Erinnerungen an die Exkursionen am Biafo Gyang (Karakorum)
Hans Hartmann, Küsnacht ZH
Ins Tagebuch notieren wir den 14.Juli. Seit unserer Ankunft im Hauptlager am 8. Mai 1962 sind schon mehr als zwei Monate verstrichen. Nach einem weiteren Monat werden wir Abschied nehmen müssen, einen Abschied, der uns nicht so leicht fallen wird; denn die eingehende und — wie wir meinen — erfolgreiche Beschäftigung mit der ursprünglichen, wilden Natur des oberen Braldo-Tales hat uns vielseitige Einblicke gegeben und mancherlei Erkenntnisse vermittelt, wodurch uns Land und Leute vertraut und lieb geworden sind. Der Standort unseres Base Camp, kaum 200 Meter vom westlichen Zungenende des Biafo-Gletschers entfernt, hat sich in jeder Beziehung als günstig erwiesen. Ganz besonders schätzen wir die zentrale Lage des « Stützpunktes », von dem aus alle bisher durchgeführten Exkursionen in die verschiedensten Richtungen geplant und verwirklicht wurden. In etwa zweieinhalb Stunden erreicht man talauswärts die Nachbarsiedlung Askole. Es ist das letzte Dorf auf der rechten Talseite. Der Lambardar ( Dorfoberhaupt ) der 3ooköpfigen Einwohnerschaft ist uns wohlgesinnt, hat doch Hadschi Mahdi, einer seiner Söhne, während unseres Anmarsches von Skardu her die Rolle des Headporters gepielt!
Kleine Vegetationsskizze des oberen Braldo-Tales In diesem Talabschnitt, unweit östlich der hintersten Dörfer, ergiesst sich der gewaltige Eisstrom des Biafo Gyang - wie der Biafo-Gletscher von den Einheimischen auch genannt wird - aus nordwestlicher Richtung auf die Talsohle. Frühere Vorstösse des Biafo haben den Braldo River an die linke Talseite gedrängt, wo er seither sein Bett etwas tiefer erodieren konnte. Modellartig muten hintereinander angeordnete Endmoränenwälle an, die in westlicher Richtung einem älteren, riesigen Schotterfeld aufliegen, eine in diesem Ausmass einmalige Erscheinung im ganzen Tal. Ü ber die verschiedenaltrigen Moränenkränze hinweg liess sich ohne Mühe die Entwicklung der Pflanzendecke studieren. Unter den ersten Ansiedlern auf jüngster Moräne, auf Schotter- und Sandbö-den entdeckten wir den uns auch aus den Alpen vertrauten Sanddorn ( Hippophae rhamnoides ) neben Schiljähnlichem Reitgras ( Galamagrostis pseudo-phragmites ) und den asiatischen Gebirgspflanzen wie Falconers Süssklee ( Hedysarum Falconeri ), das Mittlere Meerträubchen ( Ephedra intermedia ), einen Pippau ( Crépis flexuosa ) und die Gedränglährige Weide ( Salix pyenostaehya ). Ältere Moränen- und Schotterfluren leiten über fortgeschrittene Bildungen zu den Endstadien in der Vegetationsentwicklung auf der Talsohle; letztere finden wir hier auf etwa 3100 Meter an den äussersten Moränenkränzen und im Gletschervorfeld auf Schotter.
Wo Blockschutt oder Grobgeröll überwiegt, stellt sich das lockere Gebüsch mit Webbs Rose ( Rosa Webbiana ), einer der wenigen Rosenarten des Karakorum, und mit der Kleinblättrigen Heckenkirsche ( Lonicera microphylla ) ein. Auf kompakt gelagerten Sand-, Staub- und Kiesböden aber breitet sich eine dürftige Zwergstrauch-steppe aus, in der verschiedene I Vermut-Arten Endmoränenkränze des Biafo-Gletschers. Im Vordergrund: Artemisien-Steppe Gletschertisch auf den Biafo-Gletscher zwischen Mango und Baintha Photos Hans Hartmann .Küsnacht/ZH Skizze von Nord -BalKsran Zentral - Karakorum 3 ) Qrinsang [riurbeielchnuny Si Korofon rFkntezaictimma] S> La Blak MJ ® Munjung ® Skoro Blök [.Alp"] BCBiofo-Baie Camp E3 telserout » Logerplota »»serhalb von Siedlungen X Pawub.raang.tLq] ( Artemisia ) vor allen anderen auffallen und das wohl kleinste Meerträubchen ( Ephedra Regeliana ) mit den knapp 5 Zentimeter langen Trieben quadratmetergrosse Teppiche bildet. Im Gegensatz zu diesen Pflanzengesellschaften, die trockene Standortsverhältnisse repräsentieren, zieht sich entlang den Flussläufen ein Saum dichten Gestrüpps, dessen Pflanzen periodische Überschwemmungen ertragen, dessen Wurzeln aber die Grundwasserhorizonte erreichen und davon profitieren. Zwar musste das auenwaldartige Wei-den-Sanddorngebüsch in dem waldlosen, holzarmen Land auf grosse Strecken der Axt des Menschen weichen; ein ungeschriebenes Gesetz verbietet jedoch heute das willkürliche Schlagen von Sträuchern und einzelstehenden Bäumchen.
Während eines sechstägigen Abstechers zum Baltoro-Gletscher hatten wir einen Einblick in den abwechslungsreichen hintersten Talverlauf erhalten. Die Hirten mit ihren Yak- und den gemischten Ziegen- und Schafherden hatten Mitte Juni diesen unbewohnten Oberlauf des Braldo-Tales bereits wieder verlassen, denn die Überquerung der hochwasserführenden Bäche ist während der Sommermonate mit Gefahren verbunden. Die Benützung der defekten Seilbrücke über den Panmah River kam damals nicht in Frage. Einem zeitraubenden Umweg über den Panmah-Gletscher hatten wir - trotz Bise und leichtem Schneefall - das Durchwaten der Flussarme kurz oberhalb der Mündung in den Braldo vorgezogen!
Einige mehrtägige Exkursionen hatten uns dann hinaufgeführt in die alpinen Yak-Weiden von Cho Blök und des Laskam. Wir erhielten dabei nicht nur eine erste Übersicht über den Vege-tationsverlauf bis zur Schneegrenze auf 5000 Meter, diese Aufenthalte vermittelten auch einen Eindruck von der primitiven Alpweidewirtschaft. Von einer eigentlichen Alpwirtschaft kann ja nicht die Rede sein, denn die Zubereitung von Käse und anderen haltbaren Molkereiprodukten ist nicht bekannt.
Umständlicher war der Aufstieg zu den entsprechenden Weiden von Gense. Dazu musste man vorerst über die nächstgelegene Seilbrücke unterhalb Askole auf die linke Talseite gelangen. Die überwundenen Tücken wurden dann jeweils durch prächtige Panoramaausblicke entschädigt. Der Blick, der sich dem Betrachter von hochgelegenen Stellen aus in die Talschaften des Karakorum eröffnet, ist ungemein eindrucksvoll! Wenn die höchsten Erhebungen auch erst weiter im Osten, im Einzugsgebiet des Baltoro-Gletschers, die 8000-Meter-Grenze überragen, so dürften die Höhenunterschiede auf kleiner Fläche auch in diesem Teil des Braldo-Tales kaum wesentlich geringer sein. Die im Durchschnitt aussergewöhnlich steilen Berghänge fallen oft auf kürzeste Horizontalentfernung gleichsam in einem Zug -ohne deutlich erkennbare Terrassenbildung - von über 6000 Meter Meereshöhe zur Talsohle auf etwa 3000 Meter ab.
Aus der Ferne machen die hohen Talflanken einen völlig kahlen Eindruck. Wälder gibt es im zentralen und östlichen Karakorum infolge der nach Norden und Osten zunehmenden Trockenheit ohnehin keine mehr. In geringer Entfernung wird an den Hangflächen der tieferen Lagen eine feine, gleichmässige Tüpfelung sichtbar: es ist der Küsten-Wermut ( Artemisia maritima ), dessen Zwergsträucher in der einförmigen Steppe den Ton angeben. Schon ein erster Augenschein dieser Wermut-Steppe mit Niederliegender Radmelde ( Ko-chia prostrata var. canescens ) und Mittlerem Meerträubchen ( Ephedra intermedia ) lässt die Nieder- schlagsarmut ahnen. Die Zahl an Arten ist relativ klein; aber alle ertragen länger dauernde Trockenheit ohne Schaden. Zum Teil äussert sich die Anpassung an den trockenen Standort auch in der Lebensform: fast die Hälfte der Arten wächst als niederer Strauch, beinahe ein Viertel beanspruchen die Einjährigen. In keiner anderen Gesellschaft des Gebietes sind die einjährigen Kräuter so stark vertreten wie hier. Die Pflanzen wurzeln meist einzeln im sandig-staubigen Boden, dessen Humusgehalt kaum nachweisbar ist. Weit hinauf sind die grossflächigen Talflanken durch die bräunlich- oder gelblichgrauen Farbtöne der Artemisien-Steppe geprägt.
Die Steppe wird in Südlage von 3600 bis 3700 Meter an aufwärts - in- Nordlage bereits viel tiefer - nicht nur üppiger und deutlich dichter geschlossen; es treten neue Arten auf, wie z.B. der Weichhaarige Spitzkiel ( Oxytropis mollis ) und die Zierliche Kammschmiele ( Koeleria gracilis ), während andere zurückbleiben. Parallel zu den Veränderungen an der Bodenoberfläche ist der Humusgehalt im Wurzelbereich -ebenso als Folge eines günstigeren Wasserhaushalts - deutlich erhöht. Die mit der Höhenlage zunehmenden Niederschläge und die länger dauernde Schneebedeckung haben zur Folge, dass die Steppe bei etwa 4200 Meter durch üppige, blumenreiche und dicht geschlossene Rasen ersetzt wird. Dieser Übergang in die eigentliche alpine Stufe tritt in der Landschaft durch den unvermittelten Farbwechsel von Grautönen ins Grüne zutage.
An den nordexponierten Hängen verlaufen die Vegetationsgrenzen einige hundert Meter tiefer. Auffälliger ist jedoch ein Strauchgürtel von wechselnder Breite, der zwischen Steppe und alpinen Wiesen eingeschoben ist. Oberhalb 3800 Meter herrscht in der übermannshohen Strauchschicht unumschränkt Karelins Weide ( Salix Karelinii ) und ist nicht selten der einzige Strauch. Ungestörte Bestände dieses Weiden-Ge-büschs, das von weitem an unsere Alpenerlen er- innert, haben ihre obere Grenze bei 4200-4350 Meter.
Je weniger das Leben des Menschen von modernen technischen Errungenschaften abhängig ist, um so stärker und unmittelbarer wird es durch die natürliche Umwelt, durch die Landschaft im weitesten Sinn und nicht zuletzt auch von deren Pflanzenwelt beeinflusst und geformt. So leiden die Bewohner der wenigen Siedlungen auf der linken Seite des Braldo Rivers überhaupt nicht an Brennholzmangel; ihnen stehen in Form des alpinen Weidengebüschs genügend Holzreserven zur Verfügung. In dieser Beziehung sind die Landsleute der viel zahlreicheren und grösseren Dörfer auf der rechten Talseite benachteiligt. Sie ergänzen ihren Brennholzvorrat oft durch gesammelte Artemisiensträuchlein und getrockneten Mist.
Die hochgelegenen saftigen Rasen bleiben ausschliesslich den Yak-Herden als Weide reserviert, denn die Schaf- und Ziegenherden müssen sich von den kargen Steppen ernähren. Wo das Gelände nicht zu steil ist, sind im Steppen-klima des Braldo-Tales überall Wohnsiedlungen entstanden, vorausgesetzt, dass die Bewässerung mit abgeleitetem Gletscherwasser möglich wurde. Die Bauern aus Surungo, einem Nachbardorf von Askole, haben es sogar verstanden, an einer schattigen Stelle oberhalb des Dorfes einen künstlichen Gletscher als Wasserreservoir anzulegen. Dazu trugen sie im Spätherbst des letzten Jahres etliche hundert Kilogramm Eis vom Biafo-Gletscher herbei, das dann in mehreren Lagen, mit Stroh und eventuell sogar mit wassergefüllten Schläuchen dazwischen, aufgeschichtet wurde.Vor Beginn jeder folgenden Schneeschmelze sollen dann die mit der feuchten Unterlage zusammengefrorenen Schneemassen mit Stroh bedeckt werden. Nach einigen Jahren werde schliesslich - nach Aussagen der Einheimischen - der Schnee an solchen Stellen den Sommer überdauern!
Aufstieg nach Mango Nun stehen wir vor dem Aufbruch ins Tal des Biafo-Gletschers. Für diese letzte und grösste Exkursion haben wir die nächsten drei Wochen reserviert. Es ist vorgesehen, an zwei Stellen ein Lager zu errichten, um dort arbeiten zu können: bei Mango, ungefähr im unteren Drittel der Gletscherzunge auf der rechten Talseite, und linksseits etwas über der Mitte des Gletschers bei Baintha. Vor bald drei Wochen haben unsere Träger, die alle von Askole kommen, erstmals Proviant und Ausrüstungsmaterial nach Mango getragen. Lange Zeit kamen wir mit Mussin als Gehilfen aus; später stellten wir für die grösseren Touren einen zweiten jungen Mann namens Mahdi ein. Für das eigentliche « Biafo-Unter-nehmen » ist schliesslich ein weiterer Mahdi dazugekommen Weil die Mahdi im Braldo-Tal etwa so häufig sind wie bei uns die « Meier » und « Müller », wurden die beiden von ihren Dorfgenossen aufgrund ihrer verschiedenen Körpergrösse und dementsprechend auch von uns als « big » und « little » Mahdi auseinandergehalten. Die fröhlichen und im allgemeinen zuverlässigen Burschen haben sich schon gut an uns gewöhnt, wie auch wir - unserer drei - ihre Eigenart und ihre Gewohnheiten zu kennen glauben.
Am späteren Vormittag des 14.Juli verlassen wil gemeinsam das Hauptlager und steigen zur « Biafo-Lücke », einem 200 Meter höher gelegenen Felseinschnitt, hinauf, um von dort über die hohe Seitenmoräne auf die Gletscheroberfläche zu ge- langen. Durch diese Lücke dürfte in früherer Zeit ein Seitenarm des Gletschers die Talsohle erreicht haben.
Das Gehen auf der fast ganz mit Schutt bedeckten Gletscherzunge ist während der ersten Stunden recht beschwerlich. Da keinerlei Weg existiert, haben unsere Leute bei früheren Aufstiegen nach Namla und Mango die günstigste Route zwischen den Löchern, Trichtern, Rinnen und Schuttbergen mit aufeinandergeschichteten Steinen markiert. Nur hie und da tritt fleckenartig das schmutzige, dunkle Eis an die Oberfläche. Zu unserer Freude scheint sich das Wetter stabilisiert zu haben; es ist gegen den Sommer hin auch in den Hochlagen zusehends klarer geworden. Die umliegenden Berge präsentieren ihre Gipfel jetzt oft ganze Tage ohne Wolkenhülle. Auf der rechten Seite liegt der mächtige, etwa 6300 Meter hohe Bullah bereits hinter uns. In direkter Verlängerung des Gletschers hinter uns, aber auf der anderen Seite des Braldo Rivers, erhebt sich der stolze Bakhor-Das. Obschon seine Spitze die 6000-Meter-Grenze nicht erreicht, ist er eindeutig der Eleganteste. Seine Gipfelpartie ist mit unvergleichlicher Kühnheit und Schärfe zweiseitig zugeschnitten. Der dem Laskam zugewandte Gipfelgrat erinnert an einen verlängerten und steiler aufgerichteten Bianco-Grat.
Während der letzten drei Stunden ist das Gehen angenehmer. Die harte, rauhe Eisoberfläche, die mehr und mehr von Schutt entblösst ist, bietet dem Tritt einen guten Halt. Erst bei Einbruch der Dunkelheit, nachdem wir unsere Lasten über die unwegsamen seitlichen Moränenwälle gebracht haben, treffen wir in Mango ein.
Vom ehemaligen Yak-Lagerplatz ist die Umrandung aus hellem, trockengemauertem Gneis-gestein gerade noch zu erkennen. Nahe dabei lässt sich auf einem sandigen, dürftig berasten Platz in ebener Lage das Zelt mühelos aufstellen. Unser Kamerad Geni Sahib will hier auf die Annehmlichkeiten des Zeltes verzichten; gleich den baltistanischen Gefährten hat er unter einem vorspringenden Felsen seinen Schlafsack hingelegt. Als auffälligste Spur haben die Hirten eine Art Steinhütte hinterlassen: der knapp mannshohe Raum, der durch einen weit überhängenden Felsblock vorgebildet war, ist am äussersten Rand durch lose aufgeschichtete Steine zugemauert worden. Ein Loch, das man bequem durchkriechen kann, ist die einzige Öffnung. Jetzt dient uns die Hütte als Lagerraum. Die zuerst hier deponierten Nahrungsmittel - einschliesslich Konserven und sogar Kanister - waren von Bären ausgeräumt worden. Vorsichtiger geworden, riegelten die Träger bei ihren künftigen Gängen die Öffnung mit schweren Steinblöcken ab. Wir Europäer bekamen leider nie Bären zu sehen, obwohl wir Spuren in Form von Fussabdrücken und frischem Kot überall, oft sogar nahe beim Zelt gefunden hatten.
Nach dem Genuss von viel Tee und Oxo-Bouil-lon erhalten wir im hellen Mondschein einen ersten Eindruck von der herrlichen Bergwelt. Mindestens 30 Kilometer im Norden erkennen wir in der sternklaren Nacht erstmals die imposante Schneekette des Ogre.
Die nächsten Tage widmen wir, vom sonnigen Wetter unterstützt, ganz der Feldarbeit. Gleichzeitig haben wir die Porter mit Traglasten nach Baintha weitergeschickt. Sie benötigen für den Hin- und Rückweg jeweils zwei Tage.
Der Gletscher im südöstlich ansteigenden Seitental von Mango ist bis gegen 4000 Meter hinauf zurückgeschmolzen. Die Expositionsunterschiede sind beispielhaft: auf der linken Seite Artemisien-Steppe bis 4100 Meter; am gegenüberliegenden Talhang, schon zuunterst bei 3650 Meter, üppigstes Weiden-Gebüsch. Die obersten Sträuchlein von Karelins Weide gehen bei 4200 Meter in blumenreiche Wiesen über. Diese dicht geschlossenen Rasen sind von jenen im Braldo-Tal nicht grundsätzlich verschieden; aber jetzt blüht alles prachtvoll, und weil das ganze Seitental seit zwei Jahren nicht mehr von Yak-Herden beweidet worden ist - vermutlich wegen des beschwerlichen Zuganges -, lassen sich die Arten leichter erkennen.
Baintha Nachdem die Arbeiten im Gelände am 18.Juli durch Regen behindert worden sind, brechen wir am folgenden Morgen auf nach Baintha. Was nicht unbedingt nötig ist, bleibt im Depot von Mango bis zu unserer Rückkehr; die Traglasten wiegen auch so noch an die 30 Kilogramm. Das Marschieren auf dem festen, aufgerauhten Eis gleicht dem Wandern auf einer guten Strasse. Der Gletscher ist hier dop- pelt so breit wie im unteren Teil; sein Oberflächenschutt ist nun zur Hauptsache in einigen Mittelmoränen zusammengefasst. So monoton die Eisstrasse im Grossen erscheinen mag, so reichhaltig erweisen sich die Formen im Kleinen. Am meisten beeindruckt sind wir von den vielen Typen und Grossen der Gletschertische. Für Hunderte und Tausende ist der « Grundstein » bzw. die « Tischplatte » gelegt; nur ganz wenige werden dereinst eine stattliche Grösse erreichen. Unter einem dieser Tische, der so gross ist wie ein kleines Haus und aus einiger Entfernung einem riesenhaften Steinpilz ähnelt, halten wir, vor Regen geschützt, Mittagsrast.
Mussin und die beiden Mahdi haben den Gletscher schon gleich am Morgen überquert, um hinter den Seitenmoränen einer unwegsa-meren, aber bereits erkundeten Route zu folgen. Am späten Nachmittag finden wir innerhalb der gleichen Stunde den vorgesehenen Lagerplatz.
Die ersten beiden Tage in Baintha sind nicht verheissungsvoll: fast ununterbrochene heftige Regengüsse drohen unsere Hoffnungen und die bereits getrockneten Pflanzen buchstäblich zu ertränken. An den abschüssigen, weiten Grashalden schräg über dem Lager, wo am Vortag eine Steinwildgruppe gesichtet wurde, fahren nun immer wieder mit rasender Geschwindigkeit, krachend und stäubend, Stein- und Felsblöcke bis zu den Moränen nieder.
Erst am 23.Juli erwachen wir unter einem tiefblauen, wolkenlosen Himmel. Die grossartige Szenerie, die sich uns in der klaren Luft mit dem vielen Licht darbietet, lässt uns die Sorgen der Vortage vergessen. Bald wird auch keiner mehr die ausgezeichnete Lage des Baintha-Gamps zwischen Seitenmoräne und Hangfuss auf 4000 Meter bemängeln.
Dank der abgelegenen und schwer zugänglichen Lage werden die Fluren von Baintha weder vom Menschen noch von dessen Tieren irgendwie genutzt. Unsere Leute aus Askole versichern erneut, dass nie Einheimische mit ihren Yak so weit heraufgekommen seien. Von der gänzlichen Unberührtheit der hübschen, grasreichen Umgebung sind wir indessen nicht ganz überzeugt. Wir haben in der Nähe spärliche Reste von Trockenmauern gefunden. Dieselben könnten zwar ebensogut von einer früheren Expedition herrühren; wir wissen es nicht. Sicher aber ist diese Gegend seit vielen Jahren vor dem Weidegang durch Haustiere verschont geblieben. Die Vegetation darf ohne Zweifel als « natürlich » angesprochen werden. Wie stark der Einfluss des nicht seltenen Steinwildes auf die Grasnarbe ist, werden die Vergleiche mit der sonst gleichen Vegetation im Braldo-Tal beweisen müssen. Eine zu starke Vermehrung der wild lebenden Weidetiere halten die hier vorkommenden Raubsäuger wie Bär, Schneeleopard und Wolf in Schranken.
Das Weidengebüsch besiedelt nur noch in lockeren, niedrigen Beständen die untersten Hangpartien am Eingang ins Seitental von Baintha. Um so schöner sind gleich darüber die üppigen und zu dieser Zeit bunt blühenden Wiesen mit Alatau-Schwingel ( Festuca alatavica ) und der Segge Carex tristis. In den ergiebigsten Rasen dominiert das hochwüchsige Schuppenried ( Kobresia schoenoides ). Von den europäischen Alpen her kennen wir unter anderen: Alpenrispengras ( Poa alpina ), durchwegs ohne Brutknospen; Dreigriff liges Hornkraut ( Cerastium cerastioides ), Grasblättrige Sternmiere ( Stellaria graminea ), Alpen-Wiesenraute ( Thalictrum alpinum ), Brut-Knöterich ( Polygonum viviparum ) und die weissen Glöckchen der Faltenlilie ( Lloydia serotina ). Wenige sind durch praktisch gleich aussehende, nächstverwandte Arten vertreten, wie das Alpen-Vergissmeinnicht durch Myosotis asiatica oder der zottige Mannsschild durch Androsace dasyphylla. Die Verbreitung der meisten Arten ist auf die zentralasiatischen Hochgebirge und die Arktis beschränkt.
Schneetälchenartige Rasen überziehen Hang-mulden in Nordlage oberhalb 4500 Meter. Grössere zusammenhängende Grasflächen finden sich an Südhängen bis über 4700 Meter. Von etwa 4850 Meter an aufwärts ist die Pflan- zendecke im allgemeinen nicht mehr geschlossen Einzeln wachsende Schutt- und Felspflanzen übersteigen an geeigneten Wuchsorten die Schneegrenze bei 5000 Meter immerhin beträchtlich. Den höchstgelegenen Hochgebirgsra-sen von etwa o Quadratmeter Fläche notiere ich zwischen Baintha- und Biafo-Tal auf 4960 Meter Meereshöhe. Unter den 15 niederwüch-sigen Blütenpflanzen fallen durch besondere Häufigkeit auf: Bors Segge ( Carex Born ), Altai-Hungerblume ( Draba altaica ), Himalaya-Edelweiss ( Leontopodium leotopodinum ), das zierliche Gras Colpodium himalaicum und das Seidenhaarige Fingerkraut ( Potentilla serìcea ).
Schon die zwei ersten Sonnentage haben im Hinblick auf die Arbeitsergebnisse einiges wettgemacht von dem, was uns in der Zeit des « grossen Regens » entgangen ist. Auch Freund Geri — von unseren Baltis als Bara Sahib angesprochen - ist guter Laune, hat er doch nahe der Schneegrenze alle erwarteten Frostboden-'formen gefunden.
Abstecher zum Hispar Pass Weil das schöne Wetter anhält, ist Mussin, unser jüngster Träger, am Morgen des 26.Juli mit mir im oberen Teil des Hauptgletschers unterwegs. Wir sind mit Proviant für etwa fünf Tage versehen und ausserdem für eine längere Eistour ausgerüstet. Wir haben die Absicht, den Biafo-Gletscher bis zu seinem oberen Ende am Hispar Pass zu begehen. Nach drei Tagen hoffen wir in Baintha zurück zu sein, um dort die Arbeit bis am i. August fortzusetzen.
Für Mussin ist das obere Eisgebiet so neu wie für mich. Möglicherweise ist die nordwestliche Hälfte schon mehrere Jahre nicht mehr von Menschen besucht worden. Der englische Oberst Godwin-Austen und W.M. Conway sind die ersten Erforscher des Biafo-Gyang. Sie haben sich noch im vorigen Jahrhundert um die Erschliessung des Karakorum grösste Verdienste erworben. E. Shipton und seinen Mitarbeitern verdanken wir eine schöne topographische Karte ( 1939 ) der Hispar-Biafo-Eisregionen. Conways Expedition hat bereits 1892 den Hispar Pass - vom Hun-za-Tal her - über den Hispar-Gletscher erstiegen und von dort aus über den Biafo Askole erreicht., Die in fast ungebrochener Linie zusammenhängenden Eisströme von Biafo und Hispar dürften — ausserhalb der Arktis — mit über 100 Kilometern eine der längsten Gletscherwanderungen ermöglichen! Was die Länge betrifft, steht der Biafo Gyang mit 68 Kilometern unter den ausser-arktischen Gletschern an dritter, in der Fläche verglichen, mit 625 Quadratkilometern, an vierter Stelle. Die Tatsache, dass die dem zentralasiatischen Trockengebiet benachbartesten Hochgebirge am stärksten vergletschert sind, mag zunächst rätselhaft erscheinen. Von den 41 Gletschern mit mehr als 130 Quadratkilometern Fläche entfallen nicht weniger als 24 auf den Karakorum, i o auf die nördlichen Nachbarn Pamir und Tien Schan und nur 4 auf den Himalaya. Die meisten Gletscher des hohen Himalaya sind an Areal sogar kleiner als der Aletschgletscher. Nebst den zahlreichsten grossen Eisflächen besitzt der Karakorum im Siachen, mit einer Fläche von i t 80 Quadratkilometern, den grössten Gletscher.
Nach zweieinhalb Stunden durchwandern wir ein Feld kleiner Eisberge: der Gletscher ist auf der ganzen Breite, aber nur wenige ioo Meter lang von bis 2 und 3 Meter hohen Eistürmchen übersät. Oberhalb der Zackeneis-Zone gelangen wir später in einen Abschnitt, der zum erstenmal stark von teilweise breiten und tiefen Spalten durchsetzt ist. Hier seilen wir uns an. Die nicht überspringbaren Eisschründe müssen umgangen werden, und weil es auf eine Strecke von etwa 2 Kilometern recht viele hat, wird unser Marsch stark behindert.
Im Vergleich zur Höhe von Baintha ist die Breite der Biafo-Eiszunge ungefähr gleich geblieben; die mittlere Breite misst in diesem oberen Teilstück etwa 5 Kilometer. Trotz der hohen Fünf- und Sechstausender, welche den langgestreckten, gewaltigen Eistrog seitlich begrenzen, erscheint das Tal weit und offen. Immer wieder münden neue Seitentäler ein, die nach oben hin kürzer und steiler werden und deren Gletscher jetzt mit dem Biafo-Eis verschmelzen. Die mit dem Feldstecher abgesuchten Felshänge lassen keinerlei Rasen mehr erkennen. Zusehends wird die Umwelt lebensfeindlicher. Es scheint, die Berge seien tiefer herab verschneit. Die Frage, wo wir den ersten Schnee auf dem Gletscher antreffen werden, erfüllt uns mit einer gewissen Sorge.
Nach Programm hätten wir das Zelt irgendwo auf der Firnebene zwischen Snow Lake und Sim Gang aufstellen wollen; zum bereits erlittenen Zeitverlust durch den stellenweise notwendig gewordenen Zickzackmarsch gesellt sich nun das Pech, dass der Schnee weiter herabreicht, als angenommen. Ausgerechnet dort, wo der letzte Anstieg zum grossen Firnfeld wieder stark von Spalten zerschnitten ist, tragen alle Vertiefungen an der Oberfläche eine trügerische Nassschneedecke. Mühsam, nur Schritt für Schritt mit dem Pickel sorgfältig sondierend, kommen wir zwischen den unsichtbaren, gefährlichen Spalten vorwärts. Wir entschliessen uns, das Zelt am Rande des tückischen Eises aufzuschlagen; es ist bald 6 Uhr, und Mussin hat einen strengen Tag hinter sich. Das « Aussteigen » auf die linke Seite erfordert grösste Vorsicht und viel Zeit. Durchnässt bis fast zu den Hüften, finden wir zwischen grossen Moränenblöcken in Nassschnee, aber auf Eisunterlage einen Zeltplatz.B.eim Abkochen bläst ein unangenehmer Gletscherwind. Die beiden folgenden Nächte sind für Mussin und mich insofern erwähnenswert, als es innerhalb von dreieinhalb Monaten die einzige Ausnahme sein wird, dass ein strenger Anhänger der islamischen Religion das Zelt mit einem Andersgläubigen teilt. Wir haben uns zwar stets ausgezeichnet verstanden, am wenigsten vielleicht durch die Sprache, die sich aus Brocken von Englisch, Urdu und Balti zusammensetzt!
Ein eisiger, klarer Morgen erwartet uns am 27. Juli. Schräg gegenüber, auf der andern Seite des Biafo-Gletschers, überfliegt der Blick das letzte grössere Seitental und endet in der schneeweissen Gipfelpyramide namens Chur. Der in Baltistan wohl anders ausgesprochene Name des knapp 6000 Meter hohen Berges erinnert mich an die Kapitale am oberen Rhein.
Das Gehen auf dem hartgefrorenen Schnee bei nur schwachem Gefälle ist nach den unerfreulichen Erlebnissen vom Vortag reiner Genuss. Im Eilmarsch streben wir - an namenlosen verführerischen Berggestalten vorbei — dem grossen Schneefeld zu. Hinter uns erkennen wir über den jetzt etwa 50 Kilometer langen Eisstrom hinweg, klein aber deutlich, die Berge des Braldo-Tales. Die Entfernung zur nächstgelegenen Siedlung von Askole beträgt an die 60 Kilometer.
Nach etwa zweieinhalb Stunden ist das nicht enden wollende Firnfeld durchquert. Wir haben ungefähr die Stelle erreicht, wo das Zelt hätte aufgestellt werden sollen. Eine Landschaft von erhabener Grossartigkeit, wie wir sie bisher weder erlebt noch uns vorgestellt haben, öffnet sich hier. Gross ist die Zahl an vereisten und mit Schnee bedeckten Berggipfeln, von denen viele eine Höhe zwischen 6000 und 7000 Meter erreichen. Diese umrahmen die beiden grossflächigen Firnfelder, welche als Hauptnährgebiet des Biafo Gyang gelten. Der zuerst nach Norden und dann östlich ausgebreitete Snow Lake - von den Einheimischen Lukpe Lawo genannt — führt seinen Namen zu Recht. Die Fläche dieses Firnsees misst mindestens 65 Quadratkilometer; gegen die Mitte zu scheint er — im Vergleich zu unserem Standort am Südende - leicht vertieft zu sein. Noch grossartiger ist die Wirkung, die vom östlichen Schneefeld des Sim Gang ausgeht. Die passartigen Einschnitte am Ostrand, vom Sim La bis zum Lukpe La, dürften mehr als 20 Kilometer entfernt sein. Eine alle anderen überragende Kette schliesst den Südosten des ausgedehnten Eis- und Schneebeckens ab. Da ist der von Shipton für unbesteigbar gehaltene Ogre. Schroff und abweisend fällt die stark vergletscherte Nordflanke aus einer Höhe von 7285 Meter zur Ebene des Sim Gang ab. Eindrucksvoll ist aber allein schon die gross- t Gipfelpartie des Bakhor Das {ca. 5820 m ), vom Laskam aus 2Blick über den unteren Teil des Biafo-Gletschers nach SSE. Gletscherbreite im Vordergrund etwa.
3Im « Zack eneis » des Biafo-Gletschers, etwa 6 km nordwestlich Baintha Photos Hans Hartmann. Küsnacht/ZH zügige Weite der durch den Neuschnee das Licht blendend weiss reflektierenden Firnebene.
Ich erinnere mich der « merkwürdigen Beobachtung » Tilmans, eines Mitgliedes der von Shipton geleiteten Shaksgam-Expedition 1937, der im Snow Lake auf die Spur des « Schneemenschen » gestossen war. Die wie in einer Vogelspur gerade hintereinander angeordneten Fussstapfen hatten einen Durchmesser von 20 Zentimetern. Für die Sherpa-Träger bestand kein Zweifel, dass es sich dabei um den « Yeti » handelte, von dessen kannibalischen Ernährungsgewohnheiten sie überzeugt waren. Nach Tilman war es keinesfalls die Fährte irgendeines BärenEs steht ausser Frage, dass die nächsten Grasplätze im Umkreis von mindestens 25 Kilometer gesucht werden müssen; auch lebt in der Nähe kein Wild. Trotzdem ist das sporadische Vorkommen von S' elenare.tos tibetanus nicht ganz auszuschliessen. Von dieser vorzüglich an das Hochgebirge angepassten Bärenart sind ähnliche Wanderungen in abgelegenen Schnee- und Eisgefilden aus Tibet und dem Himalaya bekannt geworden.
Wir beabsichtigen, den mächtigen Schrunden am östlichen Anstieg zum Hispar Pass links auszuweichen, müssen aber aufpassen, dass wir nicht in den Einflussbereich der Lawinenhänge geraten. Das Aufsteigen nahe der 5000-Meter-Linie wird bald mühsamer, denn die Sonne hat unterdessen den Schnee stark aufgeweicht. Bei jedem Schritt versinken wir bis über die Knie; die Sonne brennt bei völliger Windstille, und wenige langsame Schritte bringen uns bereits ausser Atem. Es gilt einige Willensschwächen zu überwinden. Die letzten Spalten werden auf massiven Schneebrücken überquert; das Gelände wird flacher, der Schnee wieder tragfähiger. Eine halbe Stunde nach Mittag erreichen wir den breiten, plateauartigen Hispar Pass auf 5150 Meter.
Erneut vermögen uns neue, grossartige Land-schaftskulissen nachhaltig zu beeindrucken. Von dieser Stelle aus ist beinahe der ganze Sim Gang zu überblicken; der jetzt von Wolken be- freite Ogre hat aus dieser Sicht etwas von seiner Schroffheit verloren. Nicht viel weiter hinten erscheinen die Grenzberge zwischen China und Pakistan. Das Wasser jenseits der Scheide wird über den Yarkand dem Wüstengebiet der Takla Makan in Sinkiang zugeführt. Mein Seilgefährte aus Askole hat jedoch keine Ahnung, wer seine Nachbarn im Norden sind! Meine Versuche, die Grenzverhältnisse zu erläutern, würdigt Mussin mit einiger Neugier; von irgendwelcher Verwunderung oder Überraschung ist aber keine Rede!
In der entgegengesetzten Richtung, nach Westen, schweift unser Blick weit ins Tal der Hunza hinaus. Das von Moräne bedeckte Ende des Hispar-Gletschers ist deutlich erkennbar. Viel weiter talauswärts erscheinen im blauen, dunstigen Hintergrund die Berge des Hunza-Tales als Horizont. ( Vermutlich gehören die äussersten, nicht mehr scharf gezeichneten Berggruppen bereits zum Hindukusch. ) Zwei volle Stunden geniessen wir die absolute Stille einer erhabenen, nun schon etwas vertrauten Bergwelt. Noch deuten keinerlei Anzeichen auf das Nahen eines Sturms, der uns in der Nacht unten im Zelt überraschen wird...