Francesco Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux
Peter Streuli. St. Gallen
Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux ( 1 g 12 m ü. M. ) in der Provence ist in die Geschichte des Alpinismus eingegangen, und zwar erstens, weil Petrarca, ein Mensch des die Berge fürch-tenden Mittelalters, sie nicht aus Zwang, sondern aus Unternehmungslust und Naturliebe wagte, und zweitens, weil er sie in einem Brief an Dionysius aus Borgo di San Sepolcro ( nahe bei Arezzo ) eingehend beschrieben hat. Lassen wir daher Petrarca in der Übersetzung des erwähnten, lateinisch abgefassten Briefes persönlich die Erlebnisse schildern:
« Franciscus Petrarca lässt Franciscus Dionysius aus Borgo di San Sepolcro bestens grüssen. Heute habe ich den höchsten Berg dieser Gegend, den man nicht zu Unrecht ,den Windi-gen'nennt, bestiegen, allein von der Begierde getrieben, die berühmte Höhe des Ortes zu sehen. Viele Jahre lang hatte ich diese Besteigung im Sinne.Von früher Kindheit an habe ich mich nämlich, wie du weisst, an diesen Orten aufgehalten, da das Schicksal die Lage der Menschen ändert '. Dieser Berg, von überallher sichtbar, liegt fast immer vor den Augen, Endlich ergriff mich das Verlangen, einmal zu tun, was ich täglich tun wollte, vor allem, nachdem mir am Vortage bei der Lektüre der römischen Geschichte des Livius2 zufällig jene Stelle begegnete, wo Philipp, der König von Makedonien, welcher mit dem römischen Volk Krieg führte, den Haemus, einen Berg in Thessalien, bestieg... Aber als ich nach einem Gefährten Ausschau hielt, da schien mir - eigenartig zu sagen - kaum einer der Freunde in allen Teilen geeignet; so selten ist, auch unter Freunden, jene genaue Übereinstimmung von allen Wünschen und Gewohnheiten...
Schliesslich wandte ich mich der Hilfe von zu Hause zu und eröffnete meinem einzigen Bruder, welcher jünger ist und den du ziemlich gut kennst, mein Vorhaben. Nichts hätte er lieber hören können, und er fühlte sich glücklich, bei mir die Stelle eines Freundes und Bruders zugleich einzunehmen.
Am festgesetzten Tag brachen wir von zu Hause auf und kamen gegen Abend nach Ma-laucène3; dieser Ort liegt am Fusse des Berges, gegen Norden. Dort verweilten wir einen Tag lang. Heute endlich bestiegen wir mit einigen Dienern den Berg, nicht ohne grosse Schwierigkeit. Er ist nämlich eine schroffe und fast unbe- 1 Petrarcas Familie war aus Florenz verbannt. Vgl. unten.
2 T. Livius, Ab urbe condita 4o, ai.
3 Maialicene liegt etwa 4o Kilometer von Avignon entfernt.
steigbare Masse von Kalkstein. Aber von einem Dichter4 wurde gut geschrieben ,Rastlose Arbeit besiegt alles. ' Die Bergsteiger, hatten einen langen Tag, angenehmes Klima, Energie der Seele, Stärke und Geschicklichkeit des Körpers und was dergleichen mehr ist. Einzig die Beschaffenheit des Berges lag uns im Wege. Wir fanden einen hochbetagten Hirten in den Tälern des Berges, der uns mit viel Worten von der Besteigung abzuhalten versuchte, indem er sagte, er sei vor 50 Jahren aus derselben Begeisterung des jugendlichen Gemütes heraus auf den höchsten Gipfel gestiegen und habe von dort nichts zurückgebracht ausser Reue, Mühsal und einen von Felsen und Dornsträuchern zerrissenen Körper und Mantel; und niemals, weder vorher noch nachher, sei bei ihnen gehört worden, dass jemand Ähnliches gewagt hätte. Während jener dies eindringlich sagte, wuchs in uns die Begierde infolge der Warnung, wie eben jugendliche Gemüter keinen Mahnern glauben. Daher schritt der Greis, als er merkte, dass er sich vergeblich anstrengte, ein wenig voraus und zeigte uns zwischen den Felsen den steilen Bergpfad, indem er nochmals mahnte und vieles wiederholte, als wir ihm schon den Rücken zukehrten. Nachdem bei ihm zurückgelassen worden war, was an Kleidern oder andern Sachen hinderlich sein konnte, machten wir uns allein für den Aufstieg fertig und begannen munter hochzusteigen. Aber es folgte, wie fast immer, dem ungeheuren Beginn eine schnelle Ermüdung. Nicht weit von dort liessen wir uns daher auf einem Felsen nieder. Wiederum brachen wir auf und stiegen weiter voran, allerdings langsamer; vor allem machte ich mich mit bescheidenerem Schritt an den Bergweg heran. Der Bruder strebte auf dem kürzesten Weg über die Anhöhen immer höher hinauf, während ich, allzu weichlich, mich an die Täler hielt. Auf die Rufe hin, mit welchen der Bruder mir den geraderen Weg bezeichnete, antwortete ich, ich hoffte, der Zugang auf der andern Seite sei 4 P. Yergilius Maio, Georgica 1, i4j.
leichter, und ich würde mich nicht scheuen vor dem längeren Weg, auf dem ich flacher ansteigen könne. Mit dieser Entschuldigung versteckte ich die Trägheit. Während die andern schon die Anhöhen innehielten, irrte ich noch durch die Täler, da nirgends ein angenehmerer Aufstieg sich zeigte, sondern die Länge des Weges wuchs und die unnütze Mühe stets grösser wurde. Da mich, von Ekel ergriffen, der verschlungene Irrweg verdross, beschloss ich im Innersten, in die Höhe zu steigen. Als ich den Bruder, der wartete und durch langes Liegen erholt war, müde und ängstlich erreicht hatte, gingen wir eine Zeitlang mit gleichen Schritten weiter. Kaum hatten wir jenen Hügel verlassen, siehe, da vergass ich den früheren Umweg und stieg wiederum in die Tiefe. Während ich die Täler durchschritt und den leichteren, langen Wegen folgte, kam ich wiederum in Schwierigkeiten. Ich schob nämlich den lästigen Aufstieg nur auf. Aber durch den menschlichen Geist wird die Natur der Dinge nicht beseitigt, und es kann nicht geschehen, dass ein Körper durch Absteigen in die Höhe gelangt. Was nun? Dies stiess mir, dem Entrüsteten, innerhalb weniger Stunden dreimal oder mehr zu, nicht ohne das Gelächter des Bruders. So oft gefoppt, liess ich mich in einem Tal nieder...5 Der Berg ist von allen der höchste; die Bauern nennen ihn ,Söhnchen ', warum weiss ich nicht -es sei denn durch Gegensinn0 wie noch andere Dinge erklärt werden wie ich vermute — er scheint nämlich in Wahrheit der Vater aller benachbarten Anhöhen zu sein. Auf diesem Gipfel ist eine kleine Ebene, wo wir uns endlich erschöpft zur Ruhe niedersetzten. Und weil du gehört hast, welche Sorgen die Leidenschaft des Ansteigenden entflammt haben, höre, Vater, auch das Restliche. Ich bitte dich, eine Stunde fur die Lektüre meiner Taten eines ganzen Tages zu reservieren! Zuerst stand ich, bewegt durch den unge- 5 Betrachtungen während dieser Pause und die Schilderungen des letzten Marsches werden hier übergangen.
6 Solche Erklärungen sind immer falsch.
wohnten Hauch der Luft und durch ein grossartiges Schauspiel, einem Verblüfften ähnlich da. Ich schaute zurück: die Wolken waren zu den Füssen! Und schon wurden der Athos und der Olymp weniger sagenhaft und unglaublich, als ich das, was ich über jene Berge gehört und gelesen hatte, bei einem Berg von geringerem Ruf antraf. Hierauf richtete ich die Blicke nach Italien, wohin meine Seele mehr neigt. Die emporstarrenden, schneebedeckten Alpen, über welche einst jener wilde Feind des römischen Volkes geschritten war, welcher mit Essig? ( wenn wir dem Gerücht Glauben schenken wollen ) die Felsen durchbrach, waren gerade neben mir zu sehen, obwohl sie weit entfernt sind. Ich seufzte - zugestanden - nach italienischer Luft, die mehr dem Geiste als den Augen erschien, und ein unvergleichliches Verlangen befiel mich, sowohl den Freund als auch das Vaterland wiederzusehen... Darauf beschäftigte mich ein neuer Gedanke und führte von den Orten zu den Zeiten. Ich sagte nämlich zu mir selber: Heute geht das zehnte Jahr zu Ende, seitdem du Bologna nach den Studien verlassen hast; und, oh du unsterblicher Gott! Oh unveränderliche Weisheit! Wie viele und wie grosse Änderungen der Gewohnheiten hat diese Zwischenzeit erlebt. Ich gehe an Unvollendetem vorbei, ich bin noch nicht im Hafen, so dass ich sorglos mich der vergangenen Stürme erinnern könnte...
Es kam die Zeit für den Abstieg, da die Sonne sich schon neigte und der Schatten des Berges wuchs. Ermahnt und wie aufgeweckt wandte ich mich rückwärts und blickte gegen Westen. Die Grenzen Galliens und Spaniens, die Pyrenäen werden von hier nicht gesehen, obwohl ich kein Hindernis kenne, das im Wege stehen würde, sondern allein wegen der Gebrechlichkeit des menschlichen Auges. Zur Rechten aber sind die Berge der Provinz Lyon, zur Linken der Meerbusen von Marseille und das Meer, welches an Aigues-Mortes brandet, in einer Entfernung von einigen Tagereisen deutlich sichtbar. Die Rhone'Vgl .T. Livius, a.O. 21, 37.
selbst ist in unseren Augen. Während ich das Einzelne bewunderte und bald etwas Irdisches empfand, bald nach dem Beispiel des Körpers die Seele zu Höherem lenkte, beschloss ich, Augustins Buch der Bekenntnisses, ein Geschenk deiner Freundschaft, anzusehen, das ich sowohl zum Andenken an den Autor wie auch an den Schen-kenden behalte und stets zur Hand habe. Ein faustgrosses Werklein von sehr kleinem Umfang, aber von unbegrenzter Süssigkeit, öffnete ich, im Begriffe zu lesen, was ich aufschlagen würde. Was denn könnte ich aufschlagen ausser etwas Frommem und Andächtigem? Zufällig war es das zehnte Buch jenes Werkes. Der Bruder stand mit gespitzten Ohren da, erwartend, dass er etwas von Augustin durch meinen Mund vernehme. Gott und den Bruder rief ich zu Zeugen auf, weil, sobald ich die Augen auf die aufgeschlagene Seite richtete, geschrieben stand: ,Es gehen die Menschen die Anhöhen der Berge bewundern und die ungeheuren Fluten des Meeres und die breiten Flussläufe und den Ozean und den Kreislauf der Gestirne — und vernachlässigen sich selbstIch gestehe, ich war verdutzt und bat den Bruder, der begierig war zu hören, mir nicht zu zürnen, Schloss das Buch, zornig mit mir selbst, da ich jetzt Irdisches bewunderte, ich, der ich schon längst von den heidnischen Philosophen hätte lernen sollen, dass nichts bewundernswürdig sei ausser dem Geist, im Vergleich zu welchem nichts gross ist. Da aber wandte ich die inneren Augen in mich hinein, zufrieden, den Berg genügend gesehen zu haben; und von jener Stunde an hörte ich niemand sprechen, bis wir wieder unten waren ' ».
Francesco Petrarca wurde am 20. Juli 1304 in Arezzo geboren. Im Jahre 1312 kam er, vertrieben aus Florenz, an den päpstlichen Hof nach Avignon und studierte sodann in Montpellier und Bologna die Rechte - gegen seinen Willen, denn seine ganze Leidenschaft war auf die 8 Aurelius Augustinus, Confessiones io, 8.
» übersetzt aus: Eclogae Graecolatinae, Fase. to: Aus Renaissance und Reformation, Heft i, herausgegeben von Walther Kranz, Leipzig/Berlin 1925, S.8ff.
Schriftsteller des Altertums gerichtet. 1325 kehrte er, nach Abschluss der Studien in Bologna, nach Avignon zurück und widmete sich der Dichtung sowie der Beschäftigung mit der Antike. Der 6. April 1327 wurde ein wichtiges Datum in seinem Leben: an diesem Tage begegnete er Laura de Sade, die von nun an sein Idol war. Der tiefen Liebe zu dieser Frau entsprangen die Gedichte seines Canzoniere, welche das Vorbild für die Liebeslyrik der folgenden Jahrhunderte in Europa wurden. Am 26. April 1336 bestieg Petrarca den Mont Ventoux. Ein Jahr später siedelte er sich in Vaucluse an, einer Einöde, wo die meisten Gedichte entstanden. Den Höhepunkt seines Lebens bildete die Dichterkrönung auf dem Kapitol zu Rom an Ostern 1341. Als 1348 die Pest Laura hinwegraffte, kehrte Petrarca nach Italien zurück und liess sich dort 1353 endgültig nieder. Er starb am 19. Juli 1374 in Arquà bei Padua.
Petrarca war nicht nur ein bedeutender Dichter, sondern auch ein hervorragender Geograph und Kartograph: die früheste Karte von Italien soll er entwerfen lassen haben. Bei jeder geistigen Beschäftigung begleitete ihn der Naturgenuss. Dies zeigt sich insbesondere in seinen Werken, welche in Vaucluse entstanden. Bei einem Aufenthalt in den Wäldern von Reggio wirkte der plötzliche Anblick einer grossartigen Landschaft so auf ihn, dass er ein längst unterbrochenes Gedicht wieder fortsetzte. Die wahrste und tiefste Erregung aber kam bei der Besteigung des Mont Ventoux über ihn. Ein unbestimmter Drang nach einer weiten Rundsicht steigerte sich in ihm aufs höchste, bis endlich die zufällige Lektüre jener Stelle im Livius, wo König Philipp den Haemus besteigt, den Entscheid gab. Was an einem königlichen Greise nicht getadelt wurde, sei auch bei einem jungen Mann wohl zu entschuldigen, so meint Petrarca. Planloses Bergsteigen war nämlich zu jener Zeit etwas Unerhörtes.
Unter den Modernen waren die Italiener die frühesten, welche die Gestalt der Landschaft als etwas mehr oder weniger Schönes empfanden und genossen. Für sie war die Natur längst ent- sündigt und von jeder dämonischen Einwirkung befreit. In unserem Petrarca-Brief kommt allerdings noch eine Spur jener Furcht vor den Bergen zum Ausdruck, wenn der Hirte die Wanderer unbedingt abhalten will von der Besteigung, indem er die Gefahren erwähnt, welche ein solches Unternehmen mit sich bringe, oder wenn Petrarca « ängstlich » den Bruder erreicht. Eine dem Mittelalter fremde Neugier, welche den Blick auf die ganze Natur lenkte, siegte jedoch in Petrarca. Er lehrte ja, dass die Wissenschaft nicht mehr von der Autorität früherer Werke ausgehen dürfe, sondern auf eigener kritischer Forschung beruhen müsse. Damit trat er der Scholastik entgegen, welche ihre Lehre zu beweisen glaubte, wenn sie bei antiken oder mittelalterlichen Autoren entsprechende Sätze fand. So ist es verständlich, dass Petrarca trotz allen Mahnungen die Besteigung des Mont Ventoux wagte, getrieben einzig von Wissensdurst und grosser Unternehmungslust.
Der Mont Ventoux ist ein interessanter Berg. Mit etwas Glück kann man ihn bei strahlendem Wetter erleben. Häufiger aber ist er in Wolken gehüllt, was den Namen irgendwie rechtfertigt. Beginnt man heute die Fahrt auf den Mont Ventoux in Malaucène, so hat man auf rund 20 Kilometer 1500 Meter Höhendifferenz zu überwinden — wir erinnern uns an Petrarcas « nicht ohne grosse Schwierigkeit ». Dies gilt auch für gewisse moderne Automotoren! Steil geht 's bergan durch Gehölz und Gestein. Unterwegs erlebt man den Übergang von der südlich üppigen Mittelmeer-vegetation an langsam alpin werdenden Bäumen und Pflanzen vorbei in die erschreckende Geröllhalde, die über der Grenze der Lärchen, der knorrigen Kiefern und der Steinbrechstauden den Gipfel ringsum zur Steinwüste macht — also eine « Masse von Kalkstein », wie Petrarca seinem Freund mitteilt. Oben angelangt, trifft man auch bei schönstem Wetter einen schneidenden Wind an, der einem den Atem verschlägt. Die Aussicht aber ist phantastisch: auf der einen Seite die zackigen Wände der kulissenhaft gestaffelten Alpen, auf der andern, in weiter Ferne und daher kaum 3Frauen aus Sie Ste tragen Brennholz von Gense zu Tal 4Blick von Gense über das Endmoränen feld des Biafo-Gletschers nach NE. Links vom Seitental der ca. 6300 m hohe Bullah, rechts Laskam Photos Hans Hartmann, Küsnacht/ZH sichtbar, der Kamm der Pyrenäen; dann das Mittelmeer, das, je nach Sonnenstand, dunkel oder gleissend erscheint. Zu Füssen aber liegt die Provence mit dem breiten Flusslauf der Rhone.
So präsentiert sich der Berg dem Besucher des 20.Jahrhunderts — kaum anders, als ihn der Mensch des i 4. Jahrhunderts erlebt hat - nur dass jener Wanderer auf dem Gipfel in sich ging und Augustins Bekenntnisse aus der Tasche zog, während der moderne Autofahrer das Transistorradio aus seinem Wagen holt.