Ewiges Geheimnis der Eismassen
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Ewiges Geheimnis der Eismassen 140 Jahre Gletscherbericht

Im Jahr 1880 wurde der erste Gletscherbericht veröffentlicht. Seit damals ist rund die Hälfte der Gletscherfläche in der Schweiz verschwunden. Die Methoden zur Erfassung der Veränderungen sind im Kern dieselben geblieben.

Seit Jahrhunderten regen die Findlinge, verstreut im gesamten Alpenraum, die Fantasie der Menschen an. In Sagen waren es Kobolde, Riesen oder der Teufel, die die Felsblöcke an andere Orte gebracht haben sollen. Später führten Gelehrte deren Verbreitung auf die Sintflut zurück. Und obwohl die Vorstellung einer einzigen Flut immer mehr ins Wanken geriet, waren andere Überlegungen zu möglichen Transportmitteln der Findlinge nicht minder abenteuerlich: zerstörerische Erdbeben, Vulkanausbrüche und Explosionen.

Ausgehend von den Ideen seiner Vorgänger warb der schottische Mathematiker und Geologe John Playfair zwar für die Eiszeittheorie: «Für die Bewegung grosser Felsmassen sind zweifellos Gletscher die kraftvollsten Maschinen der Natur», schrieb er in seinem 1802 erschienenen Werk. Doch erst über 70 Jahre später ging diese Theorie in die Lehrbücher ein.

Der Siegeszug der Eiszeittheorie weckte die Neugierde von Schweizer Naturforschern. Sie wollten die Mechanismen verstehen, die den Gletschervorstössen und -rückzügen zugrunde liegen, und begannen mit der minutiösen Beobachtung der Gletscherstände. Dokumentiert wurde dies fortan in den Gletscherberichten. Der erste erschien im Jahr 1880 in der Zeitschrift L’Echo des Alpes, dem Organ der französischsprachigen SAC-Sektionen. Seither sind 140 solche Berichte zum Stand der Schweizer Gletscher veröffentlicht worden (siehe Kasten Seite 55).

«Diese detaillierte und über so lange Zeit lückenlose Erfassung von Gletschern ist weltweit einzigartig», sagt Matthias Huss, Glaziologe an der ETH Zürich. Der 42-Jährige, selbst passionierter Bergsteiger, leitet auch das Schweizerische Gletschermessnetz Glamos. Unter anderem auf dessen Daten stützt sich unser Verständnis davon, wie Gletscher auf die Klimaänderung reagieren.

Gletscher geben uralte Messstangen frei

Das Messnetz Glamos umfasst alle Gletscher der Schweiz, rund 1400 sind es an der Zahl. Auf etwa 20 Gletschern vermisst das Team um Huss zweimal pro Jahr, wie sich die Eismassen verändert haben – Massenbilanz nennt sich dies in der Fachsprache. Dazu bohren die Glaziologen im Herbst mehrere Meter tief ins Eis, um Messstangen in die Bohrlöcher zu setzen, sogenannte Pegel. Dadurch lässt sich jeweils im Frühjahr bestimmen, wie viel Schnee sich über den Winter abgelagert hat und wie viel bis im Herbst wieder geschmolzen ist.

Die längsten Messreihen der Massenbilanz reichen zurück bis ins Jahr 1914. Zwar hat die Zahl der untersuchten Gletscher zugenommen, aber: «Die Messmethoden sind seither grösstenteils dieselben geblieben», sagt Huss. Auf dem Claridenfirn sowie auf dem Silvretta- und dem Grossen Aletschgletscher platziert man die Pegel noch immer genau an den gleichen Stellen wie vor einem Jahrhundert. «Und wir finden ab und zu wieder alte Stangen, die der Gletscher einst geschluckt hat und nun wieder freigibt», erzählt der Glaziologe.

Eine möglichst gleichbleibende Methodik sei wichtig, um die Daten über Jahrzehnte sinnvoll miteinander vergleichen zu können. Trotzdem würden auch neue Techniken in die Gletscherbeobachtungen einfliessen, um ein möglichst gesamthaftes Bild der Gletscherwelt zu erhalten. Dazu gehören unter anderem Luftbilder und Höhenmodelle.

Längenänderungsmessungen seit 1880

Zusätzlich zur Massenbilanz wird jährlich erfasst, ob die Gletscherzunge vorstösst oder sich zurückzieht. Diese Messreihe läuft seit 1880 an rund 100 Gletschern schweizweit. Ins Leben gerufen wurde sie vom Arzt und Naturforscher François-Alphonse Forel und vom damaligen Oberforstinspektor und Kartografen Johann Wilhelm Coaz.

«Für glaziologische Fragestellungen hat man allerdings erkannt, dass diese Daten schwierig zu interpretieren sind», erklärt Huss. «Denn die Gletscherzunge reagiert zeitlich verzögert und gedämpft auf die Witterungseinflüsse. Sie zeigt nur die langfristige Veränderung des Klimas.» Trotzdem seien die Messungen dank ihrer zeitlichen Länge und Vollständigkeit für die Wissenschaft sehr wertvoll.

Messung mit Zukunft auf dem Grossen Aletschgletscher

Die Veränderung des gletschergeprägten Landschaftsbilds beobachtet Huss seit nunmehr zwei Jahrzehnten, auf einigen Gletschern war er schon über 50-mal. Langweilig werde es ihm deshalb aber nicht. «Es ist gewaltig, wie schnell sich alles verändert und wie anders es jedes Mal aussieht», sagt er.

Dass diese Veränderungen dem Klimawandel zuzuschreiben sind, ist inzwischen gewiss. Und wie die jüngsten Gletschermessungen zeigen, haben nicht einmal der schneereiche Winter und der kühle Sommer im letzten Jahr zu einer merklichen Erholung der Gletscher beitragen können – sie haben weiter an Volumen eingebüsst. Bläst die Menschheit weiterhin so viel Treibhausgas in die Luft wie bisher, dürften die Alpen bis Ende des Jahrhunderts praktisch eisfrei sein, wie aus einer im Fachmagazin The Cryosphere veröffentlichten Studie aus dem Jahr 2019 hervorgeht.

Um die Gletschermessungen und damit die inzwischen 141-jährige Reihe von Gletscherberichten dennoch so lange wie möglich fortführen zu können, haben Huss und sein Team in den letzten Jahren die Beobachtungen auf dem Grossen Aletschgletscher intensiviert. «Selbst in einem Extremszenario bleibt dort noch Eis für mehrere Generationen von Glaziologen, um die Messreihe aufrechtzuerhalten», prognostiziert Huss.

SAC und Gletscherbericht: eine enge Verbundenheit

Wenn es darum geht, die Ergebnisse der Gletscherberichte der Öffentlichkeit näherzubringen, spielt der SAC seit je eine tragende Rolle. Die ersten zwei Berichte, verfasst vom Schweizer Arzt und Naturforscher François-Alphonse Forel, erschienen 1880 und 1881 im Echo des Alpes, dem Organ der französischsprachigen SAC-Sektionen. Fast 90 Jahre lang wurden die Berichte anschliessend in den Jahrbüchern des SAC veröffentlicht.

Seit den 1970er-Jahren erscheinen sie als separate Publikation der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT). «Die Alpen» enthielten immer eine Zusammenfassung, die ab 2005/06 mit den anderen Komponenten der Schweizer Kryosphäre – Schnee und Permafrost – ergänzt wurde. Ab 2022 wird die Zusammenfassung neu auf sac-cas.ch erscheinen, während «Die Alpen» den Fokus jeweils auf einen besonderen Aspekt der Kryosphäre richten.

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