Herbstliche Fahrt
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Herbstliche Fahrt

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Rudolf Ryser

( Bern ) Wir liegen im Heu eines abgelegenen Stadels. Es ist Nacht, in den Fugen der Balkenwand glitzern die Sterne und verschwinden im Zuge ihrer Bahn.

Ein reicher Sommer und ein milder Herbst liegen hinter uns. Jetzt sind wir im November. Da wird es nun unfehlbar morgen oder den übernächsten Tag einschneien. Wir aber wollen, da die Stadt bereits im Nebel ertrinkt, noch einmal das « grosse, stille Leuchten » sehen in der glanzvollen Herbst-klarheit, noch einmal den Fels riechen und das Knirschen hören unserer Schuhe auf dem Stein, ein letztes Mal. So haben wir denn, allem Kopfschütteln zum Trotz, den Rucksack gepackt, sind ausgezogen und liegen nun hier, horchend auf das Rauschen des Bergbaches, bis wir einschlafen.

Bei Tagesgrauen kriechen wir heraus, noch hängt die schmale Mondsichel am purpurgrauen Himmel. Da wir keine Gipfelaspirationen hegen, können wir uns gemächlich auf den Weg machen talaufwärts. Es begegnet uns ein Mann, der verwundert grüsst und es wohl nicht recht begreift, was man jetzt noch oben suchen will. Er ist das letzte menschliche Lebewesen, das wir treffen.

Von hier an herrscht Einsamkeit und Schweigen. Wie ist alles anders als im Sommer! Es liegt wohl am Herdengeläute, das sonst mit leiser Melodie das ganze Tal erfüllt, dessen Fehlen nun der Landschaft einen völlig andern Aspekt gibt. Auf leerer Weide leuchtet da und dort, gleich einer verlorenen Perle, noch eine letzte Blume. Der Bach, sonst seine gletscherhafte Herkunft durch helle Trübung verratend, ist nun glasklar und fliesst ruhig zwischen den Blöcken durch, welche er früher wild überspülte. Im Walde ist geheimnisvolle Stille, erstorben ist sein tausendfältiges Summen. Ein Spinnetz schwankt noch silbern in der Sonne, es scheint den Durchgang verwehren zu sollen. In den Märchen kamen wohl solche Wälder vor, Wälder mit blauen Blumen und seltsam singenden Vögeln. Da liegen im Holzschlag auch mächtige Tannen kreuzweise über dem Weg; man wäre kaum verwundert, wenn Bübezahl plötzlich leibhaftig aus den Stämmen hervortreten würde.

Nun sind wir auf die verlassene Alp gelangt. Einige Hütten kauern hier in abenteuerlich krautigen Blättern, es scheinen Behausungen von Steinzeitmenschen zu sein. « Hier müsste es doch eigentlich jetzt Gemsen haben », meint der Kamerad. Da lösen sich, wie auf eine erwartete Zauberformel, auf einmal drei, vier dunkle Flecken von der steilen Halde los, kollern aber nicht hinunter, sondern setzen in staunenswert sicheren Sprüngen den Hang entlang, zeitweise sichernd, um dann jenseits eines Rückens zu verschwinden.

Wir klimmen höher auf dem Pfade, der sich durch Geröll und Felsbuckel hinaufwindet, niemand könnte sagen wohin. Aber man weiss es und empfindet es in dieser gewaltigen Einsamkeit beinahe wie ein Trost: er führt zur Hütte. Zu welcher, ist gleich; wie es auch bedeutungslos ist, in welchem Tale sie liegt. Wir bewegen uns hier ja in reiner Urwelt, in einer Landschaft, die vor Jahrtausenden schon so ausgesehen hat wie jetzt. Im Sommer, auf Gletscher-und Felsgipfeln tritt dies kaum mehr ins Bewusstsein als hier, wo wir uns noch in der Vegetationszone befinden und der Maßstab im Verhältnis noch vertrauter ist. Und dann gibt es im Sommer eben noch Vieh, soweit Gras wächst; Vieh und Konservenbüchsen. Das lässt dann die Urweltsempfindungen nicht so leicht aufkommen.

Da liegt sie, die Hütte — ein traulicher Hort, in aller Einfachheit und trotz kleiner Abmessungen der Inbegriff dessen, was « Haus » bedeutet: Schutz vor elementaren Gewalten, Mauer und Dach um die wärmende Herdstelle. Dahinter, im weiten Kessel des Hochtales, liegt der Gletscher wie ein mächtiges, schlafendes Tier. Wasserrieseln tönt wie Harfenklang; dann und wann stürzt ein Stein in abgrundtiefe, blaue Schluchten. Unheimlich könnte einem dieses Gebilde vorkommen, doch es ist gewaltig schön, mit seinen ebenmässig geschweiften Moränen das grosse Ordnende in wildem Trümmerfeld.

Wir besprechen die Gipfel ringsum. Sie haben alle Namen und tun damit dar, dass wir nicht die ersten Menschen sind in dieser Gegend. Eine milde Sonne lässt den Kreis der Fels- und Eiszinnen hell erstrahlen. Dann beschauen wir lange und still die Landschaft, um derentwillen wir hergekommen sind. Sie ist nicht « schön » im landläufigen Sinne, kein sogenanntes « überwältigendes Panorama ». Aber sie ist voll von dem, was wir im Hochgebirge suchen: Grosse und Erhabenheit.

Aufbruch, ein letzter Blick zurück: so möge der Winter denn kommenWas noch folgt, ist das Übliche: Abstieg und damit jähe Rückkehr in Gegenwart, Alltag und Zivilisation, Heimfahrt im Sonntagabendzug mit allen bekannten, weniger erbaulichen Dreingaben. Dann aber — die unauslöschliche Erinnerung an ein grosses Erlebnis.

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