Gedankensplitter um das Matterhorn
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Gedankensplitter um das Matterhorn

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Mit 1 Bild ( 40Von Emil Hofmann

( Bern ) Denke ich an meine erste Zermatter Fahrt zurück, so höre ich noch, als wäre es heute, das charakteristische Krachen der in die Zahnstange eingreifenden Zahnräder, wenn sich die Bahn anschickte, wiederum eine Talstufe zu erklimmen. Ich sehe die Fahrgäste ungeduldig am Fenster stehen und sich die Hälse nach « ihm » verrenken. Und ich fühle, wie sich die Spannung löst, als « es » endlich auftaucht, nämlich das Matterhorn. Ein überwältigender Eindruck für jeden, der es zum erstenmal auf kurze Distanz erblickt.

Was wäre Zermatt - trotz aller anderen Hörner - ohne das Horn, welches dem ehemals kleinen Bergdorf Weltruf und eine ungeahnte Entwicklung brachte?

« Berg der Berge » wird das Matterhorn vielfach genannt, und einzigartig ist es in Form und Aufbau, in seinen klimatischen Verhältnissen und in der Geschichte seiner Erforschung. Wie verständlich ist der stille Wunsch der meisten Alpinisten, wenigstens einmal auf diesem Gipfel zu stehen!

Viele Jahre sind seit meiner ersten Zermatter Fahrt vergangen. Heute endlich gilt meine Reise dem « Horn ».

Schon der Weg zur Hörnlihütte regt zu mancherlei Gedanken an. Wie viele tausend Touristen mögen ihn schon gegangen sein? Eine ganze Reihe aber von ihnen, die frohgemut hinaufschritten, musste ins Tal getragen werden.

Der Betreuer der Hörnlihütte, der Mann mit dem goldenen Kern in der rauhen Schale, hat es nicht leicht in der kleinen Hütte, bei chronischer Überfüllung während der kurzen Saison, Ruhe und Ordnung unter einem oft etwas internationalen Publikum aufrechtzuerhalten. Eine gewisse Härte ist nicht immer zu vermeiden. Und hart ist es für übermüdete und spät vom Horn zurückkehrende Touristen, mit Rücksicht auf die Neueingetroffenen unbarmherzig auf den Weg nach Zermatt verwiesen zu werden. It's a long way to Zermatt wenn man « Matthäus am Letzten » ist.

Es soll noch hin und wieder vorkommen, dass die Schweizer in der Hütte in der Minderzahl sind. Warum wohl? Sind's die VW und die Roller, die mehr locken als die mit dem Bergsteigen verbundenen Anstrengungen? Oder ist man zu vornehm, um sich in den oft herrschenden Massenbetrieb am Horn zu mischen? Heute abend dürfte das deutsche und österreichische Element in der Hütte vorherrschen. Fehlt nur noch, dass der Hüttenwart die Laute schlägt und von Dirndeln, Almen und Sünden singt!

« Die Nacht ist ohne Ende. » So scheint es mir wenigstens; denn ich fühle mich wie ein gepresster Hering. Mein Führer wird bequemer im Hotelbett schlafen. « Herr und Führer im Wandel der Zeiten » wäre auch noch ein Dissertationsthema!

Ich wäre gerne sehr früh aufgebrochen. Aber die Zeit des Startes wird durch die Führer bestimmt. Um 4.30 Uhr setzen sich die ersten vier Partien, die bereit sind, in Bewegung. Mit einer rührenden Selbstverständlichkeit mischen sich die Führerlosen dazwischen. In der Dunkelheit und in der Dämmerung einen unbekannten Weg in der unübersichtlichen Wand zu suchen, wäre begreiflicherweise kein Vergnügen.

Beim Einstieg in die Felsen wird der Pickel deponiert. Man geht ohne Pickel auf das Horn. Beim Abstieg garniert mein Führer immerhin seine Vibramsohlen mit einem Paar leichter Steigeisen.

Dem Namen nach bekannte Stätten tauchen auf: der Standort der alten Hütte; die Mosleyplatte; die Solvayhütte. Aber auch die neueste Zeit ist vertreten. « Hier müssen kürz- lieh die beiden Ausländer abgestürzt sein », bemerkt der Führer. Welch eindrucksvolles Bild müsste sich ergeben, wenn an jeder Unglücksstätte ein Kreuz errichtet würde! Wäre es wohl geeignet, die grosse Zahl jener, die den Berg unterschätzen, eines Besseren zu belehren?

Zugegeben, dass technisch das Horn dem Geübten keine grossen Schwierigkeiten bietet. Aber es gibt nicht nur klettertechnische Schwierigkeiten. Das Matterhorn ist klimatisch ein Sonderfall. Innert kürzester Zeit - man spricht von einer Viertelstunde - kann ein Wetterumschlag, mit Gewitter- und Schneesturm eintreten, Gipfel und Wand in Nebel einhüllen. Wie dann einen « Weg » verfolgen, der, soweit er nicht durch den Grat gebildet wird, sogar bei guten Verhältnissen nicht immer leicht zu finden ist? Gerade hier können Situationen eintreten, die nur der Führer, der den Berg aus reicher Erfahrung kennt, richtig meistern kann.

In diesem Zusammenhang noch etwas von fallenden Steinen. Die Führer benützen eine ganz bestimmte und zweifellos klug ausgedachte Route, bei welcher das Risiko des Loslösens von Steinen gering ist. Es ist verständlich, dass sie vor allem jenen Führerlosen nicht hold gesinnt sind, die wegen Unkenntnis der Route in der verwitterten Wand herumirren und dabei durch Loslösen von Steinen die anderen Seilschaften gefährden.

Das Gefühl, auf dem bekanntesten Berg unserer Alpen zu stehen, kann nicht gut beschrieben werden. Das Erlebnis ist für jeden etwas anders. Aber punkto Aussicht: Ist sie nicht genussreicher zum Beispiel vom Gornergrat aus als von hier aus der Vogelschau? Nun - es gibt eben verschiedene Beweggründe für die Besteigung dieses Berges, und bei den wenigsten wird das Verlangen nach einer schönen Aussicht im Vordergrund stehen.

Wie ist es möglich, dass Leute, die über keine oder nur wenig Bergerfahrung verfügen, das Matterhorn mit ihrer Anwesenheit beehren können? Ich stelle mir vor, dass es wohl kaum einen anderen Berg gibt, auf den sich die Führer derart spezialisiert haben. Wer aber schliesslich jeden Schritt, Tritt und Griff einer Route kennt, wird eher in der Lage sein, auch das mit der Führung einer « Niete » verbundene Risiko zu übernehmen. Man sagte mir auch, dass in offensichtlich fragwürdigen Fällen zwei Führer engagiert werden müssen: der eine zieht den Touristen, der andere stellt an den schwierigeren Stellen dessen Füsse an den richtigen Ort. Ein schönes Beispiel von « Mehlsacktechnik » konnte ich an den fixen Seilen oberhalb der Schulter bewundern. Die Zermatter Führer müssen über sehr gute Armmuskeln verfügen. Sodann sollen die Touristen nicht selten sein, die bei der Solveyhütte umkehren, am Abend aber ihren Sieg über das Horn in Zermatt trotzdem mit einigen Flaschen begiessen. Die Führer sind ja diskret... Vergessen wir nicht die total erschöpft vom Berg Zurückkehrenden und jene Führerlosen, die noch beim Einnachten in der Wand herumirren und den Weg suchen. Man erzählte mir auch von amerikanischen Urlaubern, die es vorzogen, ihre gemieteten oder zum erstenmal getragenen Bergschuhe nach vollendeter Tour in den Händen von der Hütte nach Zermatt zu tragen, weil sie es wegen ihrer zerschundenen Füsse nicht mehr in den Schuhen aushielten. Ja - die Matterhorntour kann auf verschiedene Arten absolviert werden.

Der Abstieg vollzieht sich schweigend. Der Fels ist warm. Tief unten liegen die Hörnlihütte und das Hotel, wo der Gipfeltrunk nachgeholt werden soll. Wiederholt werde ich aufgefordert, « Richtung links » einzuschlagen, wenn ich, im Glauben, eine bessere Abstiegsmöglichkeit zu sehen, nach rechts in die Wand halten will. Dieses trügerische Gefühl, die Route sei mehr in der Wand zu suchen, wurde schon manchem zum Verhängnis.

Das von Hüttenbummlern belagerte Hotel und die um diese Zeit verlassene Hütte liegen hinter mir. Gegen den Schwarzsee zu begegnen mir häufiger mit Pickel und Sack bewaffnete Touristen. In den Augen der meisten sehe ich ein erwartungsvolles Leuchten; ihr Blick ist gerichtet auf den Berg mit der eigenartigen Anziehungskraft, auf das Matterhorn. Möge es ewig vor Luftseilbahnen und anderen Wunderwerken der Technik bewahrt bleiben!

Das Rütteln der Bahn schläfert mich allmählich ein. Die Bilder in mir kommen und gehen. Verschiedene « Hörner » aus Touren dieses Jahres ziehen an mir vorbei. Immer mehr tritt aber ein Horn in den Vordergrund. Die Gedanken beschäftigen sich mit ihm, reissen plötzlich ab, um dann wiederum zu ihrem Lieblingsgegenstand zurückzukehren. Gedankensplitter um das Matterhorn!

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