Höhe im Freien im Himalaya seien...

Bis dahin hatten wir aber schon drei Wochen Expedition und, was noch fast wichtiger ist, ein gutes Jahr Vorbereitungen hinter uns. Wie kommt man eigentlich dazu, eine Expedition auf einen Himalayagipfel zu organisieren, und muss es denn immer unbedingt eine Expedition sein?

Man stelle sich eine kleine Gruppe Schweizer vor, welche einmal in ihrer Heimat dem SAC angehörten, dort begeisterte und regelmässige Berggänger waren und seit einem bis drei Jahren für die Entwicklungshilfe in Nepal tätig sind. Ihre Arbeit führt sie des öfteren in unmittelbare Nähe der Himalaya-Riesen, der wohl eindrücklichsten und schönsten Berge der Welt. Ob von ferne oder von nah, diese Gipfel bleiben immer gleich unnahbar. Auf die Länge eine paradoxe und sogar frustrierende Situation: In Nepal, dem Land der höchsten Berge, kommt man noch weniger zur Ausübung seines Hobbys als in der Schweiz!

Dies bedarf einiger Erklärungen. Obschon Nepal die höchsten und schönsten Berge beheimatet, fehlt es hier an jeglicher alpinistischer Infrastruktur, wie z.B. genauen Karten, Unterkünften oder gar befahrbaren Anmarschrouten. Was zudem einen Wochenendausflug ins Hochgebirge verhindert, ist erstens die Tatsache, dass es hier kein Wo- dienende im schweizerischen Sinne gibt -der einzige freie Tag in der Woche ist der Samstag -, und zweitens die Höhe, die einige Tage Akklimatisationszeit erfordert. So muss man hier in Nepal, um bis in Zonen vorzustossen, die in den Alpen 2000 bis 2200 Metern Höhe entsprechen, in den meisten Fällen schon mit einem Anmarschweg von mindestens einer Woche rechnen - die Baumgrenze liegt hier etwa 4000 Meter hoch, die Vegetationsgrenze etwa 4800 Meter. Ein solcher Anmarsch bedarf also allein schon einer logistischen Vorbereitung, wie sie in den Alpen etwa die Haute-Route erfordert, mit dem erschwerenden Unterschied, dass erstens lange haltbare Nahrungsmittel fast unbekannt sind und man zweitens nicht einfach mit einigen Stunden Zeitinve-stition seinen Einkaufskorb in einem Supermarkt füllen kann. Jeden Tag, den man darauf in einer Höhe verbringen will, wo es keine Siedlungen oder gar mechanisierte Transportmittel mehr gibt, erhöht somit den Aufwand an Vorbereitung und Organisation. Hierbei wird des öftern vergessen, dass in Nepal nur die mit einem Minimum lebenden Porter ein Vordringen in die Hochge-birgszoncn so ermöglichen, wie es der durchschnittliche, luxusgewöhnte Europäer gerade noch ertragen kann: Nur die Tatsache, dass das Gewichtsverhältnis des vom Porter für sich selbst mitgeführten Materials zu dem gegen Bezahlung getragenen etwa i: io beträgt, ermöglicht es, dass die « Sahibs », mit etwa 15 kg beladen, ihre Kameras mitnehmen können, jeden Abend warm eingepackt in Daunensachen in einem guten Zelt schlafen dürfen und auf gewohnte europäische Gaumenfreuden nicht verzichten müssen, während der genügsame Träger 30 kg schleppt, sich nachts zum Schlafen ein trockenes Plätzchen unter einem überhängenden Felsen sucht und sich pro Tag mit 2-3 Handvoll gerösteter Maiskörner begnügt.

Nachdem unter einigen hier arbeitenden Schweizern der Entschluss gefasst war, einen der Himalaya-Riesen zu besteigen, gab es für die Wahl des Gipfels folgende Randbedingungen: - Keiner der voraussichtlichen Teilnehmer an'47 der Expedition verfügte über den nötigen materiellen Hintergrund, um eine Expedition im Stile der ganz Grossen ( Bonnington, Messner u.a. ) mitfinanzieren zu können und zu wollen. Dabei waren wir uns bewusst, dass die Hoffnung auf Finanzierungshilfe aus der Schweiz recht klein ist. Zwar liest und hört das Schweizer Publikum gerne Expeditionsberichte von einigen solchen « Spinnern »; Geldmittel für ein derartiges Unternehmen zu finden, sei es aus der öffentlichen Hand oder von Privaten, ist jedoch, im Gegensatz z.B. zu England, in der Schweiz fast unmöglich. Wohl mit ein Grund, dass es seit etwa 13 Jahren ( Besteigung des Dhaulagiri durch Eiselin ) keine namhafte Schweizer Expedition im Himalaya mehr gegeben hat, während die Briten praktisch alle Jahre mindestens eine grosse Expedition durchführen.

- Da bis auf einen alle Teilnehmer im festen An-gestelltenverhältnis in der Entwicklungshilfe an Nepal stehen, verfügten wir bloss über eine begrenzte Zeit: Keinem der Teilnehmer war es möglich oder wünschenswert, mehr als maximal 5 Wochen seiner Ferien für dieses Unternehmen einzusetzen.

Zusammen mit der Tatsache, dass den meisten von uns die Landschaft der nepalesischen « Voralpen » durch ihre Arbeit im Feld bekannt war und wir diese nicht mehr mittels eines langen Anmarsches kennenlernen mussten oder wollten, ergaben diese Randbedingungen, dass ein Gipfel mit möglichst kurzer Anmarschroute gesucht werden sollte.

Der Numbur liegt im Solu Kumbu-Distrikt, etwa 30 Kilometer südwestlich des Everest und der Hauptkette des Himalaya vorgelagert, mit nach Süden offener Aussicht auf das Himalaya-Hügel-vorland. Etwa 3 Tagemärsche südlich liegt der Distriktshauptort des Solu Kumbu-Distrikts, Salleri, in dessen unmittelbarer Nähe sich die Pila-tus-Porter-Landepiste von Phaphlu befindet. Der Numbur war zweien unserer voraussichtlichen Teilnehmer von ihrer Arbeit in Salleri ( -Dorphu ) bekannt, wo ein von der Schweizer Entwicklungshilfe finanziertes Kleinkraftwerk ( 80 kW ) in Bau ist. Von der Annahme ausgehend, dass Pilatus-Porter-Charterflüge nach Phaphlu in genügender Anzahl und zur gewünschten Zeit durchführbar seien-eine hier nicht ganz selbstverständliche und risikolose Annahme -, erfüllte der Numbur die gestellten Bedingungen. Phaphlu liegt bereits auf einer Höhe von 2400 Metern und ist mit Lasten etwa 3 Tage, ohne Lasten einen Tag vom Numbur-Massiv entfernt. Dazu kommt, dass der Numbur von der Höhe her erstens für uns erreichbar schien und zudem in der günstigsten « Preisklasse » der Himalayagipfel liegt. In Nepal muss für die Besteigung jedes Gipfels der Regierung ein « Royalty » entrichtet werden: Gipfel unter 6600 Meter sind frei für « Hochgebirgstrecks », für Gipfel über dieser Höhe muss um eine Expeditionsbewilligung nachgesucht und es müssen folgende Royalties entrichtet werden: Everest i 5000 Rupienetwa 2200 sFr. ); Gipfel über 8000 Meter ( ausser Everest ) 14000 Rupien; 7500-8000 Meter 12000 Rupien; 6600-7500 Meter 10000 Rupien.

DerEntschluss, eine Expedition durchzuführen, war gefasst, der ungefähre Zeitpunkt der Expedition festgelegt ( Frühjahrssaison 1979 ) und der Gipfel ausgesucht. Dies der Stand Juni 1978. In der Folge sollten wir lernen, dass bei einer Hima-laya-Expedition die Schlüsselstellen weniger am Berg als in der nepalesischen Verwaltung in Kathmandu zu suchen sind. Folgendes Muster mag Einblick in den Umgang mit der nepalesischen Verwaltung geben: Nach « Mountaineering Rules & Regulations » hat ein Expeditionsteam Anrecht auf den freien Import und Gebrauch von sonst ( sogar für Entwicklungsprojekte ) sehr restriktiv gehandhabten Walkie-tal-kies. Urs, unser einziger direkt aus der Schweiz kommender Teilnehmer, brachte drei freundlicherweise von der Autophon AG zur Verfügung gestellte SE 125 Walkie-talkies in seinem Gepäck mit. Am Flughafen wurden die drei Geräte fürs erste beschlagnahmt; erst mit einer schriftlichen Betriebsbewilligung sollten wir sie dort aus dem Zollverschluss lösen können. Noch gleichentags unterbreiteten wir dem Ministerium für Tourismus ein entsprechendes schriftliches Gesuch. Von da überbrachten wir persönlich ( sich auf die Post oder andere Kommunikationsmittel zu verlassen, wäre Leichtsinn, zumal dann, wenn man unter Zeitdruck steht ) ein Empfehlungsschreiben an das Department for Communication, welches für die Kontrolle des Äthers in Nepal verantwortlich ist. Der für Walkie-talkies zuständige Sachbearbeiter war jedoch gerade nicht anwesend; so wurden wir auf den nächsten Tag vertröstet. Uns brannte die ganze Angelegenheit etwas unter den Nägeln, denn wir wussten: wenn die Geräte nicht innerhalb von zwei Tagen aus dem Zoll ausgelöst werden konnten, würden diese ins Zollager am Flughafen in Kathmandu wandern; und nur wer dieses Zollager schon einmal gesehen und erlebt hat, kann verstehen, dass uns der Gedanke allein ein Horror war, die Walkie-talkies dort zu wissen und von dort herausholen zu müssen. Anderntags erreichte ich nach dem dritten Anruf den Sachbearbeiter für Walkie-talkies im Department for Communication endlich, und nach dem vierten Anruf wurde mir bestätigt, dass das Bewil-ligungsschrciben bereit war. Damit ging es jetzt zurück zum Ministerium für Tourismus; denn dieses musste nun, gestützt auf das Schreiben des Department for Communication, wiederum ein Empfehlungsschreiben an die Zollbehörden verfassen. Da es inzwischen bereits 16 Uhr geworden war und Büroschluss um 17 Uhr ist, bestand keine grosse Hoffnung, das Papier noch selbigen Tages zu erhalten. Einmal mehr wurden wir auf « bholi » ( nepalesisch: morgen ) vertröstet. Am nächsten Tag um 13 Uhr waren wir schliesslich im Besitz des letzten benötigten Schreibens - so dachten wir wenigstens - und fuhren damit frohen Mutes zum Flughafen, mit der Gewissheit, dass unsere Geräte noch nicht im Chaos des Zollagers verschwunden seien. Am Flughafen wurde uns aber mitgeteilt, dass die Geräte am selben Vormittag ins Zollager gebracht worden seien. Nun erwartete uns ein Spiessrutenlaufmit Brief und anderen Zetteln von einem Beamten zum andern, alle hoffnungslos überlastet ( es ist kaum zu glauben, wie viele Leute täglich das Zollager stürmen, um irgendeinen dort deponierten Gegenstand zu importieren ), um die benötigte Anzahl Stempel und Unterschriften nach dem Bezahlen entsprechender Gebühren auf unseren Papieren zu erhalten. Beim letzten Beamten in der Kette angekommen, stellte dieser als erster fest, dass unser Empfehlungsschreiben nicht an die Zollagerverwaltung, sondern ans Customs Department gerichtet sei. Das hiess für uns, zurück in die Stadt fahren, denn ohne Empfehlungsschreiben des Customs Department konnte die diesem unterstellte Lagerverwaltung am Flughafen nichts herausgeben. Diesen letzten Brief bekamen wir allerdings innerhalb einer Rekordzeit von 45 Minuten.Wieder zurück zum Flughafen; es war inzwischen 16 Uhr, und wir wollten noch am gleichen Tag in den Besitz der Walkie-talkies kommen. Diesmal konnten wir den Spiessrutenlauf etwas abkürzen und gleich den letzten Beamten in der Kette im Gedränge suchen. Schliesslich konnten wir seiner habhaft werden und liessen ihn nicht mehr aus den Augen, denn nun würde er uns die Geräte aushändigen. Mir bangte schon vor der Suchaktion unter den übermannshohen Stossen von Koffern, Kisten und Kartons, aber die Funkgeräte waren erstaunlicherweise in einem Safe eingeschlossen. Unser Problem war nun bloss, dass der in Nepal allgegenwärtige wichtigste Mann in der Beamtenhie-rarchie, « the man with the key », gerade für einen Tee abwesend war. Uns blieb nichts anderes, als ebenfalls einen Tee zu konsumieren und zu warten, bis wir dann schliesslich nach einer weiteren halben Stunde die Walkie-talkies in Empfang nehmen durften.

Es sei nun hiermit nicht gesagt, dass sämtliche Kontakte mit Regierungsstellen während der ganzen Vorbereitungszeit wie dieses Beispiel verliefen, ähnliche « Schlüsselstellen » waren jedoch nicht selten zu überwinden.

Alpinistische Probleme bot der Numbur vergleichsweise weitaus kleinere. Wir hatten die'49 Route über den Westgrat, von weitem und aus der Luft ein wenig an den Biancograt erinnernd, gewählt, weil diese Route uns nach einem Rekognoszierungsflug als die einzige, von objektiven Gefahren relativ freie erschien. Zudem war dies die Route, welche 1963 von einer japanischen Expedition anlässlich der Erstbesteigung des Numbur begangen worden war. Unsere Expedition war somit der Versuch einer Zweitbesteigung. Aus der Nähe bestätigten sich unsere Vermutungen über die Sicherheit der Route weitgehend. Bis auf einigen unangenehmen Steinschlag direkt unterhalb des Camps i und auf exponiertes Eis- und Firnklettern zwischen Camp i und Camp 2 hielten sich die Schwierigkeiten durchaus im Rahmen einer durchschnittlichen Alpengipfelbestei-gung, abgesehen natürlich von der Höhe. Die eigentliche Schlüsselstelle, auch schon von den Japanern als solche empfunden, bestand in einer etwa 400 Meter hohen, 45-500 geneigten Eiswand zwischen Camp i und Camp 2. Allerdings trafen wir offenbar um einiges bessere Verhältnisse als die Japaner 1963 an; sprachen diese von blankem, blauem Eis, war während unserer Besteigung fast bis am Schluss der Expedition die Wand mit einer Firnschicht bedeckt; dementsprechend benötigten wir bloss drei Tage, um die Wand zu durchqueren und mit fixen Seilen zu versehen, und nicht 6 Tage wie die Japaner.

Man muss nicht unbedingt wie Messner und Habeler oder andere Profis objektiv gefährliche Routen begehen, um auch einen Teil Nervenkitzel abzubekommen. So etwa, wenn im oberen Drittel der Eiswand beim Installieren der fixen Seile das durch den Karabiner am Klettergurt geführte fixe Seil plötzlich klemmt, die Wadenmuskeln nach dem Durchsteigen einer Höhe von 30 Metern auf den Frontzacken zu versagen drohen und man dann zwischen den Beinen hindurch über die 300 Meter hohe, unten sprungschanzenartig ins Nichts auslaufende Eiswand hinunterblickt. Oder wenn eben in dieser Wand beim Abräumen der fixen Seile dem hinterherkletternden Gefährten das letzte Stück fixes Seil entgleitet, mit welchem er sich bis zu mir herunter hätte sichern wollen. Dies an einer Stelle, wo sich im Verlaufe der Expedition der Firn in glashartes, blaues Eis verwandelt hatte und wo weder der Eishammer noch der Pickel viel Halt versprach und nur die vordersten 5 Millimeter der Frontzacken an den Steigeisen sich ins Eis eingruben. Trotz der Höhe kaum atmend, beobachtet man in einem solchen Augenblick, wie der Gefährte, Eishammer in der linken, Pickel in der rechten Hand, sich ungesichert Zentimeter um Zentimeter bis zum eigenen Standort hinunterarbeitet.

An jenem 22. Mai suchten Jacques und ich nochmals mit dem Feldstecher den Berg oberhalb des Lagers 1 ab, bevor wir uns, von allen möglichen düsteren Gedanken verfolgt, auf die Suche nach den Vermissten machen wollten. Da! Zwei Gestalten steigen unweit des Camps langsam ab. Das können nur Urs und Mukhiya sein! Am Funk wird uns diese Vermutung von dem aus Camp 2 absteigenden Team ( einer der beiden hatte eine dermassen schlechte Nacht verbracht, dass an diesem Morgen an einen Gipfelversuch nicht zu denken war ) etwas später bestätigt. Es bedarf wohl keiner sehr grossen Vorstellungskraft, um sich unsere Erleichterung auszumalen. Das Erlebnis hatte aber auf die ganze Teilnehmerschaft wie ein Schock gewirkt, welcher nicht ohne direkten Einfluss auf den weiteren Verlauf der Expedition blieb.

Der anfängliche Elan war gebremst, und verschiedene Teilnehmer ( darunter ich selbst ) verzichteten auf weitere Gipfelversuche. Nach einer zweitägigen Pause stellte Jacques nochmals ein Dreierteam, bestehend aus ihm selbst, Paul und Tenzing, für einen zweiten Gipfelversuch zusammen. Am 25. Mai starteten sie vom Camp 2, mussten aber um 13 Uhr auf einer Höhe von 6600 Metern wegen unerträglich starken Windes den Rückweg antreten.

Fazit des Unternehmens? Selbstverständlich wardiebeiunsererRückkehrinKathmandu meistgehörte Frage: Wart Ihr erfolgreich? Ohne mit der Wimper zu zucken, antworteten wir jeweils mit Ja. Ja, wir haben erfolgreich alle Teilnehmer gesund und wohlbehalten zurück nach Kathmandu gebracht. Natürlich war dies nicht ein Hauptziel der Expedition, denn wollte man bloss überleben, würde man wohl kaum eine Besteigung eines Himalayagipfels unternehmen. Bedenkt man jedoch, dass jene Frühjahrs-Expeditionssaison mit 21 Expeditionen t t Menschenleben forderte und dass während unserer Expedition das Drama der Silvain-Saudan-Gruppe am Dhaulagiri stattgefunden hatte, darf dies immerhin als bescheidener Erfolg betrachtet werden. Eben weil der Numbur-Gipfel nicht eigentlich unser Hauptziel war, sondern Mittel zum Zweck zur Erreichung der Ziele Erholung, Abenteuer, Selbst- und Gruppenerfahrung, mussten wir den Gipfel nicht um jeden Preis erreichen, denn diese Ziele waren so oder so erreicht. Mit einer Woche mehr Zeitaufwand und einem Biwak zwischen Camp und Camp 2 ist auch der Numbur nicht unbezwingbar.

Technische Daten:

Teilnehmer Jacques Bovier. Expeditionsleiter ( 36). wohnhaft in Nepal Urs Braschler 128/. wohnhaft in Zürich Adrian John Gray ( 28 ). Expeditionsarzt, Neuseeländer, arbeitet in Nepal Mingmar Tenzing Lama ( 21 ), nepalesischer Teilnehmer Rinzi Pasang Lama ( 24 ), nepalesischer Expeditions-Ko-Lei-ter Jürg Litscher ( 32 ), wohnhaft in Nepal Peter Molinari ( 31Ì, stellvertretender Expeditionsleiter, wohnhaft iti Nepal Dalim Mukhiya ( 27 ), nepalesischer Teilnehmer Paul Raymond ( 33 ), wohnhaft in Nepal Hans Scheibler ( 36 ), wohnhaft in Nepal Anzahl Angestellte und Porter 10 feste Angestellte 1 Koch, Küchenhilfen. Hochgebirgslräger, Maih unner usw. ) 65 Träger von Phaphlu zum Basecamp 25 Träger vom Basecamp nach Phaphlu 6 permanent angestellte Träger zum Herbeibringen von Holz Anzahl Lager. Höhe derselben und Datum des Ernchiens Basecamp4^4° Meter 3. Mai Advanced Basecamp Camp 1 Ca nip 2 5150 Meter 6. Mai 5700 Meter 10. Mai ( Ì250 Meter 19. Mai Kosten Rund 36000 sFr. Davon etwa ein Drittel von unseren nepalesischen Partnern getragen. Von den verbleibenden rund 24000 sFr. etwa 3000 sFr. durch Postkartenaktion finanziert. Rest gleichmässig unter die Schweizer Teilnehmer aufgeteilt. Zudem wurde die Expedition von verschiedenen Firmen m der Schweiz mit Vorzugsrabatten und Gratisbezügen unterstützt. Totalbetrag der Spenden: etwa 3000 sFr.

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