Gottlieb Studer, 1804-1890
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Gottlieb Studer, 1804-1890

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VON OTTO STETTLER, BERN

Berns grösster Alpenforscher und erster Präsident der Sektion Bern des SAC Mit 5 Bildern und Reproduktionen ( 85-89 ) Am Rande des Bremgartenwaldes, « Bei den Eichen », gegenüber der Enge in Bern, versammelte sich am Abend des 7. Juni 1893 eine ansehnliche Schar von Mitgliedern der Sektion Bern des SAC mit Vertretern der Behörden, Korporationen, Mitgliedern des Zentralkomitees und eines weitern Publikums zur Einweihung des « Studersteins », eines mächtigen Gneisblocks, der die Inschrift trägt: « Dem Andenken/des Alpenforschers/Gottlieb Studer/1804-1890/die Sektion Bern S.A.C./ MDCCCLXXXXIII ». Der mit Alpenrosen und Edelweiss bekränzte Stein wurde beim Bau des Inselspitals der alten Moräne des Aaregletschers entrissenen und unter Mithilfe von Sektionsmitglie- dem « mit Winden und mit Sparren hieher auf schwankem Karren » - wie Lehrer Spiess in seinem Prolog deklamierte -, das heisst nach dem Eichplatz verbracht. Der Sektionspräsident, Dr. Heinrich Dübi, pries in einer schwungvollen Weiherede die Tätigkeit Gottlieb Studers, « des geradezu klassischen Monographen seiner zahlreichen Bergreisen ». Die vorwärtsstürmende Jugend - auch die heutige Bergsteigerjugend - sucht sich gerne vom Hergebrachten, vom Gestrigen zu distanzieren. Doch darf unsere Hundertjahrfeier auch einmal eine Zwiesprache werden zwischen unserer Generation und den Männern vor hundert Jahren, in denen zuerst die Flamme der Bergbegeisterung emporschlug. Unter den Bannerträgern und Wegbereitern des Alpinismus ragt ganz besonders dieser Mann hervor, der jede freie Stunde der Erforschung der Alpen widmete.

Herkunft Gottlieb Studer entstammte der am Ende des 16. Jahrhunderts aus Grafenried ( BE ) nach Bern eingewanderten Familie, deren Nachkommen sich besonders als Kaufleute und Gewerbetreibende, später als Apotheker, Theologen und Naturforscher betätigten. Sie gehörten nicht zu den regiments-fähigen bürgerlichen Familien, bekleideten aber allerlei öffentliche Ämter und versahen wichtige Stellen im bernischen Kirchendienst. Im 18. und 19. Jahrhundert stellten sie nicht weniger als fünf Universitätsprofessoren für Theologie, Altphilologie und Naturwissenschaften, darunter den Begründer der alpinen Geologie, Professor Bernhard Studer ( 1794-1887 ). Im Zeitalter der Aufklärung war allen Vertretern der Familien Studer, auch den Theologen, die Liebe zur Natur und zu den Naturwissenschaften im Blut; sie waren Mitgründer und Förderer der Naturforschenden Gesellschaft und des Naturhistorischen Museums in Bern1.

Der Vater Gottliebs, Sigmund Gottlieb Studer ( 1761-1808 ), musste krankheitshalber in jungen Jahren seine medizinischen Studien in Göttingen aufgeben und den Beruf eines Notars erlernen. Im Jahre 1794 verheiratete er sich mit einer Schwägerin von Jeremias Gotthelfs Vater ( Sigmund Friedrich Bitzius ), der Jungfer Margaretha Kupfer von Bern, die sehr aufschlussreiche Notizen über das Leben ihres Mannes hinterliess 2.

Die gewaltigen politischen Umwälzungen während der Revolutionsjahre trennten die jungen Eheleute von Bern. Zur Zeit der Helvetik amtete Sigmund Studer als Distriktssekretär in Steffisburg und wurde 1803 « von dem hochehrbaren Oberamtmann und löblichen Amtsgericht auf das ehrenvollste » mit dem Sekretariat des Oberamtes Signau bedacht, worauf er sich in Langnau i. E. niederliess.

Um 1804 schreibt seine Frau Margaretha in ihr Notizbuch: « Den 5.August bekam ich einen Sohn namens Gottlieb Samuel », und später: « Den 2. Jenner wurden dem Gottlieb die Kuhpocken eingeimpfter bekam solche recht gut und vollkommen » Doch scheinen die Pockenimpfungen nicht bei allen ihrer sieben Kindern gut gewirkt zu haben, denn drei Knaben und ein Mädchen wurden im frühen Kindesalter dahingerafft, ein erschütterndes Zeugnis für die damalige Kindersterblichkeit.

Die Familie wurde auch weiterhin vom Schicksal schwer verfolgt, denn schon vier Jahre nach der Geburt Gottliebs, im Jahre 1808, starb der Vater, erst 47jährig, an einer « Faulfieber » benannten Krankheit; er wurde unter grosser Anteilnahme der Bevölkerung des Oberamtes Signau in Langnau beigesetzt.

1 Siehe den sehr aufschlussreichen Beitrag über die Familie Studer von Hans Häberli in der « Berner Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde », 1959.

2 « Kurze Lebensgeschichte meines Mannes », Bibl. der Sektion Bern SAC.

So stand Frau Margaretha mit ihren drei am Leben gebliebenen Kindern, zwei Mädchen und dem Knaben Gottlieb, allein; sie zog nach Bern zu ihren Verwandten, wo Gottlieb von 1810-1818 die « Grüne Schule » besuchte. Ein anderthalbjähriger Aufenthalt in Neuenburg verschaffte dem lernbegierigen Knaben die nötigen Kenntnisse in der französischen Sprache in Wort und Schrift. Nach Bern zurückgekehrt, besuchte er nochmals drei Jahre die obern Klassen der « Grünen Schule », wo neben den Hauptfächern Muttersprache, Mathematik und Latein auch die musische Ausbildung gepflegt wurde.

Berufliche Laufbahn Die Berufswahl scheint Mutter und Sohn kein Kopfzerbrechen verursacht zu haben; wie sein Vater wollte er sich zum Notarius ausbilden lassen. Vielleicht fehlten seiner verwitweten Mutter auch die nötigen Mittel, um dem aufgeweckten Sohn ein wissenschaftliches Studium zu ermöglichen.

Während seiner dreieinhalbjährigen Lehrzeit in der Amtsschreiberei Bern besuchte er einen Jahreskurs über Zivilrecht bei Professor Schnell und arbeitete dann bis zum Jahre 1829 zuerst als Vo-lontär und dann als Substitut mit einem Jahresgehalt von 250 Livres 1 auf den Amtsschreibereien Bern und Langnau. Am Ende dieser Periode legte er auch das Notariatsexamen ab und leistete den Amtseid.

Nach der Restauration im Kanton Bern folgten in den dreissiger Jahren die politischen Kämpfe um die Volksrechte, um die Gleichberechtigung von Stadt und Land, um Glaubens- und Presse-freiheit und das Ringen um grössere Einheit in der Eidgenossenschaft. In seinen Schriften merkt man wenig von diesen Kämpfen; Gottlieb Studer war ein guter Patriot, aber kein Politiker. In seinem Beruf galt er als sprachgewandt und in allen Dingen gut bewandert, so dass die in der politischen Färbung oft wechselnden Regierungen seine Fähigkeiten immer zu schätzen wussten. Im Jahre 1831 wählte ihn der Regierungsrat als Sekretär des Justiz- und Polizeidepartementes mit einer Besoldung von L 1500. Damit konnte er auf eine gesicherte Existenz rechnen und an eine Heirat denken.

Auch nach der Einführung der neuen Bundesverfassung erinnerte sich der Regierungsrat des Kantons Bern seiner Tüchtigkeit und wählte ihn im Herbst 1850 zum Regierungsstatthalter des Amtsbezirks Bern. Er versah dieses arbeitsreiche und verantwortungsvolle Amt bis 1866. Nach seinem Rücktritt konnte er sich in körperlicher und geistiger Gesundheit nun ganz seinem Jugendtraum, der Erforschung der Alpen, widmen. Bis dahin standen dem nun 62jährigen Beamten nur die Feiertage und die Amtsferien im Monat August zur Verfügung, und oft genug konnte er sich nicht von der Berufsarbeit losreissen. « Frei! Frei wie der Vogel in der Luft, frei von dem Drucke des ungewohnten, schweren Amtes, von den Sorgen der Verantwortlichkeit », jubelt er am 11. August 1851, als er endlich zu einer längeren Bergreise gerüstet, im Postwagen nach Thun fährt2.

Dass man einen solch wertvollen Menschen mit seinen vielseitigen Kenntnissen und Fähigkeiten, verbunden mit einem selbstlosen Arbeitswillen, auch zum Dienst in der Öffentlichkeit, vor allem in gemeinnützigen und wohltätigen Institutionen als Verwalter, Kassier, Sekretär usw. berief, musste er genugsam erfahren. Trotz der Arbeitslast, die ihm sein Beruf aufbürdete, konnte er mit seiner angeborenen Hilfsbereitschaft nie nein sagen, auch wenn ihm das neue Amt nur Arbeit und keinen Lohn eintrug. Im Laufe der Jahre beanspruchten gegen zwanzig gemeinnützige, kirchliche, bürgerliche oder berufliche Organisationen, Vereine und Gesellschaften seine Dienste, und ausserdem wählte ihn die Obere Gemeinde nach seinem Rücktritt vom Amt im Jahre 1866 als Grossrat.

1 1 Livre ( L = alter Berner Franken zu 10 Batzen ) entsprach damals etwa der Kaufkraft von 8 heutigen Franken.

2 Manuskript 8, S. 151.

Bernischer Offizier Nach dem Geist, der aus seinen Schriften spricht, war Gottlieb Studer sicher keine militärische Natur; doch entzog er sich der Wehrpflicht nicht, Das II. bernische Auszügerbataillon war die Einheit, in welcher sich seine militärische Laufbahn vollzog. Schon nach der Kadettenschule in der « Garnison » Bern wurde er im Frühjahr 1824 zum Unterleutnant brevetiert. 1830 zum Oberleutnant und 1832 zum Hauptmann befördert, übernahm er das Kommando der « IV. Central-Kompagnie » des genannten Bataillons. Als Offizier machte er mit den bernischen Truppen im Auftrag der Tagsatzung mehrere « Feldzüge » mit, die den Zweck hatten, Unruhen in den verschiedenen Gebieten zu schlichten oder mit Gewalt zu unterdrücken. 1831 zog er mit seiner Kompagnie nach Neuenburg, wo die Republikaner die preussische Herrschaft abschütteln wollten, desgleichen 1833 in die Innerschweiz, wo leidenschaftliche Parteiwut das Land Schwyz zu entzweien drohte. Eine weitere bewaffnete Intervention machte er 1836 in den Jura mit.

Seine Schilderung des Feldzuges in die Innerschweiz entwirft ein romantisches Bild der damaligen militärischen Massnahmen 1. Im Juli 1833 hatte er bei herrlichem Wetter das Stockhorn und den Gantrisch bestiegen und entwarf weitere Reisepläne.

« Da erscholl plötzlich der Ruf an die vaterländischen Krieger, Trommelwirbel und Waffenge-klirr ertönten rings in allen Gauen, die eidgenössischen Banner wehten vom Aufgang bis gegen Niedergang... und die vereinten Scharen wurden ausgesandt, um Ruhe, Frieden und Eintracht in den getrennten Kantonen herzustellen.Auch mich traf der Ruf, und plötzlich sah ich mich aus dem stillen Herde des häuslichen Kreises hinausgeworfen in das Getümmel des Soldatenlebens.Doch abgesehen von den traurigen politischen Beweggründen gewährte mir dieser kleine Feldzug manche vergnügte Stunde, und viele angenehme Bilder der Erinnerung habe ich davon zurückgebracht... Nach mehreren angestrengten Tagesmärschen... in Luzern angelangt, wurde unser Bataillon und zwei Kompagnien Scharfschützen in 16 bis 17 geräumige Barken und kleinen Kähnen eingeschifft. Das Gewühl der Soldaten, das Geklirr der Schiffsketten,... die lauten Befehle des Kommandanten mischten sich unter die Brandung des Sees... Das Ganze bot eine seltsam nächtliche Szene dar, die von dem rötlichen Licht der grossen Laternen, deren eine auf jedem Schiff hochragend aufgestellt war, wunderbar beleuchtet wurde. Mitternacht war es, als wir vom Lande stiessen, und bald war des Sees Weite gewonnen... Unermüdlich kreuzte das leichte Ad-miralschiff in allen Richtungen hin und her. Der Tagesbefehl ward der Mannschaft vorgelesen, in allen Schiffen die Gewehre und das Geschütz scharf geladen; erwartungsvolles Schweigen herrschte, jeder war zum Handeln, wenn es sein musste, bereit. Doch ungefährdet ging bald die Landung vonstatten, und im nämlichen Augenblick, als wir im Angesicht von Brunnen das Ufer betraten, rückten auf verschiedenen Seiten die Bataillone der Eidgenossen in den Kantonen Schwyz... Lieblich war die erste Nacht auf der freien Wiesenhöhe bei Ingenbohl... anders die zweite; in Strömen rasselte der Regen herunter. Scharenweise drängten man sich um die Feuer, um nicht vor Frost und Nässe zu erstarren. Auf der blossen Erde gelagert erwartete man in düsterem Schweigen des Tages Anbruch. » Nach der unblutigen Schlichtung erfolgte der Heimmarsch des Détachements über Sursee—Huttwil—Burgdorf nach Bern.

Zum Abschluss seiner Offizierslaufbahn ernannte ihn der Regierungsrat im Jahre 1838 zum Au-ditor des Kriegsgerichts unter Beförderung zum Major. Dieses Amt blieb ihm, bis er 1850 altershalber zur Reserve versetzt wurde.

»Manuskriptes. 119. 182 Der Alpenforscher Man muss die beruflichen, militärischen und sozialen Leistungen Gottlieb Studers, vor allem auch seinen von hohem Pflichtgefühl getragenen Einsatz auf diesen Gebieten kennen, um seine Lebensarbeit als Alpenforscher richtig würdigen zu können. Die topographische Erschliessung der Alpen war sein eigentliches Lebensziel, für das er nicht nur seine freien Tage, sondern vielfach auch die Nachtzeit verwendete. Es ist unmöglich, auf einigen Seiten die Bergreisen Studers auch nur in gedrängter Form zu schildern. In seinem « Verzeichnis der von mir erstiegenen Berghöhen über 1300 Meter » nennt er 643 Gipfel und Pässe, die er in den 63 Jahren seiner bergsteigerischen Tätigkeit betreten hat. Eine nicht geringe Zahl davon hat er mehrmals bestiegen: Stockhorn 17 mal, Gurnigel 24 mal \ Die Bergreisen der zwanziger Jahre, die ihn vornehmlich in die Voralpen führten, steigerten nur noch seine Bergbegeisterung. Nach und nach wagt er sich in das Herz der Berner Alpen, überschreitet die Grimsel, sieht sich die Walliser Täler an, macht eine längere Reise ins Piémont und in die Savoyer Alpen, erkundet das Trift- und Gauligebiet, dringt vor ins Finsteraargebiet bis auf die Strahlegg, doch unternimmt er erst im Jahre 1842 die Besteigung eines Viertausenders: Am 14. August steht er mit seinem Freunde Fr. Bürki und den Führern Johann von Weissenfluh, Melchior Bannholzer und den Brüdern Kaspar und Andreas Abplanalp auf der Spitze der Jungfrau.

In den fünfziger- und sechziger Jahren zieht er die Kreise immer weiter, überschreitet den Petersgrat, den Col d' Hérens, den Adlerpass, besteigt den Monte-Rosa-Kamm, den Monte Leone, den Grand Combin, Glärnisch und Tödi, Dammastock, Studerhorn und Finsteraarhorn. Aber auch ins Ausland wagt er sich, besteigt Zugspitze und Grossglockner, den Snowdon in Wales, den Vesuv und mehrere Gipfel in den Pyrenäen und in Norwegen. Als Krönung seiner alpinistischen Laufbahn besteigt der Achtundsechzigjährige den Mont-Blanc! Welch reiches Bergsteigerleben, welche Kraft-und Willensanspannung und welche Erlebniswelt liegt zwischen seiner ersten Bergreise auf den Creux du Vent im Jahre 1819 und seiner letzten auf das Niederhorn bei Beatenberg im Jahre 1885!

Die Bergreisen Gottlieb Studers haben bis heute zwei ausführliche Würdigungen erfahren: Von H. Dübi in der 2. Auflage « Über Eis und Schnee » als Vorwort 1896 und von Dr.Ernst Jenny als Anhang seiner Zusammenstellung « Über Gletscher und Gipfel », erschienen im Jahre 1931.

In der Bibliothek der Sektion Bern liegt wohlversorgt und von unsern Bibliothekaren sorgsam behütet der gesamte literarisch- und topographische Nachlass Gottlieb Studers. Jeder Alpinist, der diese Sammlung auch nur oberflächlich durchstöbert, ist vom Umfang, von der Sauberkeit und Gründlichkeit dieser Lebensarbeit zutiefst beeindruckt. Der Nachlass umfasst: 18 Bände Manuskripte mit 128 in sauberer Fraktur auf rund 4000 Seiten niedergeschriebenen Schilderungen über Bergreisen im In- und Ausland, 9 Mappen mit über 900 Panoramen und Bergskizzen, 20 Skizzenbücher im Format 10/16 cm mit 1185 Bleistift- und Tuschskizzen aus den Jahren 1821 bis 1881.

Dr.Ernst Jenny schreibt über diesen Nachlass: « Das sorgfältig abgefasste Werk ist einzigartig und sollte als reichhaltigstes Dokument der Pionierzeit des Alpinismus restlos einmal gedruckt werden, samt Panoramen und vielen Skizzen 2. » Gewiss würde ein solches Unterfangen schon der Kosten wegen heute nicht mehr möglich sein; doch wäre die Sammlung einer grösseren Arbeit wert, um wenigstens die wichtigsten Dokumente den interessierten Bergsteigern, Topographen und 1 Manuskript Bibl. Sektion Bern SAC.

2 « Über Gletscher und Gipfel », S. 432.

Historikern leichter zugänglich zu machen, da doch die meisten Veröffentlichungen vergriffen sind. Bevor wir auf den Schriftsteller und Panoramazeichner Studer näher eintreten, wollen wir uns kurz die Reiseschwierigkeiten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erinnerung rufen. Nicht nur galt das Bergsteigen in den Augen vieler Menschen als ein Spiel mit dem Tode, sondern es war schon eine umständliche Angelegenheit, in das engere Gebiet der Alpen zu gelangen. Die Bahnstrecke Bern-Thun wurde erst im Jahre 1859 eröffnet, so dass der Berggänger genötigt war, bis zu diesem Zeitpunkte entweder die kostspielige Pferdepost zu benützen oder den Weg zu Fuss zurückzulegen. Studer hat diesen Weg -sei es durch das Gürbe- oder Aaretal - in seinen Jüngern Jahren wohl an die zwanzigmal unter die Füsse genommen und setzte dafür immer 5 Stunden ein. Auf dem Rückweg benützte er oft den Wasserweg: « Und auf den wilden Fluten der Aare nah'n wir der Heimat », schreibt er 1821 zum Abschluss seiner « Reise ins schweizerische Hochland 1 ». Den Weg von Thun nach Spiez und Unterseen und weiter nach Brienz legte er gewöhnlich mit dem Ruderboot und später mit dem Dampfschiff zurück. Der erste Thunerseedampfer wurde 1835, ein Brienzerseedampfschiff 1840 in Betrieb genommen. Nach Grindelwald und Lauterbrunnen führten zu Lebzeiten Studers keine Bahnen, ebensowenig wie durch das Simmental.

Von einer langen Reise ins Gotthardgebiet mit Prof. Hugi im Jahre 1831 zurückkehrend, verabschiedete er sich in Luzern von seinem Freunde und trat die Reise nach Bern zu Fuss an; offenbar mangelte es ihm am nötigen Geld für einen Wagen, denn in Altdorf wurden ihm - vermutlich von seinem Träger - « mehrere Goldstücke gestohlen»2. Immerhin mietete er im Entlebuch für eine Strecke ein « Rytwägeli »; doch ob Schüpfheim riss das Pferd aus und jagte schnaubend den langen, steilen Stalden hinunter. Plötzlich bog es seitwärts in einen steilen Nebenweg ein, wobei der Wagen umstürzte und die Insassen « sanft auf das Rasenbord hinsetzte. » Glück im Unglück! So wanderte er denn wieder zu Fuss über Kröschenbrunnen-Langnau-Zäziwil nach Bern zurück. Gewissenhaft führt er nach jeder Reise Buch über die zurückgelegten Wegstunden. Vergleichen wir in einigen Beispielen die damaligen Reisezeiten mit den heutigen, so finden wir etwa für das Jahr 1846:

Bern-Thun Bern-Meiringen Bern-Kandersteg 1846 5 Std.

16 Std.

13 Std.

1962 22 Min.

2 Std.

79 Min.

1846 1962 Bern-Saanen 17 Std.

2% Std Bern-Zürich 13Î4 Std.

li/2Std Bern-Genf 15 Std.

13/4 Std Für Zürich und Genf sind in dieser Tabelle die Pferdepost-Fahrzeiten, für die andern Orte Marschzeiten von Bern aus zu verstehen. Nach seinen Notizen beanspruchte z.B. eine Reise auf das Aermighorn, alles zu Fuss von Bern aus, 28 y2 Stunden.

Im Jahre 1849 übernahm der Bund das Postwesen; vorher erhob jede kantonale Post ihre eigenen Taxen und Fahrgelder, wozu noch Zölle, Weg- und Brückengelder kamen. Das Posttaxengesetz von 1849 brachte eine Vereinheitlichung; je nach Platz kostete die Wegstunde 65-80 Rappen, für Alpenposten 100-115 Rappen 3.

Viel schwerwiegender als die Umständlichkeiten der Reise war das Fehlen von Unterkünften im Gebirge. Klubhütten gab es keine und Berggasthäuser höchstens auf vielbegangenen Passüber- 1 Manuskript « Reise ins schweizerische Hochland », 1821.

2 Er nennt einen übelbeleumdeten Träger mit Namen, Manuskript 4, S. 93, 96 und 97.

3 Geschichte der Schweizer Post, S. 321.

gangen. In seiner unglaublichen Anspruchslosigkeit war Studer immer froh, wenn er nur ein Dach über dem Kopf hatte, sei es auf der harten Pritsche einer Sennhütte, auf dem Heulager eines Walliser Stadels, in einem Stall oder gar auf dem nackten Fussboden am Herdfeuer der Sennen. Oft verbrachte er einige Nachtstunden mit seinen Führern im Biwak unter einer Balm oder unter einem improvisierten Zelt.

Dazu kam die Unzweckmässigkeit der Ausrüstung. Beschlagene Schuhe und ein eisenbeschlagener langer Bergstock waren durch alle Jahre hindurch seine ganze bergtechnische Ausrüstung. Einen « Strick » verwendeten seine Führer nur über gefährliche Gletscher und an steilen Firnhalden. Allerdings mied er die als gefährlich geltenden Hochgipfel wie Matterhorn, Schreckhorn, Zinalrothorn; immerhin bestieg er mit seiner primitiven Ausrüstung eine ganze Anzahl respektabler Gipfel, wie wir oben gesehen haben. Dass er in den mehr als 60 Jahren seiner Bergreisen nur einmal einen Unfall erlitt - beim Abstieg vom Campo Tencia im Jahre 1867 brach er infolge Ausgleitens einen Arm -, zeugt für die Vorsicht und Bergtüchtigkeit dieses Mannes.

In den Schilderungen seiner Besteigungen fällt einem auf, wie er mit den Jahren eine eigene Technik entwickelt; anschaulich beschreibt er im Jahre 1831 die Überschreitung eines Bergschrundes am Gauligletscher. Noch ausführlicher schildert er 1843 das stehende Abfahren auf der Firnflanke der Altels mit Verwendung des Bergstockes: « Hat man den Oberleib zu sehr vorgebogen, was gewöhnlich bei ängstlichen Personen geschieht, so hindert diese Stellung den raschen Gang; biegt man den Oberleib zu sehr rückwärts, so ist man dem Ausgleiten ausgesetzt, was oft gefährliche Folgen haben könnte. » Eindringlich warnt er davor, diese Technik da anzuwenden, wo der Auslauf des Firnhangs unsichtbar, durch Felsbänder unterbrochen oder mit Firnschründen durchzogen ist \ So sehr Gottlieb Studers Bergsteigen zur Hauptsache topographischen Zwecken diente, sah er die Bedeutung einer sichern und zweckmässigen Technik ein. Einiges wird er in dieser Hinsicht von seinen Führern gelernt haben, denn er unternahm keine grössere Besteigung ohne Führer; die führerlose Alpinistik war eben noch nicht angebrochen. Doch war es im Anfang des 19. Jahrhunderts noch eine schwierige Sache, für höhere Gipfelbesteigungen kundige Männer zu finden, die mit der Gegend und den Gefahren vertraut waren und Entschlossenheit und Ausdauer mit Vorsicht und Kraft verbanden. Oft musste er mit Gemsjägern, Strahlern oder Schafhirten, deren Ortskenntnis sich gewöhnlich auf einen engen Kreis beschränkte, vorliebnehmen. Hatte er einmal die guten Qualitäten eines Führers erkannt, so Schloss er mit ihm treue Freundschaft. Diesen Vorzug genossen vor allem die Oberhasler Johann von Weissenfluh, Melchior Bannholzer und die Brüder Abplanalp sowie Moritz und Benjamin Felley aus dem Val de Bagnes, die ihn auf vielen Bergfahrten begleiteten.

Im Zeitalter unserer hervorragenden neuen Landeskarte können wir uns heute schwer vorstellen, wie schwierig es war, sich im Gebirge mit den unzähligen Gipfeln und Tälern zurechtzufinden. Die phantastischen Beschreibungen und Karten Gottlieb Sigmund Gruners in seinem dreibändigen Werk « Die Eisgebirge des Schweizerlandes », erschienen um 1760, in denen viel Richtiges neben allerlei Unsinn vorkommt, bildeten lange Zeit die Grundlage für die topographischen Kenntnisse der Alpen. Als Studer seine Reisen begann, war dieses Werk bereits überholt. Ihm standen aber die Schriften der Herren Meyer von Aarau, Wyss, Rohrdorf, Hugi und Desor, die sich alle auf die Aufnahmen von Ing. J. H. Weiss um die Jahrhundertwende ( 1800 ) stützten, zur Verfügung. Diese waren im Meyerschen Relief und in dessen Atlas verwertet, der trotz anschaulicher Darstellung der Gebirge und Gletscher noch mancherlei geographische Unrichtigkeiten enthielt.

Noch schlimmer stand es mit den topographischen Kenntnissen in den Walliser Alpen. « Den Mangel an geeigneten Karten ersetzte bei Studer oft der geniale Blick für Örtlichkeit und Richtung », 1 Manuskript 7, S. 137 ff.

schreibt Dr. Dübi, der ihn ja persönlich gut kannte 1. Zu den Reiseschwierigkeiten gehörte auch das verworrene Münzwesen. Bis zur Vereinheitlichung im 1850 hatte jeder Kanton seine eigenen Münzen, und es soll im heutigen Gebiet der Schweiz gegen 300 verschiedene Münzsorten gegeben haben. Der neue Franken räumte mit diesem für die Reisenden höchste Unzukömmlichkeiten schaffenden Unfug auf. Die Umrechnung hiess: 7 alte Franken ( L ) sind gleichwertig mit 10 neuen Franken. Damit gehörte der alte Berner Batzen der Vergangenheit an, ebenso das Pfund, der Gulden, die Krone, der Thaler und die Dublone.

Noch vieles wäre aufzuzählen, das die Bergsteiger zur Zeit Studers entbehren mussten; denken wir nur an die heutigen Autokurse in die Bergtäler hinauf im Gegensatz zu den frühern Pferdeposten, an die Berg- und Seilbahnen, an Telephon und Wetterdienst! Von den Pionieren des Alpinismus wurde unendlich mehr an körperlichem Einsatz, an Zeit und Geld verlangt als vom heutigen Bergsteiger. Studer war bis in sein hohes Alter ein Berggänger von ungemeiner Zähigkeit und Ausdauer; als er mit seinem Freunde, Professor Melchior Ulrich, dem grossen Alpenforscher aus Zürich, und dem Medizinstudenten G. Lauterburg mit dem bewährten Glarner Führer Madutz von einer 18tägigen Reise über die Gemmi nach Saas--Zermatt—Monte Rosa—Evolena—Arolla—Bagnes wieder über die Gemmi zurückkehrte, schrieb er: « Ungeachtet des entsetzlichen Windsturmes, der finsteren Nebel auf den Höhen und des frischgefallenen Schnees passieren wie noch die Gemmi. Es ist eben keine Lustpartie! Von der Daube bis unterhalb der Winteregg müssen wir im Nebeldickicht bis über die Knöchel durch eine Masse frischen, halbaufgelösten Schnees waten. Die Gegend der Spitalmatten gleicht vollkommen einer Winterlandschaft. Glücklich erreichen wir Kandersteg und am folgenden Tage Bern... » 2 Der Panorama- und Landkartenzeichner Die Grundlage für die über 900 Panoramen Gottlieb Studers bildeten die Zeichnungen in seinen 20 Skizzenbüchern. Die Standorte wechseln von der Umgebung Berns über die Voralpen bis zu den höchsten Alpengipfeln, vom Mont-Blanc-Gebiet bis zu den Ostalpen, ja von den Pyrenäen über England bis nach Norwegen. Im Format wählt er bei einer Höhe von 12-20 cm Längen bis zu vier Metern ( vom Gipfel des MonteGeneroso, 1869 ). Bei seiner spärlich bemessenen Freizeit musste er in Jüngern Jahren für die saubere Ausführung der Zeichnungen vermutlich die Nachtzeit bei schlechtem künstlichem Licht verwenden.

Durch Schraffierungen und Tonabstufungen mittelst verdünnter Tusche wusste er Felspartien und Schneehänge erstaunlich klar darzustellen und die nötige Plastik in die Zeichnung zu bringen. Gewiss war Studer mehr Techniker als Künstler; der letztere kam mehr in seinen literarischen Werken zur Geltung. Ihm war immer die topographische Genauigkeit und die Zuverlässigkeit der Bergnamen das Wichtigste.

Selten deutet er an, wann und wo er gezeichnet hat; doch verraten seine 20 Skizzenbücher mit den über 1000 Zeichnungen, dass er überall, auf Gipfeln, Gräten und Passhöhen, beim Auf- und Abstieg das Skizzenbuch zur Hand nahm. Der Zustand des Zeichnungspapiers verrät, dass er das Zeichnen auch bei Regen und Schneefall nicht unterlassen konnte. Ein ausserordentlich scharfes Beobachtungsvermögen, der Sinn für Proportionen und die Befähigung, mit einigen hingeworfenen Strichen die charakteristische Form einer Berggestalt festzuhalten, während sich seine Kameraden und Führer nach Erreichung des Zieles am mitgebrachten Proviant gütlich taten, ausruhten und die Aussicht bewunderten, liessen ihn Hunger, Kälte und Müdigkeit vergessen. « Wie oft hatte ich mir gewünscht, 1 « Über Eis und Schnee », 2. Auflage, S. 4.

2 Manuskript 8, S. 123/124.

wenn ich einen hohen Alpengipfel bestiegen hatte, stundenlang auf demselben zu verweilen, um mich so ganz den gewaltigen Eindrücken und dem Studium des Panoramas hinzugeben und mit dem Stifte die Formen aufzuzeichnen - während ich auf diesen Genuss verzichten musste, weil der lange Rückweg bis zu einem erträglichen Nachtlager keinen Verzug erlaubte », schreibt er an Dr. Th. Simler \ Um aus grosser Entfernung die schwer unterscheidbaren, kulissenartig ineinander geschachtelten Bergketten richtig zu erkennen, verwendete er meistens seinen « Frauenhofer », d.h. ein Frauenhofer-sches Fernrohr.

Sein ganzes Können im Zeichnen schuf er aus sich selbst; nie hatte er Gelegenheit, eine Kunstschule zu besuchen oder sich als Graphiker und Kartograph ausbilden zu lassen. Ohne Zweifel beruht sein grosses Talent - neben beharrlicher Übung und nie erlahmendem Fleiss- auf Vererbung. Sein Vater, Sigmund Gottlieb Studer, war ein begeisterter Bergsteiger mit einer ausgesprochenen zeichnerischen Begabung. Er unternahm über hundert kleinere und grössere Bergreisen in die Stockhornkette und in die Gegend südlich des Brienzersees. Er sammelte alte Volkslieder, Kuhreigen und Sagen, beschrieb alte Sitten und Volksbräuche.Vor allem aber hinterliess er seinem Sohn eine grosse Zahl von Zeichnungen einzelner Berge und Panoramen ganzer Bergketten, die sich durch grosse Zuverlässigkeit sowohl in den Bergformen als auch in der Namengebung auszeichneten.

Aus den Jahren 1826-1829, die der Sohn als Substitut in Langnau zubrachte, liegen über 20 topographische Skizzen aus dem Napfgebiet vor, die er in einer « Karte von Trub » verwertete. Diese von einem Laien hergestellte Karte, die alle bisherigen an Genauigkeit und Klarheit über die Gräben und Krachen des Emmentals übertraf, veranlasste die « wohllöbl. Gesellschaft zu Metzgern », dem jungen Verfasser eine silberne Medaille zu schenken.

Gleich wie seine Bergreisen an Höhe und Ausdehnung zunahmen, wuchsen auch Zahl und Qualität der Panoramen und kartographischen Arbeiten. In den dreissiger und vierziger Jahren zog er seine Kreise in die Berner Hochalpen, später nach der Innerschweiz, ins Bündnerland und Wallis. Als Resultat seiner Erforschung der südlichen Walliser Täler gab er 1849 eine Karte über einen Teil und 1853 « Die Karte der südlichen Walliser Täler, frei gezeichnet nach topographischen Skizzen mit Benutzung der eidgenössischen Aufnahmen und Berchtolds Triangulation » heraus. Sie umfasste im Maßstab 1:100 000 das Gebiet zwischen dem Grossen St. Bernhard und dem Monte Leone. « Es war ein für die damalige Zeit unübertreffliches Werk », sagte Dr. Dübi an der Sektionsversammlung vom 7. Januar 1891. Daraufhin wurde Gottlieb Studer vom Regierungsrat in die Kartierungs-kommission und in diejenige für richtige Schreibung der Ortsnamen gewählt.

Uns Heutigen, denen neben der neuen Karte eine schier nicht zu überblickende alpine Literatur zur Verfügung steht, mag die peinlich genaue Darstellung einzelner Gipfel und Bergketten fast übertrieben anmuten. Doch müssen wir verstehen, dass bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wenig zuverlässige Literatur vorhanden war, ganz abgesehen von den überhöhten und phantasievollen Zeichnungen; deshalb waren die Studerschen Panoramen sehr gesucht und wurden sogar an der Landesausstellung 1883 in Zürich ausgestellt.

Es wäre ein vergebliches Bemühen, wollten wir auch nur die wichtigsten seiner 900 Panoramen und über 1000 Einzelskizzen nennen und würdigen. Der Katalog der Berner Sektionsbibliothek gibt darüber nach Standort, Entstehungsjahr und Art der Technik Auskunft.

Der Schriftsteller Erst in seinen Schriften lernt man Gottlieb Studer wirklich kennen. Nach jeder Exkursion bringt er seine Erlebnisse zu Papier, schildert meisterhaft Berge und Täler, Tiere und Menschen und ver- 1 Dr. H. Dübi, Die ersten fünfzig Jahre der Sektion Bern SAC, S. 10.

steht, eine Wettersituation, einen schwierigen Aufstieg durch träfe Wortbildungen darzustellen. Seine Aufzeichnungen reichen bis ins Jahr 1819 zurück, als der Fünfzehnjährige den Creux du Vent bestieg. Seine erste Reise ins « schweizerische Hochland » unternimmt er im Jahre 1821; sie führt ihn über Thun-Meiringen-Susten-Urseren-Furka-Grimsel-Unterseen wieder nach Bern zurück. In 680 numerierten, oft etwas holprigen Hexametern, die ein ganzes Heft füllen, schildert er seine und seines Freundes Erlebnisse 1:

« Droh'nde Gefahr und Beschwerden der Reise als Freunde zu teilen, Gingen wir schweigend einher, die Weite des Weges nicht achtend, Sehnsuchtsvoll den Blick nach den Eispyramiden wendend. Doch nun rötet der Strahl der Sonne die fliegenden Nebel, Fröhliche Helle verbreitet sich über das Dunkel der Fernen. Kurze Gespräche knüpfen sich an und verkürzen die Stunden... » Zum erstenmal betritt er auf dieser Reise einen wirklichen Gletscher, den kleinen Steingletscher am Susten:

« Blendend schimmert vor unserem Blick die Fläche des Eismeers, Gähnende Spalten weisen den finsteren Abgrund dem Auge; Unter den Fussen hört man Getös des verborgenen Stromes, Und die goldene Sonne beglänzet die Weite der Fläche. » Bis zum Jahre 1822 verfasst der Student der « Grünen Schule » und spätere Lehrling seine Reiseerlebnisse in gebundener Form und teilt sie in « Gesänge » ein, so die Reise auf den Niesen und auf « den Stockhorn ». Der Einfluss Hallers ist unverkennbar. Mehr noch hat es ihm Byron angetan; zweimal zitiert er dessen Verse, die so ganz seinem Geschmack und seiner Gemütsstimmung entsprachen:

« Wer sich des Hochlands Blau ins junge Herz geschrieben, Wird jeden blauen Gipfel lieben, In jedem Fels wird er ein Freundesantlitz grüssen, Und jeden Berg im Geist an seinen Busen schliessen. » In dem Masse, wie sich der Jüngling zum Manne entwickelt, ändert sich auch sein Stil; die oft etwas sentimental anmutenden literarischen Erzeugnisse der zwanziger Jahre verwandeln sich in die prächtigen poetischen Reiseschilderungen, über deren Meisterschaft sich Dr. Dübi - wohl der beste Kenner der alpinen Literatur des 19. Jahrhunderts - mehrmals ausspricht. Im Bericht über einen Ausflug in das Amt Schwarzenburg äussert sich Studer beim Anblick der Ruine Grasburg wie folgt2:

« Endlich erblickten wir die stolzen Trümmer der Feste, die trotzig und kühn auf unerschütterlichem Felsen erbaut, aus dem finsteren Tannendickicht emporragt... Gewaltig erheben sich noch die stolzen Mauern und Türme, auf senkrechten Felsenpfeilern gegründet, deren moosiger Fuss in den rieselnden Wellen des Flusses sich badet. » Trefflich weiss er auch die Romantik einer Nachtwanderung durch das Suldtal zu schildern; unverhofft steht er mit seinem Freunde vor dem Wasserfall des Suldbaches 3:

« Der plötzliche Anblick dieser zitternden Säule von Silberschaum, die von dem Mondstrahl magisch beleuchtet aus dem Tannendickicht der nächtlichen Kluft hervorschimmerte, überraschte die Wanderer. Dicht neben dem Fall vorbei schlängelte sich sodann der Weg auf einmal steil aufwärts. Hinter den nahen, engverschlungenen Berggestalten war der Mond verschwunden. Riesenhafte Tannen bekränzten die Talgehänge. Dichte Finsternis war eingetreten. Nur das Getöse des Bergstroms unterbrach die unheimliche Stille, bis es sich allmählich in der Tiefe verlor. Mittlerweile begann der Morgen zu dämmern... » Wenn es sich um genaue Berg-, Orts- oder Wegbeschreibung handelt, bleibt sein Stil ein Muster von Klarheit und Eindeutigkeit; so weiss er auf das eindrucksvollste Realität und Poesie miteinander zu verbinden.

1 Manuskript « Reise ins schweizerische Hochland », 1821.

2 Manuskript 1, S. 29.

8 Kommentar zum « Panorama von Bern », 1850, S. 115.

Äusserlich kennzeichnet sich in seinen Manuskripten ebenfalls die Entwicklung zum reifen Manne; die anfänglich schräggestellte Schulschrift verwandelt sich nach und nach in seine charakteristische, klare Steilschrift.

Ihm fehlt auch der Sinn für Humor nicht, namentlich wenn er die Sitten und Gebräuche der einfachen Bergbewohner schildert. Als er im August 1858 in Lourtier im Val de Bagnes mit seinen Begleitern Nationalrat Bucher und J. J. Weilenmann und den Führern Benjamin und Moritz Felley die Vorbereitungen für die Besteigung des Grand Combin traf, holte B. Felley eine gewaltige Hammelkeule, die zwei Jahre eingesalzen und ausgedörrt, mit einer halbzolldicken Fettrinde bekleidet war und einen penetranten Geruch verbreitete, der den Geruchsorganen auch in finsterer Nacht zum Wegweiser dienen konnte. Er warf das schwarze Ding in die brodelnde Suppe im Kessel über dem Feuer.

« Unterdessen verplauderten wir die Zeit, und als uns die Hausfrau von dem frischen Bouillon anerbot, nickten wir beifällig zu und freuten uns auf die dem Magen bevorstehende Labung. Aber arge Täuschung! Da erhielt jeder von uns einen zinnernen Teller voll dunkelgelber Brühe, die von starkriechendem Fett strotzte, und auf deren Oberfläche allmählich eine Menge kleiner brauner Dingerchen auftauchten und darin umherschwammen. Es schienen dies Käferlarven oder Maden zu sein... Man kann sich denken, wie sich unsere Gesichtsmuskeln zu reizenden Formen verzogen, als wir dieses Gericht geniessen sollten. Kaum gekostet, schob einer nach dem andern stillschweigend seinen Teller von sich weg und liess sich durch die fragende Miene der Wirtin nicht irre machen. Wir waren seit der kurzen Zeit unseres Hierseins noch keine echten Lourtianer geworden, um an einem solchen Festtagessen Wohlbehagen zu empfinden... * » Studer und der Sternenhimmel Studer war kein fleissiger Kirchenbesucher, obschon er längere Zeit das Amt eines Kirchgemeinde-präsidenten « Zum Heiligen Geist » versah. Er suchte Gott in der Natur und zog sich gern in die Einsamkeit zurück. Wie oft sucht er nach Einbruch der Nacht auf einem kleinen Spaziergang einen stillen Winkel auf, wo er ungestört das Wunder des Sternenhimmels betrachten und bewundern kann Auf all seinen Reisen vertraut er sich der « Obhut des Allerhöchsten » an, und selten schliesst er einen Reisebericht ab, ohne dem Allmächtigen für die Bewahrung vor Unglück zu danken. Die Errungenschaften der Astronomie beherrscht er als Laie erstaunlich gut, kennt alle Planeten, ihre Entfernung und Grösse und beobachtet ihre relativen Bewegungen. In seiner langem Abhandlung « Ideen über die Bewohnbarkeit der Planeten » sucht er nachzuweisen, dass nicht nur die Erde imstande sei, lebende Wesen hervorzubringen:

« Unser Sonnensystem... bildet ein eigenes, für sich abgesondertes System im unendlichen Himmelsraum. Die Erde ist eines der unbedeutenderen Glieder dieser himmlischen Familie. In Beziehung auf ihre kugelförmige Gestalt sind ihr alle übrigen Planeten ähnlich. Wie sie haben sie ihre Bahnbewegung, ihre Jahreszeiten, ihre Axendrehung, ihre Beleuchtung, ihre feste Masse und ihren Luftkreis... Sollte bei dieser unverkennbaren Harmonie eine so wesentliche Verschiedenheit in bezug auf ihre innere Organisation bestehen? Ist es nicht vielmehr denkbar und wahrscheinlich, dass jene äussere gesetzmässige Harmonie ihren Charakter auch in die engem Schranken der Vergleichung übertragen hat? Es wäre wahrlich der in der ganzen Natur sich verkündenden weisen und herrlichen Anordnung des Schöpfers unangemessen, dem Gedanken Raum zu geben, dass jene schönen Himmelskörper der Venus, des Mars, des Jupiters keine lebenden, beseelten Geschöpfe tragen sollten!

Alle angeführten Erscheinungen deuten dahin, mit gegründeter Vermutung schliessen zu dürfen, dass, wenn auch nicht vollkommen gleich organisierte und uns in jeder Beziehung ähnliche Wesen, jene mit unserer Erde zu einer abgeschlossenen Fixsternfamilie gehörenden Himmelskörper bewohnen, doch der Typus des Menschengeschlechtes in lebenden und beseelten Geschöpfen sich ausgedrückt befinde, welche ihren Wohnplatz auf jenen, uns so nahe verwandten Mitwelten haben.»8 1 « Berg- und Gletscherfahrten in den Hochalpen der Schweiz », Zürich, 1859, S. 124 ff.

2 Manuskript « Vermischte Aufsätze »: Ideen über die Bewohnbarkeit der Planeten, letzte Seite.

Am Schluss dieser Abhandlung steht - von fremder Hand geschrieben - eine längere Beurteilung der Studerschen Gedankengänge, der wir folgendes entnehmen:

« Ich stimme im allgemeinen den von dem Herrn Verfasser geäusserten Ansichten vollkommen bei und bin meinerseits nicht nur von der Bewohnbarkeit, sondern auch von der Bewohntheit der Weltkörper schon lange überzeugt. Freilich ist vielleicht nie zu hoffen, dass eine sinnliche Überzeugung hergestellt werde. » Wer der Kritiker ist, geht aus dem Manuskript nicht hervor; doch scheint er mit den damaligen Ansichten der Astronomen und Physiker vertraut zu sein, denn er zählt eine Reihe von wesentlichen Unterschieden zwischen den Planeten auf ( Dichtigkeit, Schwerkraft ). Jedenfalls zeugen diese Überlegungen sowohl des Verfassers als auch des Kritikers dafür, dass die Zeit der Aufklärung dem Gedankenflug der denkenden Menschen keine engen Grenzen zog ( 1837 ). Jules Verne war damals noch ein Kind von 9 Jahren.

Die Veröffentlichungen Einen Teil seiner Arbeiten hat Studer selber veröffentlicht, in Zeitungen und Zeitschriften, in Mo-nats- und Neujahrsblättern des In- und Auslandes. Zahlreiche Aufsätze finden sich in den Jahrbüchern des SAC ( ab 1864 ).

In Buchform erschien im Jahre 1843 das Werk « TopographischeMitteilungen aus dem Alpengebirge », eingeführt von seinem Vetter, dem Geologieprofessor Bernhard Studer. Die Publikation war versehen mit einem Atlas von Bergprofilen und trug den Untertitel « Die Eiswüsten und selten betretenen Hochalpen und Bergspitzen des Kantons Bern und angrenzender Gegenden. » Ein 250 Seiten starkes Büchlein in Taschenformat mit dem Titel « Das Panorama von Bern, Schilderung der in Berns Umgebung sichtbaren Gebirge », war ein ausführlicher Kommentar zu einem im Jahre 1790 von seinem Vater, Sigmund Gottlieb Studer, herausgegebenen Kunstblatt « Chaîne d' Alpes vue depuis les environs de Berne ». Das Panorama enthält nicht weniger als 124 vom Eichplatz aus sichtbare Gipfel, die der Sohn sechzig Jahre später ( 1850 ) nach geographischer Lage, Höhe, Entfernung von Bern in Wegstunden und Gesteinsart ausführlich beschreibt. Der Sohn Studer ist von der Zeichnung seines Vaters hochbegeistert, so dass er im Vorwort zum Kommentar u.a. schreibt *:

« Die später erschienen Alpenansichten aus Berns Umgebung von König, Schmid.Wagner usw.mögen ihren künstlerischen Wert besitzen, aber hinsichtlich der Richtigkeit und Treue der Gebirgszeichnung erreichen sie das Studersche Blatt nicht.Es fehlte diesen Künstlern eine Eigenschaft, welche der Herausgeber der Chaîne d' Alpes sich vorerst durch sorgfältige Forschungen an Ort und Stelle erworben hatte, nämlich eine umfassende und genaue Gebirgskenntnis... » So hat der Sohn die Arbeit seines für die Förderung der Alpenkunde zu früh verstorbenen Vaters weitergeführt.

Gemeinsam mit seinen Freunden, Prof. Melchior Ulrich, J.J. Weilenmann und H. Zeller, gibt er 1859/63 das zweibändige Werk « Berg- und Gletscherfahrten in den Hochalpen der Schweiz » heraus, das grossen Absatz fand und rasch vergriffen war.

Nach seinem Rücktritt vom Amt im Jahre 1866 konnte er sich nun ganz seinen schriftstellerischen Arbeiten widmen. Es entstand sein Hauptwerk « Über Eis und Schnee », in welchem er in seiner meisterlichen Art die höchsten Gipfel der Schweiz und die Geschichte ihrer Besteigung beschreibt. Bände I und II ( 1869/70 ) umfassen die Berner und Walliser Alpen, Band III ( 1870 ) die Berninagruppe und Band IV ( 1883 ) widmet sich als Ergänzungsband den « montanistischen Errungenschaften » der achtziger Jahre. Das ganze Werk fand grösstes Interesse im In- und Ausland, war es doch längere 1 « Das Panorama von Bern », 1850, S. 6. 190 Zeit die einzige Orientierungsquelle, auf die sich die « Führerlosen », die zu dieser Zeit erstmals auftauchten, verlassen konnten.

« Über Gletscher und Gipfel » bezeichnet sich eine letzte, grössere Publikation, eine Auslese aus dem aus dem Studerschen Schatz, die wir Dr. Ernst Jenny verdanken ( 1931 ).

Von den über 900 Studer'schen Panoramen sind bis heute etwa 50 veröffentlicht worden; sie finden sich meist als Beigabe zu den Jahrbüchern der ersten Dezennien. Die jüngsten Drucke, den Säntis und Kamer betreffend, stehen in den Clubnachrichten der Sektion St. Gallen, Hefte 1 und 2, 1960.

Gottlieb Studer und der Alpenclub Der Nimbus der Unzugänglichkeit der « über den Wolken » liegenden Gipfel und Gletscher war um die Mitte des 19. Jahrhunderts grösstenteils verschwunden. Mit dem Erscheinen der Dufour-Kartenblätter 1:100 000 ( 1833-1863 ) wuchs das Interesse der jungen Männer für das Hochgebirge. Durch seine Veröffentlichungen, namentlich durch seine Panoramen und seinen Kommentar zum Panorama von Bern hatte Studer Wesentliches zur Weckung dieses Interesses beigetragen. Um ihn scharten sich seine Bergkameraden Notar Dietzi, Fritz Bürki, der ihn 1842 auf der Besteigung der Jungfrau begleitet hatte, Dr. Abraham Roth, Redaktor am « Bund », Fürsprech R. Stuber und Wilhelm Brunner sowie eine kleine Gruppe « wissenschaftlich gebildeter und bergkundiger Männer », wie die drei Brüder Apotheker Rud.Lindt, Dr.med. Wilh.Lindt, Fürsprecher Paul Lindt, der Geologe Bernhard Studer, Ingenieur Edmund von Fellenberg, Philip Gösset sowie der Dozent für Chemie und Geologie, Dr. Theoder Simler. Als letzterer die Initiative zur Gründung einer « Schweizerischen Alpengesellschaft » durch ein Kreisschreiben an die « Tit. Bergsteiger und Alpenfreunde » anregte, erklärte sich Gottlieb Studer trotz seiner vielen Amtsgeschäfte bereit, zur Gründung die Hand zu bieten, indem er in einem längeren Schreiben die Notwendigkeit eines Zusammenschlusses begründete ( 19. Dezember 1862 ).

In seinem Bericht über die Gründungsversammlung des SAC in Olten am 19. April 1863 schreibt Dr. Simler, der erste Zentralpräsident:

« Bei der Wahl des Vorstandes fallen die Stimmen unter allgemeiner Akklamation auf Herrn Regierungsstatthalter G. Studer als Präsidenten, welcher indes freundlich dankend des bestimmtesten ablehnt.»1 Dagegen stellt er sich an der Gründungsversammlung der Sektion Bern am 15. Mai 1863 als Sektionspräsident zur Verfügung. Die Organisation dieser Sektion ist am Anfang denkbar einfach; Statuten hält man für überflüssig, und der Vorstand besteht nur aus dem Präsidenten, dem Kassier und einem Sekretär. Für dieses letztere Amt wird - der Zentralpräsident Dr. Simler gewählt!

Die Sektion Bern entwickelte sich in den ersten Jahren unter der Leitung Studers sehr erfreulich; nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ durfte sich das Mitgliederverzeichnis sehen lassen. Es waren da « wissenschaftliche, montanistische und künstlerische Kräfte in recht ansehnlicher Zahl » zu finden. Neben einer grösseren Zahl von Akademikern hatte die Sektion die Ehre - ein Zeugnis für den Umschwung des ehemals so aristokratischen Berns zur Demokratie -, die Spitzen der eidgenössischen Administration zu ihren Mitgliedern zu zählen: Die Bundespräsidenten Fornerod ( 1863 ) und J. Dubs ( 1864 ), die Bundesräte Knüsel und Welti, Bundeskanzler Schiess, Münzdirektor Escher und mehrere andere hohe Bundesbeamte.

Zehn Jahre leitete Studer die Sektion Bern; die Aufnahme junger Leute wurde an etwelche bergsteigerische Leistungen als Bedingung geknüpft. Dr. Dübi erzählte dem Schreibenden dies, dass ihm 1 Dr. H. Dübi, « Die ersten fünfzig Jahre SAC », S. 32.

Präsident G. Studer einen diesbezüglichen « freundlichen Wink » gab, als er sich 1868 mit stud. med. Emil Ober zum Eintritt in die Sektion Bern meldete, worauf die beiden Kandidaten am 9. September 1868 die Erstbesteigung des Grosshorns durchführten!

Bei seinem Rücktritt als Präsident 1873 ernannte die Sektion Gottlieb Studer zum Ehrenpräsidenten auf Lebenszeit.

Der Sinn des Bergsteigens gestern und heute Wir sehen, wie Studer lange bevor es Alpenvereine gab, mit seinen gleichgesinnten Freunden die Alpen durchforschte, das Geschaute und Erlebte mit Feder und Stift festhielt und damit unzählige Lücken der Alpenkunde ausfüllte. In dieser Periode der systematischen Erforschung der Hochalpen, in welcher die Naturforscher Hugi, Agasiz, Desor und ihre Freunde ihre geologischen, mineralogischen, glaziologischen und biologischen Untersuchungen anstellten, waren Studers Unternehmungen dem topographischen und kartographischen Fortschritt gewidmet. Seine Gipfelbesteigungen dienten vornehmlich diesem Zweck, weshalb er immer den einfachsten und ungefährlichsten Aufstieg wählte. Sein Ehrgeiz war nicht nach schwierigen Aufstiegen und Erstbesteigungen gerichtet, obschon er deren eine ganze Anzahl ausführte. Er mass ihnen höchstens topographische Bedeutung bei und setzte seine Person nie ins helle Licht. Nur eine Erstbesteigung erwähnt er ausdrücklich in seinen « Lebensereignissen »: die Besteigung des nach seinem Vetter Prof. Bernhard Studer benannten Studerhorns am 5. August 1864, seinem ( Gottlieb Studers ) 60. Geburtstag! Nahe unter dem Gipfel angelangt, machten seine Begleiter, Apotheker R. Lindt und die Führer Sulzer und Blatter, halt « und liessen mir in freundlicher weise die Ehre, zuerst den Fuss auf den jungfräulichen Gipfel zu setzen».1 Still entzückt gab er sich der reinen Lust des Augenblicks und der malerischen Schönheit der Umgebung hin, als plötzlich seine Begleiter unter Knall eine Flasche Champagner entkorkten, ihn beglückwünschten und aus seinen Betrachtungen in die Wirklichkeit zurückriefen.

Dass er selber neben seinen topographischen Studien die Erhabenheit der Gebirgsnatur voll zu würdigen weiss, beweist er in zahlreichen ästhetischen und philosophischen Gedankengängen, wie z.B. in einem Bericht über die Besteigung des Grand Combin ( 1858 ):

« Was treibt die Menschen hinauf über die Wolken auf die schwindlichten Zinnen hoch in den Himmel ragender Fels- und Eisberge?... Bei der geringeren Zahl der heutigen Bergerklimmer liegt wohl der Beweggrund in wissenschaftlicher Forschung oder in jenem tief im Innern der Brust liegenden Gefühl der Bewunderung der erhabenen Bilder der Alpenwelt... keine Mühe, keine Gefahr zu scheuen, um sich den köstlichen Genuss zu verschaffen, den ein Blick in diese wunderbare Welt von hohem, übersichtlichem Standpunkt aus gewährt... » 2 Dem lawinenartigen Anwachsen des « Alpensteigens » gegen Ende des 19. Jahrhunderts, das namentlich durch den Bau der Eisenbahnen gefördert wurde, stand Studer skeptisch gegenüber. Wohl konnte er sich an den tüchtigen Leistungen seiner jungen Freunde aus dem SAC begeistern, obschon deren Bergsteigen weniger wissenschaftlichen Zwecken diente. Ja, er bewunderte die Leistungen der emporwachsenden Führergeneration, der Christian Almer, Melchior Anderegg, Alexander Burgener usw. Selbst den Führerlosen zollte er, der nie ohne Führer auf grössere Fahrten auszog, seine Hochachtung. Er begriff, dass das wissenschaftlich-ästhetische Zeitalter des Alpinismus nach und nach dem Bergtourismus, der mehr technischen Periode mit vervollkommneter Ausrüstung Platz machen musste. Ja, er billigte sogar die technische Überwindung schwieriger Aufstiege, sofern die Ehrfurcht vor dem Berg nicht verlorenging oder wenn durch neue Routen auch neue topographische Erkenntnisse erschlossen wurden.

1 « Über Gletscher und Gipfel », S. 346.

2 « Berg- und Gletscherfahrten », Band I, S. 114.

JU

89 £wfô 5e/7e a«5 *m Manuskript « Bergreisen, Band 7 », von Gottlieb Studer aus dem Jahre 1842. Man beachte die saubere, gut lesbare Schrift, wie sie sich über alle seine Aufsätze hinzieht ( Originalgrösse ). Das Manuskript befindet sich im Archiv der SAC-Sektion Bern Scharf dagegen rechnete er ab mit den Touristen, die nur zur Befriedigung ihrer Ehrsucht und Eitelkeit in die Berge zogen:

« Viele jedoch wagen sich aus blosser Modesucht oder frivoler Neugierde und Renommisterei, ohne alle vorbereitenden Studien, ohne höhern Zweck, oft unter Gefahr ihres Lebens in jene Regionen... Sie grollen über ihre Führer, wenn unübersteigliche Hindernisse ihrem Fortkommen in den Weg treten. Kaum haben solche Leute einen gleichgültigen Blick auf die vor ihnen aufgerollte fremde Welt geworfen, so kehren sie dem Ziel ihres Strebens den Rücken. Auf diese Weise werden nicht selten Besteigungen des Mont-Blanc, des Monte Rosa, der Jungfrau und anderer hoher Berggipfel unternommen ihr Genuss steht in keinem Verhältnis mit den Opfern und Anstrengungen.»1 Damals gab es noch keine Nord wand-Spezialisten. Was würde wohl Gottlieb Studer zum Vortrag eines Nordwandbezwingers in der Sektion Bern gesagt haben, der also anfing:

« Dass das Gras grün ist, der Schnee weiss und der Himmel manchmal blau, wissen wir schon lange; gehen wir also gleich zur Sache! » Damit wollte er sagen, ihm sei der Berg reines Kletterobjekt, und er pfeife auf alles Gefasel über Ehrfurcht vor der Ursprünglichkeit, Naturschönheit und Ästhetik der Alpenwelt; ihm sei nur daran gelegen, den Berg zu besiegen, mittelst seiner Technik zu überlisten, seinen Mut und seine Kräfte zu erproben und seinen Ehrgeiz zu befriedigen, was denn auch der ganze Vortrag bewies. Er wurde mit seinem Kameraden zur « Eroberung » einer Nordwand befohlen - es war vor dem zweiten Weltkrieg! Leider ist dieser Eroberer dann zwei Jahre später in den Ostalpen tödlich abgestürzt, ohne im reiferen Alter die Berge von einem andern Standpunkt aus, von ihrer schönem Seite, kennenzulernen. Dass dies ein sehr extremer Vertreter des ausgearteten technischen Alpinismus war, brauchen wir nicht beizufügen. Doch hüten wir uns davor, unsern Jungen solche Bergsteiger als nach-eifernswertes Ideal - wie es oft die Sensationspresse tut - vorzustellen.

Ausklang und Abschied Leider blieb Gottlieb Studer ohne Nachkommen, so dass mit ihm der Zweig der « Panoramazeichner » erlosch. Seine erste Ehe mit Amélie Kupfer war nur von kurzer Dauer; sie schenkte ihm ein Mädchen, das aber bald nach der Geburt starb. Einige Tage später folgte ihm seine Mutter Amélie im Tode nach; sie starb vermutlich am Kindbettfieber. Dieser Schicksalsschlag muss schwer auf ihm gelastet haben, ist doch das Todesjahr seiner ersten Frau, 1833, das ärmste an bergsteigerischen und literarischen Leistungen.

Des Alleinseins müde, verheiratete er sich 1837 mit Louise Kupfer, einer Verwandten seiner ersten Frau, mit welcher er bis zu deren Tod im Jahre 1886 in glücklicher Ehe lebte. Wie sehnt er sich nach jeder anstrengenden und mit Gefahren verbundenen Bergreise nach dem häuslichen Herd! Nach einer vierwöchigen Tour ins Tirol ( 1846 ) beendigt er seinen Bericht ( von Zürich aus ) mit dem Satz:

« Am folgenden Tage geht es in raschem Fluge ( 14 Stunden Postwagenfahrt !) nach Bern, von wo im Schoss der heimatlichen Gebirge die dort geborgene köstliche Perle abgeholt wird, die ich auf meiner Lebensreise gefunden habe.»2 Oder wenn er 1851 nach einer 21tägigen Reise durch die Savoyer Alpen nach Turin und über den Mont-Cenis zurück nach Genf schreibt:

« Ich fuhr zurück, bestieg abends 10 Uhr in Genf den Postwagen und langte nach langer, regnerischer Fahrt in dem düsteren Bern an, wo die Liebe meiner th. Louise mir Italiens heiteren Himmel und wärmende Sonne ersetzen sollte.»3 1 « Berg- und Gletscherfahrten », Band I, S. 115.

2 Manuskript 8, S. 63.

3 Manuskript 8, S. 185.

13 Die Alpen - 1962 - Les Alpes193 Mit grosser allseitiger Anteilnahme wird in Bern sein 80. Geburtstag gefeiert. Wohl freute er sich an der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft des SAC, des englischen, italienischen und Berliner Alpenklubs, doch blieb er bis in sein hohes Alter der bescheidene, trotz seines überragenden Wissens in topographischer Hinsicht nie rechthaberische Freund aller Bergsteiger.

Es muss den Achtzigjährigen seelisch schwer bedrückt haben, als er merkte, dass seine sonst so scharfsichtigen Augen schwächer und trüber wurden. Im Juni 1883 schreibt er:

« Bei Anlass des Besuchs der Landesausstellung in Zürich liess ich mir von Prof. Hörner die Augen untersuchen. Das Resultat war: Das rechte Auge habe den grauen Star, der aber nicht operiert werden sollte, bis das linke gänzlich invalid sei. Es sei jedoch gute Aussicht vorhanden, dass das rechte noch brauchbar werde, weil der Sehnerv gesund sei. Das linke Auge zeige ebenfalls Starbildung. Aber es könne noch lange gehen, bis derselbe entwickelt sein werde. » * Im Sommer 1883 bestieg er, zum Teil zu Pferd, von Evolène aus mit einigen Freunden den 3000 Meter hohen Pic d' Artsinol. Es war ein herrlicher Sommertag. Auf dem Grat angelangt hört er die begeisterten Ausrufe seiner Begleiter: « Seht ihr die herrliche Mont-Blanc-Kette, den Grand Combin, die stolze Dent-Blanche, das unheimliche Matterhorn! » Da wollte ihn ein leises Gefühl der Wehmut beschleichen, dass ihm der Mitgenuss dieser grossartigen Aussicht nur in beschränktem Masse vergönnt war. « Mein früher und bis in die letzten Jahre so vorzügliches Auge hatte sich in dem Grade geschwächt, dass ich das Bild des Panoramas nur wie durch einen Nebel sah... » Doch tröstete er sich im Gedanken an die langen Jahre seiner Bergsteigertätigkeit, in denen er so manchen Gipfel bestiegen und mit seinen gesunden Augen so manche entzückende Aussicht betrachten und mit dem Stift festhalten konnte. Er durfte nicht klagen, sondern musste dem Schicksal dankbar sein, dass er seinen Durst nach den Bergen über sechzig Jahre lang so restlos stillen konnte. « Ich hatte wieder meine frohe Stimmung, und niemand ahnte, was in meiner Seele vorgegangen war, denn meine Freunde wussten nicht, dass das Glanzvolle der Aussicht meinen Augen verlorenging. » Ob es zu einer Augenoperation kam, ist aus seinen Aufzeichnungen nicht ersichtlich. Aber noch im September 1885 schreibt er:

« Trotz meinem Alter ( er war 81 jährig ) und geschwächter Sehkraft bestieg ich am 16. September noch das Niederhorn bei St. Beatenberg. » 2 Die letzten Jahre seines Lebens brachte Gottlieb Studer in stiller Zurückgezogenheit in seiner Wohnung an der Spitalgasse 20 in Bern zu und duldete gefasst allerlei Beschwerden des Alters. Nach dem Tode seiner « theuren Frau Louise » im Jahre 1886 führte ihm eine Nichte das Hauswesen, bis er am 14. Dezember 1890 im hohen Alter von über 86 Jahren entschlief. Sein Grab im Bremgarten-friedhof in Bern ist schon in den dreissiger Jahren unseres Jahrhunderts aufgehoben worden.

Was von diesem trefflichen Manne bleibt, ist der Geist, mit dem er in die Berge zog und der aus seinen Werken spricht. Möge dieser Geist im Schweizer Alpenklub nie verlorengehen!

1 Manuskript « Meine Lebensereignisse ».

2 Ebendaselbst, letzte Seite.

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