Frühlingsfahrten im Wallis
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Frühlingsfahrten im Wallis

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Mit 2 Bildern.Von H. Wirz

( Sektion Aarau, La Tour-de-Peilz ).

Mit den ersten Frühlingstagen erwacht in uns die alte Wandersehnsucht aus ihrem Winterschlaf. Wir packen unseren Rucksack und ziehen den Bergen entgegen, die allerdings zu dieser Zeit noch nicht ganz von ihrem weissen Mantel befreit sind und auch nicht von ihren winterlichen Gefahren! Durch einen Schneesturm, durch den Nebel oder durch einen Kälteeinbruch kann man mit einem Schlage mitten in den Winter zurückversetzt werden. Doch das erste Veilchen hinter dem Hag lässt uns all das vergessen, das Abenteuer lockt uns, das Einfache, das Naturverbundene. Wieder einmal die letzten festen Behausungen hinter sich lassen, ohne zu wissen, wo abends Die Alpen — 1942 — Les Alpes.1 das Lager aufgeschlagen wird; wieder einmal vor dem Zelt am prasselnden Feuer sitzen, während die Nacht langsam aus den Tälern zu den Gipfeln emporsteigt!

Mont Velan, 3765 m.

Ganz hinten im Val d' Entremont, an der Grenze gegen Italien, zwischen Grand Combin und dem Grossen St. Bernhard liegt er. Sein weisses Spitzchen ist gut sichtbar vom obern Genfersee aus.

Am ersten schönen Junisamstag des Jahres 1937 packen wir unsere Säcke, stecken die kurzen Sommerski oben hinein und wagen die Fahrt. Kurz vor 18 Uhr verlassen wir Bourg-St-Pierre und steigen, dem Alpweg folgend, in das Valsorey hinein. Die Alpen waren noch nicht bezogen und die Brücken über den Talbach noch nicht geschlagen.

Nach iy2 Stunden schon erreichen wir die damals im Umbau befindlichen Chalets d' Amont. Im Norden von uns erhebt sich fast drohend der mächtige Aufbau des Grand Combin, im Süden leuchten die Firne und Hängegletscher des Mont Velan über die öden Moränen im Vorgelände. Zu unseren Füssen braust der von Schmelzwasser angeschwollene Valsorey-bach. Der Schnee scheint sich erst kürzlich aus der Umgebung der Alp zurückgezogen zu haben, denn überall blühen die lilafarbenen, zarten Soldanellen.

In der Nähe der Hütten, geschützt von einem mächtigen Felsblock, schlagen wir unser kleines Zelt auf einem Rasenplätzchen auf. Bald brennt auch schon ein wärmendes Feuer. Drüben über den Nordhängen unseres Berges röten sich die Felsen und Firne; einem Wunder gleich kommt der Abend. Lange noch sitzen wir um die Gluten des verglimmenden Feuers, bis uns die Kälte der Nacht in unseren Betrachtungen an die warmen Schlafsäcke erinnert.

Am nächsten Morgen, kurz vor 4 Uhr, brechen wir auf und suchen einen Übergang über den Valsoreybach. Da die Sommerbrücke noch nicht geschlagen ist, versuchen wir unser Glück weiter hinten gegen die kleine Schlucht zu, wo der Bach verzweigt ist. Umsonst, wir müssen wieder an unsern Ausgangspunkt zurück, wo wir etwas unterhalb eine zweifelhafte Schneebrücke finden. Einige schwere Steine, die wir darauf werfen, überzeugen uns, dass sie trägt. Angeseilt überschreiten wir das trügerische Objekt. Wie schnell doch die Zeit vergeht, fast eine Stunde haben wir mit dem Suchen verloren! Es ist inzwischen längst heller Tag geworden.

Wir folgen kurze Zeit dem Bach, bis zur Einmündung des kleinen Seitentälchens, das vom Mont Orge herunterkommt. Ein langer Moränenrücken führt uns hinauf zum Glacier de Tseudet. Wir stellen hier fest, dass es viel einfacher gewesen wäre, auf der andern, rechten Talseite hier heraufzusteigen 1 Der Gletscher ist beinhart gefroren, und die meisten Spalten sind noch geschlossen. Die Sonne erreicht uns. Wir streben in grossem Bogen, dem linken Ufer des Gletschers folgend, dem Col de Tseudet zu. An einer günstigen Stelle überschreiten wir den Bergschrund und hacken uns in einer Stunde auf hartem Schnee und Eis zum Pass hinauf. Da öffnet sich eine andere Welt vor uns: die bizarren Gestalten der Luisettekette von den Trois Frères zur Grande Luisette, ein unvergesslicher Anblick!

Brüchiger Fels führt uns hinunter auf den Valsoreygletscher. Der Schnee ist hier schon aufgeweicht, wir können unsere Ski anschnallen. Langsam, aber stetig steigen wir in brütender Hitze über die zwei Stufen des Gletschers hinauf, an gähnenden Schrunden vorbei zum Fuss des Gipfels. Die letzten paar Meter, die wir zu Fuss hinaufstapfen, wollen nicht enden; der Gipfel ist sehr flach.

Um 13 Uhr reichen wir uns auf dem höchsten Punkt die Hände. Doch wir sind nicht allein auf dem Berg: auf dem ca. 100 m tieferen Felsgipfel sehen wir zwei Touristen, die offenbar von der Cantine de Proz her aufgestiegen sind. Jauchzer fliegen zur Begrüssung her und hin. Damit wir nach allen Seiten hinuntersehen können, müssen wir rund um den Gipfel herumgehen. Die Aussicht ist sehr umfassend: der Mont Blanc steht ganz nah und gross vor uns, seine Trabanten, die Aiguilles, sind leider in Wolken gehüllt; die Walliser Riesen vom Monte Rosa bis zum Weisshorn sind vollkommen klar, ebenso der benachbarte, mächtige Grand Combin. Die vielen Gipfel im Süden sind für uns lauter Unbekannte. Solche Gipfelstunden sind Höhepunkte des Lebens, sie lassen uns die Zeit vergessen.

Bei unserem Skidepot unter dem Gipfel fliesst ein kleines Schmelz-wässerlein über den Fels hinunter, das unseren Durst stillt. Angeseilt fahren wir zwischen mächtigen Abbruchen hindurch hinunter an den Fuss des Col de Tseudet, von wo aus wir mit Wohlbehagen und Stolz unsere geschwungene Abfahrtsspur betrachten. Wir stecken die Ski in unsere Säcke und steigen steil hinauf in den Col. Auf der andern Seite hat die Sonne in der Zwischenzeit den Schnee aufgeweicht. Unter Seilsicherung rutschen wir sitzlings hinunter bis zum Bergschrund, den wir leicht überspringen können. Die Ski schnallen wir hier wieder an, und unangeseilt können wir nun unsere Bogen ziehen über den sanft geneigten, spaltenarmen Tseudetgletscher. Wir fahren diesmal ganz hinunter bis zur Einmündung des Valsoreygletschers, wo wir den Bach überschreiten. Wir tun gut daran, denn wie wir später sehen, ist die Schneebrücke, die uns am Morgen in der Nähe unseres Lagerplatzes auf das andere Ufer des Baches gebracht hat, inzwischen zusammengestürzt. Wären wir dem Aufstiegsweg gefolgt, so hätte uns das einen grossen Umweg gekostet, denn unsere ganze Zeltausrüstung, die noch bei den Chalets d' Amont liegt, hätten wir nicht holen können!

Schwarze Wolken haben sich über uns zusammengezogen und drängen uns zu raschem Aufpacken. Im Sturmschritt eilen wir nach Bourg-St-Pierre hinunter, wo wir um 19 Uhr eintreffen.

Becs de Bosson, 3154 m.

Die Becs de Bosson befinden sich zwischen Val d' Anniviers und Val d' Hérens, dort, wo sich die vom Grand Cornier nordwestlich herunterziehende und langsam abfallende Kette hufeisenförmig verzweigt. Der eine, östliche, Arm läuft gegen Roc d' Orzival—Mont Tra cui aus und der andere, westliche, gegen La Maya—Mont Nuoble. Zwischen diesen beiden Ketten, die nahezu parallel verlaufen, liegt das sanft geneigte Hochtal von Larduzan, dessen Ausfluss durch die Combe du Réchy steil ins Rhonetal hinunterschiesst. Der Walliserführer II sagt: « Im Norden der Sasseneire ragen die Becs de Bosson auf, dort teilt sich die Kette in zwei Arme, die immer rascher nach Norden abfallen und im Sommer kein grosses Interesse bieten. » Beim Studium des Walliserskiführers dagegen erfährt man, dass die Becs zum Skifahren sehr geeignet sind.

An dem klaren, aber etwas warmen Sonntag des 11. April 1937 bringt uns der Car des Candide Bruttin auf der äusserst aufgeweichten Strasse nach Nax hinauf. Infolge eines Erdrutsches unterwegs gibt es viel Verspätung, das Auto bleibt im Schlamm stecken und muss erst mit Pickel, Schaufel und Brettern wieder flott gemacht werden. So wird es halb 11 Uhr, bis wir endlich in Nax eintreffen.

Sehr rasch steigen wir durch den Wald hinauf gegen Clos du Guindoux. Um 12 Uhr passieren wir die Alp Gauthier dessus, und eine halbe Stunde später nehmen wir bei der letzten Arve ein rasches Mittagsmahl ein und steigen dann weiter, dem Pass entgegen zwischen Mont Nuoble und Mont Gauthier. Kaum haben wir Zeit, uns umzuschauen nach den Waadtländer und Arollabergen. Kurz nach 2 Uhr sind wir im Pass und können etwas verschnaufen. Im schönsten Sonnenschein, aber noch weit entfernt, winkt uns die schwarze Gabel der Becs de Bosson.

Eine kurze Abfahrt führt hinunter in das hufeisenförmig umrahmte Hochtal von Larduzan. Unermüdlich wird weiter angestiegen, dem Sattel westlich der Becs entgegen. Die Folgen der Verspätung und des raschen Aufstieges machen sich in Müdigkeit und grossem Durst bemerkbar. Eine Orange hilft uns über das Schlimmste hinweg. Langsam, langsam rückt der Sattel näher, schon ist die schwarze Mauer der Maya an uns vorübergeglitten. Nochmals eine Orange, und der Sattel, ca. 3000 m ist unser! Welch wunderbarer Blick auf einmal auf die Walliser Viertausender und die Berge von Aroila! Nur das Matterhorn ist nicht sichtbar, es scheint hinter der Dent Blanche versteckt zu sein.

Ob all dem Staunen vergisst man die Zeit, der Zeiger rückt schon gegen 17 Uhr, und noch ist der nahe Gipfel nicht erreicht. Schade, so nahe dem Ziel umkehren zu müssen, aber es geht nun einmal nicht anders, sonst überrascht uns bei der Abfahrt durch den Wald die Nacht!

Eine lange Schussfahrt in schönstem Pulverschnee führt in einem Zuge den Hängen der Maya und der Becca de Lovegnoz entlang an den Fuss des Mont Gauthier. In kleiner Gegensteigung hinauf zum Sattel, und weiter geht die schöne Fahrt, immer unserer Aufstiegsspur folgend, hinunter nach Nax, wo wir, die letzten Schneeflecken ausnützend, die Strasse erreichen. Wie wir in Bramois einmarschieren, ist es schon stockdunkel.

Die Becs de Bosson liessen uns keine Ruhe, schon nach vier Wochen fuhren wir wieder Sitten zu.

Das Postauto bringt uns diesmal nach St. Martin, wo wir schwer beladen mit Zelt und Ski um 18% Uhr nach Eison weitermarschieren. Wir steigen hinauf zu den Maiensässen, wo wir um 19*4 Uhr in einem Stall mit unseren Luftmatratzen ein weiches Lager bereiten; das Zelt mag uns für diese Nacht als Decke dienen. Das Wetter macht keinen verheissungsvollen Eindruck. Die Berge sind in Wolken gehüllt. Wir ziehen uns bald in unser « Schlafgemach » zurück.

Am nächsten Morgen ist der Himmel leider immer noch bedeckt. Soll uns der Berg abermals abweisen? Vor der Hütte nehmen wir das Morgenessen ein, packen zusammen und brechen gegen 7 Uhr auf, dem Pas de Lona entgegen. Der Schnee ist nass und schwer, doch scheint das Wetter nicht so schlecht zu werden, und hie und da bricht für kurze Zeit die Sonne durch die Wolken.

Wie wir den Pas de Lona, 2767 m, erreichen, fängt es leicht zu schneien an. Ich habe gerade noch Zeit, den Kompass auf den uns vor vier Wochen bekannt gewordenen Pass am Westfuss der Becs de Bosson einzustellen, bevor uns ein dichter Nebel einhüllt. Das Gelände ist der vielen Tälchen und Hügel wegen sehr unübersichtlich und erschwert das Gehen nach dem Kompass sehr. Oft müssen wir anhalten und uns durch Werfen von kleinen Schneeballen vergewissern, ob es auf- oder abwärts geht. Auf diese Weise erreichen wir um Mittag den Pass. Es hat inzwischen immer weiter geschneit. Wir stecken unsere Ski in den Schnee, stapfen mehr dem Gefühl als dem Kompass folgend den Gipfelfelsen entgegen und packen das brüchige Gestein mit verbissener Wut sogleich an. Nach genau einer halben Stunde stossen wir unvermutet auf das Gipfelsignal des Hauptgipfels der Becs de Bosson. Obwohl wir nicht über die nächsten paar Meter hinaussehen, freuen wir uns ob der gelungenen Besteigung und schalten eine kleine Gipfelrast ein. Alles ist nass und ungemütlich; im Tale muss es regnen! Da, ein schwacher Windstoss fegt den Nebel für wenige Sekunden weg, und der andere Gipfel unseres Berges wird sichtbar, dazwischen gähnt ein schwarzer Abgrund. Aber wenige Minuten später ist wieder alles in den undurchsichtigen Schleier gehüllt.

Gemächlich treten wir den Rückweg an. Unsere Spuren sind fast vollständig verschneit. Glücklich finden wir unsere Ski wieder; wie Schlangen pendeln die an den Skispitzen zum Trocknen aufgehängten Seehundsfelle im leichten Wind.

Dann folgt die Fahrt ins Ungewisse, die Abfahrt nach Nax. Was vor vier Wochen ein reiner Genuss war, wird nun zum Problem. Trotz Kompass und Höhenmesser will es nicht recht talwärts gehen. Alle lichten Augenblicke ausnützend gelangen wir langsam tiefer, wissen aber nie genau, wo wir uns befinden, denn es gilt, den Sattel zwischen Mont Gauthier und Mont Nuoble zu finden. Wir gelangen auf ein ebenes Plätzchen, das aussieht, als läge es am Fuss des gesuchten Passes. Ein kühner Vorstoss nach links in den Nebel hinein ist von wenig Erfolg gekrönt und endet an einem bergschrundartigen Gebilde. Also weiter talwärts! Ein abermaliger Versuch nach links bringt uns an eine kleine Wächte, an der wir nach einigem Suchen die Stelle ent- decken, wo wir vor vier Wochen abgestiegen sind. Das haben wir gut getroffen, wir können es fast nicht glauben!

Noch sind wir aber dem Nebel nicht entronnen; es folgt noch die Querung am Fuss des Mont Nuoble. Aber das geht leichter, weil der Hang mit Steinen gespickt ist, die aus dem Schnee herausragen. Glücklich erreichen wir den Grat bei Punkt 2452. Der Nebel wird lichter, und nach wenigen Schritten sind wir ihm entronnen. Auffallend, wie scharf die Trennungsfläche ist, fast scheint es, als stecke der Kopf noch im Nebel, während die Füsse schon daraus heraushängen! Im Rhonetal unten hat es einige Sonnenflecken! Auf bekanntem Gelände, in sehr regelmässigem, wenig aufgeweichtem Schnee geht es Nax zu.

Auf dem letzten Schneefleck breche ich an einem verborgenen Stein meinen Ski. Auf der Heimfahrt im Zug bemerkt witzig ein welscher Skifahrer: « En voilà un qui a profité de la dernière occasion pour casser ses skis. » Also geschehen am letzten Ausgabetag der Sonntagsbillette 1 Aiguilles du Tour, 3548 m.

Es ist Pfingstsonntag. Wir sind heute von Champex her über den Col des Ecandies zur Trienthütte aufgestiegen und sitzen nun auf der Pointe d' Orny, 3277 m, und geniessen den Augenblick. Es ist ungefähr 16 Uhr. In der neuen, hotelartigen Trienthütte unten ist ein Kommen und Gehen. Von allen Seiten strömen die Hüttengäste herbei, andere wieder ziehen in den verschiedensten Richtungen zu Tal. Heiss liegt die Sonne im grossen Plateau von Trient, eine grell leuchtende Wolkenmauer steht im Westen hinter dem Mont Ruet und sendet von Zeit zu Zeit zerrissene Fetzchen zu uns hinüber. Nichts Schlimmes ahnend malen wir uns den Genuss der für morgen geplanten Abfahrt von den Aiguilles du Tour über den Glacier des Grands nach Trient aus. Nach zwei Stunden gemütlicher Reschaulichkeit auf dem Gipfel fahren wir auf unseren Sommerski in die Hütte hinunter und gehen früh schon schlafen. Trotz der vielen Leute sind wir auf den obern Pritschen, unter dem Giebel, fast allein.

Der Wind, der am Pfingstmontag an den Fensterläden rüttelt, kündet nichts Gutes an: Schnee und Nebel, fast kann man es nicht glauben! Gegen 7 Uhr hellt es etwas auf, und wir entschliessen uns zum Aufbruch. Wir queren den Trientgletscher und kommen langsam in den Nebel hinein. Aber wir haben ja gute Spuren unserer gestrigen Vorgänger, wir können nicht fehlgehen! Es fängt zu schneien an. Wir steigen weiter, bis wir an den Fuss der Aiguilles gelangen. Der dunkle Fels verschwindet nach wenigen Metern im grauen Nebel. Unter diesen Umständen denken wir nicht an eine Resteigung, und unser ganzes Augenmerk ist auf die Abfahrt gerichtet. Es schneit immer stärker. Die Spuren, die noch vor kurzer Zeit unsere Wegweiser waren, sind verschwunden. Wir warten auf einen Augenblick freier Sicht, denn so können wir unmöglich weiter!

Aus einer Viertelstunde wird eine halbe und schliesslich eine ganze Stunde. Wir verlieren die Geduld und versuchen es mit der Umkehr zur Hütte. Wie wir unten im Gletscherboden sind, hellt es auf. Wir sehen die meisten Hüttenbesucher über den Col des Plines nach Argentières abziehen. Das wäre natürlich auch für uns das Einfachste, aber wir haben ja keine Pässe. Und dann die teure Bahnfahrt über Vallorcine nach Martigny hinunter... Nein, wir wollen es doch noch einmal versuchen, nach dem Glacier des Grands und nach Trient vorzustossen! Also wieder hinauf an den Fuss der Aiguilles! Eine andere Partie steigt übrigens auch noch hinauf, so sind wir zwei wenigstens nicht allein.

Inzwischen ist der Nebel von neuem wieder gekommen, jedoch nicht so dicht wie vorher. Wir können vorsichtig abfahren. Obwohl von einer Spur nichts zu sehen ist, geht es ziemlich gut bis zu dem Pässchen am Fusse der Aiguille des Pesseux, wo der Übergang vom Glacier du Trient nach dem Glacier des Grands erfolgt. Hier wird der Schnee sehr hart und Verblasen und Steine treten zutage. Wir ziehen deshalb die Ski aus und stapfen auf harter Unterlage gegen einen starken Wind ankämpfend hinunter, bis der Schnee wieder besser wird und wir die Ski auf ebenerem Gelände wieder anschnallen können. Doch der Nebel wird immer dichter und unser Standpunkt ist unklar; links und rechts scheinen Felsen zu sein. Von der Viererpartie, die hinter uns im Aufstieg war, ist nichts mehr zu sehen. Sind wir in falscher Richtung gegangen? Aber halt: Ist da nicht wieder eine Spur? Es scheint so, wir dürfen sie auf keinen Fall verlieren, sie muss doch sicher irgendwo hinunterführen! Wir nehmen die Karte zur Hand, die uns aber nicht genügend aufklären kann, weil das französische Gebiet unbedruckt ist! Vielleicht sind wir schon jenseits der Grenze. Es bleibt uns nichts anderes, als der halb verwehten Spur zu folgen! Sie führt ziemlich steil hinunter, wohin wissen wir nicht, keiner von uns kennt die Gegend. Sehr vorsichtig, selbstverständlich angeseilt, fahren wir abwärts, immer peinlich bedacht, unseren Wegweiser, die Spur, ja nicht zu verlieren. Der Nebel weicht etwas zurück, und die Fahrt wird flüssiger. Da, auf einmal gewahren wir unter uns einen mächtigen Gletscher, der von links her kommt. Das kann nun unmöglich mehr stimmen mit dem Glacier des Grands! Wir sind falsch gegangen! Wir schalten abermals eine längere Rast ein und beraten, was zu tun sei. Wieder aufsteigen und zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren hat wohl keinen Sinn, denn eine neue Irrfahrt wollen wir nicht riskieren, der Gletscher unter uns sieht sehr gut gangbar aus, und überdies haben wir immer noch die Spuren. Da taucht auch noch unsere Viererpartie aus dem Nebel hervor, die kann uns vielleicht Auskunft geben. Wie wir sie erreichen, erklären sie uns, dass wir auf der französischen Seite sind und dass der grosse Gletscher kein anderer als der Glacier du Tour ist! Jetzt wissen wir wenigstens, wo wir sind, und dass wir eben doch in Montroc den Zug über Vallorcine nach Martigny benutzen müssen!

Wir lassen die vier Genfer vorausfahren und folgen ihnen vertrauensvoll. Sie führen uns hinunter auf den Glacier du Tour und an der Cabane Albert-Ier des C.A.F. vorbei auf die Seitenmoräne, wo der Schnee sehr schwer wird. Das Wetter wird zusehends besser, und hie und da bricht schon die Sonne durch. Wir bereuen nun doch, dass wir nicht noch eine Stunde im Nebel ausgeharrt haben, aber mittlerweile tauchen schon die ersten Häuser von Montroc auf. Auf den schneefreien Feldern sind die Bauern mit Her-richtearbeiten beschäftigt. Von ferne hören wir einen Zug einfahren, wir setzen zu einem tüchtigen Trab an und erreichen im Bahnhof eben noch den letzten Wagen. Beim Grenzübertritt in Vallorcine geht alles reibungslos auch ohne Pass, die C. Karte genügt als Ausweis.

Von den Waadtländer Alpen aus haben wir seither oft an die in der Sonne schimmernden Abhänge des Glacier des Grands hinübergeblickt und uns an die denkwürdige Nebelfahrt dort oben erinnert. Zwei Jahre später, an Pfingsten 1939, zogen wir neuerdings dem Trientmassiv entgegen, diesmal von Martigny aus über den Col de 1a Forclaz an den Fuss des Trientgletschers, wo wir in der Nähe der Alp Les Grands unser Zelt aufschlugen. Unsere Fahrt hatte einen vollen Erfolg, indem uns der Aufstieg auf die südliche Aiguille du Tour bei herrlichem Wetter aufs beste gelang. Bei der Abfahrt blieben wir immer auf der Schweizerseite und genossen die schönen Hänge der Glaciers des Grands und de Beron sowie die noch verschneiten Weiden von La Chaux in vollen Zügen.

Feedback