Hohe Schuhe statt hohe Absätze Wenn Frauen Berggeschichte schreiben
Der Schweizer Alpen-Club akzeptierte sie nicht in seinen Reihen: Bergbegeisterte Frauen gründeten darum 1907 ihre eigenen Bergsteigervereine. Bei ihrer Reintegration in den SAC 1980 blieben einige Sektionen rein weiblich. Eine der beiden letzten davon ist die Sektion Raimeux.
Sie hatten den Wunsch, die Alpen aus der Nähe zu sehen, auf ihren Pfaden zu wandeln, deren Gipfel zu besteigen. In ihrem Kopf hallten die Namen von Ella Maillart oder Lucy Walker wider, sie klangen wie ein Aufruf. Sie verschlangen die Bücher von Lionel Terray. Pickel, genagelte Schuhe, Steigeisen und rote Socken: Sie träumten von den Bergen …
Sie – das waren einige Frauen in den 1950er-Jahren. Damals war es schwierig, als Frau die Berge zu lieben, ohne Gefahr zu laufen, als «Kuriosum» oder gar als Mannweib zu gelten. Schwer nachzuvollziehen aus heutiger Sicht.
Eine eigene Sektion, um klettern zu lernen
Eine Handvoll emanzipierter Frauen, Jurassierinnen, gründeten 1958 die Sektion Raimeux des Schweizer Frauen-Alpen-Clubs. «Wenn wir Bergsportarten ausüben, die Techniken des Bergsteigens oder Kletterns lernen wollten, mussten wir uns selber organisieren», erklärt Renée Studer, die aktuelle Präsidentin der Sektion, «dafür war unsere Gruppe ins Leben gerufen worden.»
Elmire Diacon, eine der Gründerinnen, erinnert sich: «Damals begnügte ich mich mit Wandern, aber das Klettern zog mich mehr an. Nachdem ich von Kletterern auf den Raimeux-Grat geführt worden war, machte es Klick: Am Ende der Tour sagte ich mir, dass ich nicht die einzige Frau sein konnte, welche die Berge liebte. Deshalb beschloss ich, eine eigene Sektion zu gründen. Ich hatte richtig vermutet: Wir waren rund 20, die sich in einem Obstgarten in Crémines im Berner Jura für die Gründungsversammlung einfanden. Es gab sie also, die Liebhaberinnen von Zähnen und Gipfeln!»
In den Bergen wie in der Kirche
Nachdem der Schweizer Alpen-Club seit 1907 eine exklusive Männersache gewesen war, öffnete er sich 1980 für die Frauen. Die Diskussionen waren hitzig bis zuletzt. «Der SAC ist eine der letzten Domänen, wo die Männer sich gegen die Aggressivität und die Komplexität der Frauen schützen können», stand – neben anderen frauenfeindlichen Bemerkungen – in einem Dokument des SAC mit Datum 1978, das Argumente gegen die Wiederaufnahme der Frauen auflistete.
«Den Ehefrauen war nicht gestattet, ihren Mann auf Touren zu begleiten», erinnert sich Nelly Hänggi, die 1959 der Sektion Raimeux beigetreten war. «Wir erlebten eine Ausgrenzung. In den Bergen war es wie in der Kirche: die Frauen auf der einen, die Männer auf der anderen Seite!» Das bestätigt auch Alice Andres, seit 43 Jahren in der Sektion: «Die Frage der Gleichheit zwischen Männern und Frauen stellte sich in jenen Jahren einfach praktisch nicht. Wenn Frauen in einer Gruppe nicht akzeptiert waren, zeigte sich niemand schockiert. Es war einfach so! In den Bergen wie anderswo mussten wir kämpfen und viel Mut zeigen, um unseren Platz zu finden.»
Kämpfen, das hiess «dreimal mehr Energie aufwenden, auf dem Gipfel ankommen, ohne zu stolpern, zeigen, dass wir fähig, ja besser waren als die Männer», erklärt Nelly. «Wenn wir am Anfang Männerseilschaften begegneten, waren sie skeptisch und lächelten», erinnert sich Marlyse Almici, Mitglied seit 1978. «Auf dem Gipfel waren sie dann respektvoller, wenn wir schon da waren.»
Vom bescheidenen Jura zu anspruchsvollen Alpen
Rose, die klettert wie eine Gämse, Thérèse, die flink ist bei der Seilhandhabung, Marie-Rose mit ihrem sportlichen Fahrstil, um schneller am Start zu sein, Charlotte die Unschlagbare, wenns um Blumen geht – diese entschlossenen Frauen haben nichts von militanten Feministinnen. «Wir sind eine kameradschaftliche Familie von Kletterinnen und Wanderinnen, solidarisch bei Schwierigkeiten, Komplizinnen im Spass. Eine Bande von Freundinnen, die durch die Leidenschaft für die Berge zusammengehalten wird», so beschreibt Elmire Diacon die Gruppe. «Ich habe uns nie als eine Frauensektion wahrgenommen. Bei unseren Ausflügen waren die Männer stets willkommen», ergänzt Alice Andres. «Wenn sie ausgeschlossen gewesen wären, ich wäre nicht mitgegangen … In die Berge gehen ohne meinen Mann und meine Familie, das war für mich unvorstellbar.»
Männliche Präsenz war akzeptiert, nützlich gar: «Diese Herren haben uns viel beigebracht auf technischem Gebiet, vor allem fürs Klettern und Bergsteigen. Sie haben uns oft geführt und auch geholfen», räumt Charlotte Schaffner ein. «Wer vom Ehemann begleitet war, musste mitunter nicht einmal den Rucksack selber tragen oder wissen, wie man Knoten knüpft … Dafür mussten die Ledigen selber zurechtkommen!»
Die Frauen interessierten sich nicht nur fürs Wandern, sondern auch für andere Bergsportarten. «Bergsteigen, Klettern, Skitouren, dank guten Tourenleiterinnen haben wir uns mit allen Disziplinen vertraut gemacht. Manchmal musste man einfach mitgehen: Vom bescheidenen Jura gingen wir zu den Alpen über. Die Touren wurden immer ehrgeiziger», erinnert sich Renée Studer. Einige bestiegen das Matterhorn, den Mont Blanc und eine Reihe anderer hoher Gipfel. Andere reisten nach Zanzkar, in die Anden und auch in die abgelegensten Winkel der Alpen. «Ich glaube, ich kenne die Schweiz besser zu Fuss als im Auto», gesteht Elisabeth Stucki, die nicht mehr weiss, wie viele Jahre sie schon in der Sektion Raimeux tätig ist.
Haben sie sich auch gestritten? Charlotte gesteht: «Sagen wir es so: Bei den Bergsteigern, weibliche inbegriffen, sind die Charaktere ziemlich stark. Aber wenn es einmal ein paar lautere Worte gegeben hat, so waren diese schnell wieder vergessen.» Dieses Einvernehmen hat viel dazu beigetragen, dass die Gruppe bis heute existiert. «1980, als wir uns dem SAC anschlossen, hatten wir 22 Austritte. Aber unsere Sektion hat sich dennoch gehalten», merkt Renée Studer an.
Angekündigtes Ende des Abenteuers
«Los, Frauen, gehen wir!» Mit diesem Kommando treibt Charlotte die Truppe für den Aufbruch zur Wanderung des Tages zusammen. Aus der Gruppe tönt es: «Erinnere dich …!» Die Erinnerungen vermischen sich: bestiegene Gipfel, Hungeräste bis zum Zusammenbruch, verregnete Picknicks, Hüttenabende. Immer funkeln die Augen, und jede hat etwas zur Geschichte beizutragen. «Obschon wir alle über 60 Jahre alt sind, die Berge haben uns ermöglicht, langsam zu altern», freut sich Renée Studer. «Unser Verein wird mit uns verschwinden. Den jungen Frauen sage ich seit Langem, sie sollen einer gemischten Sektion des SAC beitreten, denn wir bieten nicht mehr Ausflüge in allen Disziplinen.»
Für 2013 planen die Mitglieder der Sektion rund 30 Wanderungen und eine Wanderwoche im Engadin. «Die Freude, sich zu sehen, bleibt, trotz fortgeschrittenem Alter. Alles, wozu wir körperlich noch fähig sind, machen wir. Diejenigen, die nicht mehr wandern können, fahren wir mit dem Auto, und wir treffen uns in der Unterkunft. Ohne unsere Sektion hätte keine von uns dies alles erlebt», schliesst Nelly Hänggi, auf ihren Wanderstock gestützt. In ihrem Rhythmus machen sich die «Damen des Raimeux» auf den Weg zu den Höhen über Delsberg.