«Es braucht eine Trendwende»
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«Es braucht eine Trendwende» Werner Bätzing über aussterbende Täler, wachsende Agglomerationen und das Verschwinden der Alpen

Seit den 1970er-Jahren führt die Weitwanderroute GTA durch die abgelegenen Täler des Piemonts. Ziel: die schleichende Entvölkerung der Bergtäler mit sanftem Tourismus zu stoppen. Der deutsche Alpenforscher Werner Bätzing engagiert sich seit 1985 für das Projekt.

Herr Bätzing, Sie setzen sich seit 30 Jahren für die GTA ein. Was haben Sie sich von dem Projekt erhofft?

Ziel war es, neue Impulse in einer Alpenregion zu geben, die sich entsiedelt hatte und in der es keine Impulse gab. Vorbild waren die französischen Weitwanderwege. Es stellte sich aber schnell heraus, dass Weitwandern in Italien weniger populär war. Ich habe deshalb früh angefangen, im deutschen Sprachraum für das Projekt zu werben. Die Deutschen sorgten dann für eine kontinuierliche Nachfrage – andernfalls hätte man die GTA nicht aufrechterhalten können.

Wirklich gestoppt wurde die Abwanderung dadurch nicht. Dörfer wie Rimella sind doch so gut wie ausgestorben. Hat die GTA überhaupt gefruchtet?

Sie hat durchaus gefruchtet. Aber man kann sich von einer GTA nicht erhoffen, dass sie als einzige Struktur eine ganze Alpenregion belebt, das wäre unrealistisch. Tourismus soll auch keine Monostruktur sein, und in dieser Beziehung war die GTA sehr erfolgreich: Es ist verhindert worden, dass fremde Investoren einsteigen. Die GTA ist nach wie vor in den Händen der Einheimischen.

Während sich die Südalpen entvölkern, wird auf der Nordseite immer noch viel in Infrastruktur investiert – aber sind immer neue Erschliessungsstrassen und Seilbahnen besser für die Natur?

Natürlich sind neue Strassen und Lifte keine Lösung, aber die Situation ist in allen Alpenländern unterschiedlich. Die beste Lösung hat man meiner Meinung nach in Österreich gefunden.

Ist das ihr Ernst? Skigebiete wie jene im Ötztal gelten als Extrembeispiele für Massentourismus.

Es gibt in ganz Österreich nur acht Tourismusgemeinden mit mehr als 10 000 Betten, davon sind einige wenige dank ihres «Ballermann-Images» extrem bekannt. Aber das darf nicht davon ablenken, dass in Österreich dezentrale Strukturen am besten erhalten sind.

Die Gefahr ist in der Schweiz grösser?

Sie haben in der Schweiz eine intensive Diskussion über die «alpine Brache», über die Frage, ob man abgelegene Täler nicht gänzlich sich selber überlassen will. Derart ausgeprägte Positionen finden Sie in keinem anderen Alpenland. Noch will eine Mehrheit die Strukturen im Berggebiet erhalten. Aber was, wenn das plötzlich kippt?

Sie warnen davor, dass sich die Alpen zwischen Verstädterung und Abwanderung auflösen und die spezifische alpine Identität und Landschaft verloren gehen. Was wäre daran so schlimm? Hat es jemals eine alpine Identität gegeben?

Ich sehe die Gemeinsamkeit der Menschen im Alpenraum in ihrem Umgang mit der alpinen Natur. Es gibt hier eine alpenspezifische Art und Weise des Wirtschaftens und Lebens. Die Menschen wissen, dass ihr Wirtschaften unmittelbaren Einfluss auf die Natur hat: Naturkatastrophen sind hier viel präsenter als im Tiefland. Man versucht deshalb nicht nur, die Landschaft pfleglich zu nutzen, sondern auch, sie gezielt zu stabilisieren. Das ist sehr nachhaltig und ein Kulturerbe der Alpen, das für ganz Europa ein wichtiges Beispiel sein kann.

Wenn sich die Agglomerationen in den Alpenraum ausbreiten, kann das auch den abgelegenen Dörfern nützen. Was ist schlecht daran, wenn Leute in der Stadt arbeiten und Bergdörfer als Feriendomizil nutzen?

Ich möchte nicht, dass ausseralpine Agglomerationen viel Geld in die Alpen pumpen und sie dann nach ihren Vorstellungen umbauen. Dann werden die Alpen von aussen abhängig. Ich möchte, dass die Nutzung der alpinen Ressourcen so viel Ertrag bringt, dass die lokale Bevölkerung davon leben kann.

Von Landwirtschaft und Tourismus?

Nicht nur. Wichtig ist, dass auch höherwertige Infrastrukturen dezentral im Gebirge angesiedelt werden. Italien hat Aussenstellen von Universitäten in kleinen Alpengemeinden angesiedelt, um Innovationen zu fördern. Es ist nicht gut, wenn sich die ganze Infrastruktur in den grossen Alpenstädten konzentriert. Es braucht Innovation, und die bedingt, dass man mit Selbstverständlichkeiten bricht. Das kann zum Beispiel heissen, dass die Einheimischen die Berge für eine Ausbildung verlassen und danach mit neuen Impulsen in ihr Tal zurückkehren. Oder dass Städter in die Berge kommen und sich mit den Besonderheiten der Alpen auseinandersetzen. Dafür braucht es die entsprechenden Jobs in den Alpen. Wer immer am selben Ort bleibt, wird wenig Innovation entwickeln, wer für immer weggeht, hilft der Region nicht weiter.

Lässt sich der Trend hin zu Abwanderung und Zentralisierung überhaupt noch aufhalten? Wie sehen Sie die Zukunft des Alpenraums?

Es braucht eine Trendwende. Die ist möglich, aber die Wahrscheinlichkeit ist eher gering. Auf der anderen Seite mehren sich seit einigen Jahren die Anzeichen dafür, dass unser globalisiertes System in Krisen gerät. Es scheint nicht mehr unvorstellbar, dass es plötzlich kollabiert. Vor diesem Hintergrund erhält die Diskussion über die Zukunft der Alpen eine ganz andere, neue Dimension.

Werner Bätzing

Werner Bätzing (1949) gilt als einer der profiliertesten Forscher im Alpenraum. Zunächst hatte er Theologie und Philosophie studiert. Weil er sich mit dem Christentum nicht mehr identifizieren konnte, schloss er danach eine Buchhändlerlehre ab. Kurz darauf entdeckte er in denpiemontesischen Bergen sein Interesse für die Alpen. Er studierte Geografie, promovierte in Bern und wirkte dann als Professor für Kulturgeografie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Seit seiner Emeritierung 2014 konzentriert er sich voll und ganz auf die Erforschung der Beziehung von Mensch und Natur in den Alpen.

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