Erinnerung
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Erinnerung

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Erinnerung Weissmies-Westflanke ( Saaserseite ) mit der direkten Route 865 ( Variante Lusy 1926 ). Skizze aus dem Walliserführer III ( Ausgabe 1937 ).

Eisbruches und der Felsen ), erzwinge den Übergang über einen grossen Bergschrund ( möglichst weit links ) und steige direkt zum Gipfel hinauf.

Dieser Weg ist bei guten Verhältnissen schon in 4 St. gelungen. Abstieg in weniger als 2 St. Er kann nur im Frühsommer oder bei ganz günstigen Verhältnissen empfohlen werden. Steigeisen sind unerlässlieh.

Erinnerung.

Nach einem Tagebuch.

Von Hans Moser.

30. Dezember 1915. Oberaarhütte. Bis weit in den Tag hinein schlafen wir die bisherige Mühsal aus. Im Nachmittag verführt uns die bessere Miene des Wetters zum Weitergehen nach der Finsteraarhütte. Bei den Ski unten verweilt der Sinn an der einzuschlagenden Route. Aus Skijahrbüchern wissen wir, dass es um das Rotloch geht, doch die Gemslücke lockt stärker. Wir ziehen unsere Spur dahin, um den Überblick von dieser höheren Warte auf das nächste Gebiet zu haben. Leicht gewinnen wir die Lücke, vor und unter uns öffnet sich das Finsteraar. Greifbar nahe liegt unser nächstes Dach, als wir die jähe Kehle auf der anderen Seite absteigen, nicht ohne ab und zu vom Pickel Gebrauch zu machen. Vorsichtig sind wir nun am Fuss angelangt, die Ski werden abgeschnallt. Doch schlecht geht die Fahrt. Einmal ist der Schnee ganz weich, dann kommt wieder ein Lawinenzug, hart wie Eis. Hinter mir kreischt es. Der nachfolgende Fritz ist auf dem harten Schnee ausgerutscht und kommt erst weit unten zum Halten. Es scheint nicht ohne Schaden abgegangen zu sein. Kurzer Ratschlag: Willy soll vor dem Einnachten den Weg zur Hütte finden, während ich zu Fritz absteige, um zu helfen. Ernstliche Verletzungen hat es keine gegeben, und nach einer halben Stunde ziehen wir dem Kameraden nach.

Die Dämmerung hat rasch eingesetzt, es hält nicht leicht, der Spur zu folgen. So kommt es, dass ich in grösserem Kreise keine Spur mehr finde. Rechts oben ist ein Felssporn, es wird der Grat nach der Hütte sein. Wir steigen zum Fels an, schnallen die Bretter ab und klettern mühsam aufwärts. Endlich oben, betreten wir Firn. Die Laterne beleuchtet verräterische Striche. Die Sache gefällt mir nicht so recht, das Anseilen verwerfe ich aber, da dem nachfolgenden Fritz jede Übersicht über meine Schritte fehlt. Ein Licht und ein Ruf von links beweisen uns, dass Willy in der Hütte ist, wir aber falsch gestiegen sind. Die Entfernung zur Hütte mag etwa 300 m betragen haben. Ich lenke meine Schritte dahin. Mit aller Vorsicht sondiere ich für jeden Schritt nach vorn, Fritz folgt behutsam nach.

Mein Pickel stochert im Schnee, da versinkt die Masse mit mir, links und rechts geht alles mit hinunter. Tief unten in einer Spalte bleibe ich an einer engen Stelle im Rucksack hängen. Der Gürtel, mit dem ich den sehr grossen Rucksack sicherte, hat mich gemeinsam mit der grossen Masse Schnee, die hier einen Augenblick zum Stillstand kam, vor einem tieferen Sturz bewahrt.

So eingeklemmt kann ich mit dem Pickel für die Füsse einen kleinen Halt schaffen. Weit über mir ist ein grosses Loch sichtbar. Fritz ruft mir zu, und zugleich höre ich ihn um Hilfe rufen. Willy antwortet. Meine Lage ist ganz unsicher, Seil auf dem Sack und Reserveseil im Sack nützen mir nichts. Fritz macht eine Notleine aus Wadenbinden, Schnüren etc. Erst nach zweimaliger Verlängerung erreicht sie mich. Über den Sack löse ich das Seil, öffne langsam Schlaufe um Schlaufe. Wie eine rettende Schlange zieht es zum Schrund hinaus. Am Seil gesichert, schaffe ich mir Stand.

Das Reserveseil wird aus dem Sack gezogen, von Fritz hochgenommen und daran der Sack gehängt. Doch zum Loch hinaus kommt er nicht, da die Brücke zu wenig abgebrochen ist und der Sack darunter hängen bleibt. Er ist aber dort sicher. Nachdem ich von oben gesichert und von jedem Ballast frei bin, wird am Aufstieg gearbeitet. Stufe um Stufe geht es etwa 6 m hinauf. Die Spalte wird zusehends weiter und langsamer das Hinaufkommen, da ich mit dem Rücken nicht mehr stemmen kann. Es geht nicht mehr. Willy ist noch nicht da. Nach einiger Zeit sehen wir in der Dunkelheit von weiteren Rettungsversuchen ab. Fritz wacht auf dem Gletscher beim gesicherten Seil, unten haue ich einen Hock aus dem Eise. Wir warten gespannt Stunde um Stunde auf Rettung durch Willy. Er kommt nicht.

Silvester 1915. Der Morgen graut über der tiefen Kluft. Willy ist immer noch nicht da, es ist ihm sicher etwas zugestossen. In meinem Rucksack ruht der Kocher, er muss unter allen Umständen hinauf. Fritz schlägt den Rest der Schneebrücke ab, der Rucksack über dem Kopf schützt mich vor Eisstücken von oben. Es ist geglückt. Die Feldflasche mit warmer Schokolade kommt langsam am Reserveseil herab. Stärkender Trank, wiedergegebene Lebensenergie, ein Rettungsgedanke. Am Reserveseil sichere ich mich. Das 25 Meter lange Seil wird von Fritz hochgezogen, mit Knoten versehen und doppelt heruntergelassen. Leider reicht es nicht, die Tiefe ist demnach etwa 15 Meter bis zu mir. Also langsam Stufe um Stufe schlagen. Es geht, eine Schlaufe verbindet die letzten Knoten des Hauptseiles, die unterste Stufe der Strickleiter hält. Sehr schwierig gestaltet sich der Ausstieg, da keine Stufen mehr möglich sind, weil das Eigengewicht mich an die Eiswand drückt. An den herabhängenden Beinen von Fritz ist es geglückt. Nachmittag 4 Uhr gerettet.

Doch wo ist Willy? Wir müssen handeln. Ein Sprung über die Spalte, vorsichtiger Gang zu unsern Ski. Weiter vorn ist Willys Spur von gestern sichtbar. Wir verfolgen und verlieren sie in der Dunkelheit an den Felsen des Hüttengrates. Schwer lastet die Sorge um den Kameraden auf uns. Doch vorwärts zur Hütte, das Wetter wird zusehends schlechter. Um sicher zu sein, wollen wir den Grat überklettern. Im Nebel geht es langsam höher, ein Steinmannli fühlen wir mehr, als dass wir es sehen. Die Hütte kann nicht weit sein. Vorsichtig steigen wir einige Meter auf der anderen Seite ab und rufen laut. Die Antwort bricht den Bann, auf allen Vieren kriecht unser Willy aus der Hütte.Voller Freude fallen wir uns um den Hals. Aber wie sehen wir aus? Willy hinkt, und wir beide haben Wunden am Kopf und das Gesicht voll Blut. Im trauten Hüttlein ziehen wir uns aus.

Gespannt hören wir Willy zu: « Seit ungefähr einer Stunde bin ich hier in der Hütte. Als du, Fritz, gestern abend um Hilfe gerufen, bin ich sofort zur Rettung ausgezogen, mit Seil, zwei Decken und Kocher im Rucksack. Ich wollte direkt von hier über den Firn zu euch gelangen. Schon nach kurzer Zeit brach ich in eine Spalte, nicht tief, aber in der Dunkelheit kam ich nicht heraus. Das Übernachten gestaltete sich dank den Wolldecken noch passabel. Am Morgen entrann ich mit Stufenschlagen der etwa 8 Meter tiefen Spalte. Doch trotz aller Vorsicht fiel ich auf dem Rückwege zur Hütte in eine andere Spalte und verstauchte den Fuss. Mit allem Mut habe ich mich heute den ganzen Tag auch dort herausgearbeitet. Den Weg nach der Hütte habe ich kriechend zurückgelegt. Die Sorgen um euch haben mich nicht ruhig gelassen. Ich wollte mich gerade auf Ausschau nach euch begeben, als ihr gerufen habt und erschienen seid. » — Die Schilderung unseres Kameraden macht uns grossen Eindruck, wir beide wissen, dass eine solche Leistung nur unser Willy vollbringen kann.

Es ist 11 Uhr nachts. In einer Stunde wird zu Hause das neue Jahr eingeläutet. Hier oben setzt ein Sturm ein, wir legen uns schlafen.

4. Januar 1916. Nach drei Tagen Schneesturm blickt die Sonne durch das Hüttenfenster. Wir machen uns marschbereit. Es fehlt überall etwas an Händen und Füssen. Willys geschwollener Fuss will nicht in den Schuh.

Was tun? Der neue Militärbergschuh, der erst die Rekrutenschule hinter sich hat, wird vorn aufgeschnitten. Nun geht es, der Schnitt wird mit Leder unterlegt. Langsam und vorsichtig müssen wir gehen. Am Fusse der Felsen ragen unsere Ski aus dem Schnee. In tiefer Spur streben wir mühsam der Grünhornlücke zu. Auf der Lücke angelangt, erfreuen wir uns am Anblick der Schneeriesen. Die Abfahrt nach dem Konkordiaplatz geht besser als vermutet. Quälender Aufstieg zur Konkordiahütte. Weit und breit keine Spur von Menschen. Die letzte Eintragung ist vom September vorigen Jahres. Ausser einem grösseren Brotstück aus jener Zeit ist kein Proviant da. Also auf dem kürzesten Weg zu Tale. Die Nacht frieren wir in der Hütte.

5. Januar 1916. Das alte Brot dient uns als Frühstück, nachdem es vom Pickel auf dem Scheitstock zerkleinert und im Kakao aufgeweicht worden. Karg sind unsere Lebensmittel für heute. Die Fahrt über den Aletschgletscher am Seil geschieht langsam. Das Wetter hat wieder umgeschlagen. Am Märjelensee sind wir im dicksten Schneesturm. Ein kurzer Halt. Ich entschliesse mich sicherheitshalber für den Weg zu der Märjelenalp, wo laut Karte einige Hütten stehen. Wir finden sie, aber weiter geht es heute nicht mehr. Das letzte Stück Brot, die letzte Suppe wird friedlich miteinander geteilt. Eng aneinandergeschmiegt geben wir uns leidlich warm im Heu.

6. Januar 1916. Es schneit immer noch. Nebel verdeckt die Sicht. Ohne Stärkung müssen wir abfahren. Der Weg von hier zum Hotel Jungfrau am Eggishorn ist im Sommer ein Spaziergang, bei diesen Verhältnissen aber scheusslich. Im Nebel sieht man vielleicht irgendwo eine Böschungsmauer, dann wieder nichts mehr, und doch darf der Weg hier im ganzen nicht verlassen werden. Hundert Meter vom Hotel ein fürchterlicher Wind. Der Schnee kracht bedrohlich — weiter oben suchen wir der Schneebrettgefahr zu entgehen. Endlich nach fünf langen Stunden sind wir beim Hotel. Wie Willy mit seinem verstauchten Fuss dieses gefährlichste Stück der ganzen Fahrt gemacht hat, ist mir heute noch ein Rätsel. Erschöpft liegt er bei der Kapelle, während ich den Weiterabstieg ausfindig mache. Guter Hoffnung bringe ich die Gefährten wieder auf die Beine. In schöner Abfahrt nun zur Fiescheralp. Willy will und kann nicht mehr weiter. Ein Pfiff der Furkabahn und die Glocken, welche dem Dreikönigstag läuten, wecken neue Kräfte. Abends halb 6 Uhr sind wir in Fiesch. Ein Telegramm nach Hause meldet unsere Heimkehr.

Gelernt haben wir alle drei:

1. Die Jahreszeit war für die Ausführung der Tur die denkbar ungünstigste.

2. Der Rat des Bergführers war richtig.

3. Die Tageslängen im Dezember sind für lange Aufstiege ohne Unterkunft zu kurz.

4. Eine Partie darf auf keinen Fall getrennt marschieren.

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