Erlebnis Chalchschijen
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Erlebnis Chalchschijen

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON EUGEN BENDER, BASEL

Mit 3 Bildern ( 81-83 ) Er hängt über meinem Bett, der Chalchschijen, eine prächtige Farbaufnahme aus einem Wandkalender, in einem schmucken Wechselrahmen.

Der Schöpfer dieses Bildes hat sein Stativ unten im Maderanertal aufgestellt, am Fusse des Hüfigletschers, und was hat seine Kamera nicht alles eingefangen! Über allem thronen die Gipfel der Chalchschijen, erwärmt vom Strahle der untergehenden Abendsonne. Nur noch kurze Zeit, bald werden sie sich niederlegen und zu kaltem, leblosem Fels und Eis erstarren. Noch springt munter ein silberner Quell ans Tageslicht und stürzt als tosender Sturzbach über die rot aufglühende Wand. Er ist umschmeichelt von einem kleinen Regenbogen, der sich im übermütigen Wasser verfängt. Doch bald erlischt auch dieses Farbenspiel, und übrig bleibt ein eisiger Wasserstrahl und das grosse, das ferne und nahe, das ewige Rauschen!

Wir stehen vor der Hüfihütte, Albin und ich. Wir sind die einzigen Hüttenbesucher an diesem 2. Oktoberwochenende, wir sind allein mit der Hütte, mit den umliegenden, schwarzen Bergriesen, die bald unheimlich drohend, bald wohlwollend und lockend ihre Runde stehen, allein mit den schweigenden Gletschern, die in ihren gewaltigen Schrunden jahrtausendealte Geheimnisse hüten, allein mit dem klaren Sternenhimmel - und dem Chalchschijen.

Albin, der hier in diesem Tale seine Sommerferien verbrachte, hat mich für seinen Plan begeistert. So sind wir denn am Freitagabend in Basel auf unsere Velos gesessen, während der Nacht nach Amsteg geradelt und haben den langen Hüttenweg unter die Füsse genommen Er schien uns besonders lang heute.

Der nächste Tag brachte uns volle Erfüllung. Eine strahlende Sonne lachte uns den ganzen Tag entgegen, und nirgends war ein Wölklein, das sie hätte trüben können.

Das war meine erste Begegnung mit dem Chalchschijen.

Im hintersten Winkel des Maderanertals steht der Chalchschijen mit seinem von sechs Spitzen gebildeten Gipfelgrat, seiner langen, überhängenden, glatten, ausgewaschenen, ca. 300-400 m hohen Westwand, seiner freundlicheren Ostwand und seinem ca. 700 m hohen Südaufschwung. Dieser letztere war Ziel unserer Fahrt.

Bergführer Zgraggen hatte uns allerdings nicht ermutigt, als wir in seinem gastlichen Wirtshaus in Bristen anklopften. Wenn er hätte sehen können, was unser Rucksack so trefflich verbarg! Seil, Haken, Karabiner, Trittschlingen, Proviant für einige Tage. Und wir hatten vor allem Zeit. Wir hatten Ferien, konnten unser Zelt zu Füssen des Berges aufschlagen und ihn belagern, hatten frohen Mut. Was konnte da noch schief gehen? So dachten wir und schritten den Windgällen hüttenweg hinan.

Immer weiter entfernen wir uns vom lieblichen Golzernseelein, immer kleiner werden die Zelte, die sich nun wie ein Kranz weisser Punkte um das Wasser drängen, immer schwerer drücken uns unsere Begleiter, die hochgetürmten Rucksäcke.

Von der Staffelalp aus grüssen wir die Windgällenhütte. Unser Ziel aber liegt ganz hinten, dort, wo die gleichmässige Pyramide des Düssistocks steht und seine Felskante im Tal verschwindet. Dorthin müssen wir gelangen, noch ehe die drohenden Gewitterwolken das ganze Tal eingehüllt und uns eingeholt haben. Noch scheint die Sonne heiss und drückend. Noch zeigt sich die grosse Windgälle ohne Nebel, noch glitzert der Schnee am Gipfel des Oberalpstocks; aber in den Südwänden des Gwasmet, Pucher und Gross Ruchens hängen bereits schwarze Wolken, und unheimlich düster schauen die Alp-Gnof-Stöcke auf uns herab. Wir schlürfen unsere Milch, die wir vom Älpler auf der Alp Gnof erhalten. Dann steigen wir weiter über den Schwarzipfad. Steil quert dieser über einen Grashang unter schwarzen, nassen Felsen, die manchmal wie gewaltige Dächer hervorragen und dann wieder in steile Runsen sich zurücklegen. Durch jede dieser Runsen fliesst ein Wässerlein, jedes auf seine Art; eines in einer engen Rinne, das andere im munteren Satz über die Felsstufe. Überraschend steht man am Ende des Pfades, nach der letzten Biegung, vor dem Chalchschijen, der sich wie eine Riesenstatue, aus Marmor gehauen, vor einem auftürmt. Schon dieser Anblick ist eine Tour wert!

Nur sollte man dabei mehr Glück haben, als es uns zuteil wurde, und nicht seinen Rücken mit Lasten beladen, die einem Kuli zu Ehren gereicht hätten, und schöneres Wetter aussuchen, als es uns beschert war. Bei Regen stellten wir unser Zelt auf. Bei Schneefall und Kälte brachen wir dieses anderntags wieder ab. Enttäuscht traten wir den Heimweg an.

Und wir hatten mehr Glück das nächste Mal, wenigstens ein bisschen mehr, als wir den Chalchschijen wieder angingen. Aber schon die Einstiegsplatte, wo wir doch noch beinahe vor Spannung und Tatendrang zitterten, vermochte uns zu bremsen und schon in der zweiten Seillänge, als ich den Kopf hob und immer steilere Platten und Wülste über mir aufgetürmt sah, begann ich am Gelingen unserer Tour zu zweifeln. Um so freudiger begrüssten wir einen Riss-Kamin, der uns den Weg öffnete. Behende turnten wir hinauf und achteten des nahenden Gewitters nicht, bis es sich mit furchtbarem Donnerschlag plötzlich meldeteEin Tosen und Dröhnen! Ich drücke mich tiefer in den Spalt, halte das Seil fester. Steinschlag tritt hinzu, recht unangenehm zum rasch eintretenden Wetterumbruch. Dies war die erste brüchige Seillänge, und zugleich auch die letzte dieses Tages, denn kurz darauf hatte uns das Schicksal erreicht. Es kam in Form von dicken Wolken, die in kurzer Zeit mit ihren schweren, immer dichter fallenden Tropfen die hellen Kalkplatten wie mit dunkelgrauer Farbe tünchten.

Der Rückzug ist kurz erzählt: Abwarten unter dem Biwaksack. Dann einhängen einer Seilschlinge in einen sichern Haken, um diese « Bruchstelle » bei einem späteren Versuch leichter überwinden zu können, und abseilen längs dem ganzen Weg des Aufstiegs. Wir nahmen Abschied vom Berg.

Der nächste « Ansturm » endet aus dem gleichen Grunde schon beim Einstieg, und von ihm habe ich nichts zu berichten, es sei denn - das Biwak.

Wer noch kein Biwak erlebte, weiss nicht, was eine Bergnacht ist. Und wer erst in einer Felswand sein Biwak aufschlagen musste, der weiss, was eine Bergnacht ist! Als Wände seines Schlafzimmers stehen Fels und Eis, als Lager dient die Erde, über sich liegt die Unendlichkeit des nächtlichen Himmels und ringsum summen die fallenden Wasser das Wiegenlied. Wenn eine Sternschnuppe über das Firmament gleitet, wenn uns eine lautlose Stille umgibt, wenn ein Eisbruch donnernd und polternd in die Tiefe fällt, dann wissen wir uns mitten in der Urnatur und fühlen uns als einen Teil derselben, einen winzig kleinen, verschwindenden Teil in ihr.

Wir sind das vierte Mal am Werk. Heute haben wir keinen Wetterumsturz zu befürchten. Aber etwas anderes beunruhigt uns. Eine ca. 30 m hohe Wand versperrt uns den Weg und scheint uns jede Hoffnung auf ein Weiterkommen zu nehmen.

Ein feines Hakenrisschen hat uns genarrt, das erst aus der Nähe sich als kompakten, abwärtsgeschichteten Fels entpuppt. Albin versucht sein Glück einige Meter weiter links, dieweil ich auf einem bequemen Grasband warte. Es ist ca. 10 Uhr morgens. Wie schon das letzte Mal haben wir am östlichen Ende des Schwarzipfades biwakiert; das im Frühling dort aufgeschichtete Gras hatte sich inzwischen zu duftendem Heu verwandelt und uns als Unterlage zu einem gesunden Schlaf gedient. Vom Einstieg bis hierher, in ca. 200 m Pfeilerhöhe, habe ich nicht viele Eindrücke mitgebracht; eine Holzkeilschlinge ist zerrissen, eine Trittschlinge haben wir vergessen und dergleichen, Kleinigkeiten, die übertönt werden von der Freude, vorwärtszukommen.

« Noch drei Meter », rufe ich zu Albin hinauf, und « nachkommen » tönt die Antwort zurück. Der Fels hält mich wieder gefangen. Meine Aufgabe ist es, die so mühsam geschlagene Hakenleiter abzubauen, denn vielleicht können wir die Haken weiter oben noch gut gebrauchen. Die meisten kann ich schon nach einem kurzen Ruck in die Tasche stecken, einige wenige, standhafte aber lassen sich trotz längerer Bearbeitung mit dem Hammer nicht entfernen. In leichterem Ge- lande gewinnen wir wieder rasch an Höhe, und um die Mittagszeit sitzen wir oberhalb des unteren Steilaufschwungs auf der Gratschneide. Wir versuchen einen kleinen Imbiss zu nehmen, aber die richtige Musse hiezu fehlt. So klettern wir bald weiter, manchmal zu zweit, über das luftige Zwi-schengrätchen an den Fuss des oberen Pfeileraufschwungs. Wir wissen, dass wir jetzt die letzte Biwakmöglichkeit verlassen! Doch wer denkt schon an Biwak um 2 Uhr nachmittags, auch wenn es September ist und die Dämmerung schon sehr früh hereinbricht! Vorläufig scheint ja die Sonne noch, ja sie brennt auf uns nieder, als wolle sie uns noch die nötige Wärme mitgeben für die nächste Nacht. Hier am oberen Steilaufschwung ist das Klettern ein Genuss; ein rauher, griffiger, fester Kalkfels erlaubt ein freies Gehen und gibt uns wieder neuen Auftrieb. Immer freut sich der Zweite auf die nächste Seillänge, die er führen darf, denn gleichzeitig darf er seinen Kameraden den schweren Rucksack anvertrauen, aufbürden! Er hat noch etliche Male seinen Träger gewechselt, bis wir den Gipfel betreten. Es ist dunkel, kein Rundblick tut sich auf! Längst ist die Sonne untergegangen, die Berge haben ihr Sonntagsgewand abgestreift und stehen ringsum in tiefer Nacht und Stille. Nicht einmal der Mond scheint ihnen zum Schlafe.

Wir sitzen, eng beisammen auf dem Gipfel, jeder seinen Gedanken verfallen. Lauschen der Stille. Nur ungern erheben wir uns wieder und tasten uns auf dem Normalweg durch die schwarzen Risse und Platten zum Geröllfeld hinab. Hier finden wir einen guten Biwakplatz.

Gibt es etwas Schöneres, als an einem sonnenverklärten Morgen zu Tale zu steigen! Nach einer wohlgelungenen Bergtour, nach einem Tag der Spannung und des grossen Erlebens. Wohltuend und friedlich klingt das Gebimmel der weidenden Kühe, leuchtet uns das Grün der Weiden entgegen, spiegelt das klare Wässerlein, das über den Weg rieselt, die Berge, Schnee, den blauen Himmel in allen Farben wieder. Und die Bächlein auf der andern Talseite, vier, sechs, sieben, wie Silberfäden, ziehen sie ihre Spur durch graue Moränen, grüne Wälder, in den grossen Bach, der sie alle sammelt und vereint. Schon treffen wir die ersten Leute an. Sie grüssen uns freundlich. Bei der Golzern-bahn warten Ferienreisende und Touristen. Wir sind übervoll von Eindrücken. Wir fahren heimwärts.

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