Im Banne Andreas Fischers
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Im Banne Andreas Fischers

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Auf dem Mönch, 27./28. Juli 1927.

In das Viertausenderreich der Berner Alpen war ich noch nie gekommen. Immer hatte es mich in andere Gebiete verschlagen. Trotzdem sind mir die Oberländer und die Jungfraugruppe nicht unbekannt geblieben. Andreas Fischers « Hochgebirgswanderungen » haben mich schon früh mit ihnen vertraut gemacht, und als ich letztes Frühjahr eingeladen wurde, an der geplanten Mönchexpedition zum Messen der kosmischen Strahlen teilzunehmen, da waren Freude und Erwartung gross, mit diesen Giganten einmal näher in Berührung zu kommen.

Wir sind die erste Nacht auf dem Gipfel des Mönch. Mein Kamerad hat bis nach Mitternacht gemessen und schläft nun; wach liege ich im Schlafsack und sinne. Ich weiss nicht, warum ich hier oben so lebhaft an Andreas Fischer denken muss, warum ich, ohne ihn gekannt zu haben, seine Gestalt ganz deutlich vor mir sehe. In den letzten Tagen ist er mir auffallend oft begegnet. Vor der Abreise habe ich die Besteigung des Mönch über das Jungfraujoch, ich weiss nicht zum wievielten Male, in den « Hochgebirgswanderungen » mit ihm erlebt; dann bin ich vergangene Woche während der Vorbereitungsarbeiten für die Mönchexpedition einmal von Eigergletscher aus auf seinen Spuren nach der Guggihütte gepilgert, um dem Guggigletscher und seiner berühmten Jungfrauroute einen Besuch zu machen. Es ist merkwürdig, wie mächtig sich die Phantasie regt, wenn man allein über einen Gletscher geht, und wie getreu das Gedächtnis alte, längst vergangene Bilder wieder wach ruft. Fast habe ich bereut, mich da oben der Wissenschaft verschrieben zu haben, die mir nicht erlaubt, mich völlig frei und unabhängig dem Bergsteigen zu widmen; gerade der Guggiweg hätte mich gelockt, denn nichts schien mir willkommener, als eine tüchtige Eisarbeit. Aber die Guggischründe grinsten mich höhnend an: « Auf der Jungfraubahn wird dein Pickel wohl kaum in unsere Spalten fallen! » — Gestern abend haben auf dem Joch die Grindelwaldner Führer, die zum Teil noch zu Fischer in die Sekundärschule gegangen sind, sich über seine Fahrten unterhalten, und der alte Fuchs meinte zum Schluss: « Er war eben mehr als ein Herr — er war ein Führer. » Wir waren freudig erstaunt, wie lebendig Fischers Andenken hier oben in den Bergen noch ist. Mein Gefährte erzählte mir nachher noch lange, bis in alle Nacht hinein, von den Deutschstunden Fischers, die er an der Realschule Basel bei ihm genossen hat.

All dies wird mir nun so greifbar gegenwärtig, dass ich mich frage, ob ich das Vernommene eigentlich selbst erlebt oder nur davon sprechen gehört habe.

Da ruckt der Wecker; es ist Zeit zum Messen. Leise, ohne meinen Nebenmann zu wecken, krieche ich aus dem Schlafsack. Gespenstig geistert der Schein der Taschenlampe im Gang der Eishöhle herum und sucht nach Windjacke, Schneefinken, Sturmmütze und Überkleidern. Wie ich die Türe der Firnhöhle aufstosse, werde ich mit einem leisen Ruck über und über bepudert, und eisig fährt mir die Windsbraut ins Gesicht. Draussen herrscht Schneesturm. Der Ausgang aus dem Firnstollen ist völlig zugeschneit; metertief hat der Sturm den Schneestaub hier im Windschatten abgelegt. Schaufeln. Von oben rieselt 's mir beständig zwischen Hals und Kragen, Socken und Finken, in die Hosentaschen, kurz, überall hin, wo man es am unangenehmsten empfindet. Ich wate zum Messzelt. Tiefverschneit. Der gefrorene Laufstrick des Zelteinganges wird aufgeknöpft und — rasch ins Zelt! Auch hier möchte der Wind seinen Pulverschnee hinstreuen; es bleibt nichts anderes übrig, als die Türe wieder völlig zuzuknoten, um vor dem Eindringling sicher zu sein.

Nach der Messung ist der Ausgang schon wieder frisch verschneit. Nur nicht schimpfen und hasten! Die Laufschnur muss trotz Schnee und Sturm erst wieder gut gebunden und verknüpft werden. Erneute Schneewaterei, und dann kann ich die Türe der Eishöhle wieder zudrücken und sie von innen verrammeln. Meine Socken, mein Hemdkragen — alles ist nass. So darf ich nicht in den Schlafsack, wenn ich nicht die Wärme, die er zusammenhalten soll, zähneklappernd opfern will. Also umziehen. Trockene Wäsche wird hervorgesucht und schlotternd mit der durchnässten ausgewechselt.

Kaum ist die durch die Messung hervorgerufene Ablenkung meiner Gedanken vorbei, nimmt mich der vorige Ideenkreis wieder gefangen.

Es ist kaum auszudenken, wie unter so ganz anderen Bedingungen wir heute den Mönch besteigen, als es zu den Zeiten seiner Eroberung geschah. Tagelang bereiten wir eine Expedition in Eigergletscher vor, fahren mit der Bahn auf das Jungfraujoch, dann mit Schlittengespann und Skiern zum Mönchjoch und schliesslich mit Trägern, die uns Schlafsack, Messinstrumente und Zelt schleppen, über den Grat auf den Gipfel. Da graben wir uns in den Firn ein und richten uns die Eishöhle mit Teppichen, Türe, Küchenaus-rüstungsgegenständen und einem Akkumulator, der Schwachstromlämpchen speist, wohnlich ein. Kann man dies überhaupt noch eine « Besteigung » nennen? Was haben wir geleistet im Vergleich zu einer Mönchbesteigung über den Nollen oder das Guggi, wobei zuerst das Jungfraujoch durch das Serakgewirr und über die steilen Gletscherfälle erzwungen, dann die Sphinx überquert werden musste, bis man nur am Fusse des Mönchgrates stand. Die ganze Erstbesteigung Fischers über den Südgrat steigt vor mir auf. Wie die Abgründe zu beiden Seiten des Grates durch den Nebel fürchterlich steil, viel entsetzlicher erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind, und « diese Erscheinung war so ziemlich der einzige Ersatz für den geraubten Sonnenschein », damals. Wie heulend der eiskalte Wind durch die Lüfte fuhr und sie nicht wussten, von wannen er kam, noch wohin er fuhr, und es sie deuchte, er käme von allen Seiten und führe nach allen Seiten hin. Dann, wie sie endlich beim Einnachten auf den Gipfel kamen und « überwältigt », nicht von der schönen Aussicht, sondern vom wilden Sturm und der schneidenden Kälte, nichts anderes suchten als — den Abstieg, was Fischer mit den Worten schildert: « Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg. » Und auch das andere Zitat, das sich ihm bei jener denkwürdigen Mönchfahrt unwillkürlich und mit Macht aufdrängte: « Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn », kommt mir in den Sinn, wobei ich zwar nicht an den milden Süden, sondern an die glashart gefrorenen Zitronen unseres Küchenvorrates erinnert werde.

Schon sind wieder zwei Stunden herum; es ist kaum fassbar, wie rasch hier oben die Zeit vergeht. Wieder mache ich mich auf den Weg nach dem Messzelt. Wie ich die Höhlentüre öffne, faucht abermals der wilde Wind herein. Der Sturm dauert an. Damit meine trockenen Kleider nicht wieder ein Opfer des Schneestaubs werden, bleibt nichts anderes übrig, als sie gegen die feuchten, die ich vor kurzem ausgezogen habe, umzutauschen. Sie sind nicht mehr nass — sondern gefroren! Es ist wirklich ein eigentümliches Gefühl, in gefrorene Unterwäsche zu schlüpfen. Es dauert aber nur einen Augenblick, bald denkt man im Kampf mit dem Neuschnee nicht mehr daran und wühlt sich zum Zelt. Wie bitter kalt der Schnee auf die. Hände und in den Nacken wirbelt! Mit Grauen denke ich an Fischers und Jennys Biwak in der Schneesturmnacht am Aletschhorn oben und rette mich nach vollzogener Messung rasch wieder in die Firnhöhle, in trockene Kleider und flugs in den Schlafsack.

Freund Max dreht sich um in seinem Sack — sollte ich ihn etwa geweckt haben? Nein, er schläft ruhig weiter, nur atmet er etwas rascher als gewöhnlich. Da kommt es mir zum Bewusstsein, dass wir ja hier über 4000 m hoch hausen, ohne es zu merken. Es ist ein eigenartig faszinierender Gedanke, sich zu zweit für mehrere Tage, von allem Verkehr abgeschlossen, auf dieser Höhe zu wissen. Dagegen frage ich mich, ob man dieses « Auf-dem-Gipfel-Hausen » vernünftigerweise noch « Bergsteigen » nennen kann. Die Führer vom Jungfraujoch wenigstens sind zum kleinsten Teil dieser Meinung. Sie finden es ein bisschen « verrückt », sich so « für nichts » tagelang da oben aufzuhalten und den Unbilden des Wetters auszusetzen.

Ich möchte wohl wissen, was Andreas Fischer zu unserem Unternehmen sagen würde. Unsere Expedition trägt ja eher den Charakter einer Polarexpedition; wir sind ganz « grönländisch » ausgerüstet mit de Quervain-Zelt, schwedischem Petrolvergaser, norwegischen Schlafsäcken, Eskimofinken usw. Pickel, Seil und Steigeisen brauchen wir zwar auch, aber nur zur Überwindung des Grates beim Auf- und Abstieg. Der Kampf mit dem Wetter wird in einer Schneehöhle und ganz « polarmässig » geführt. Max Kleiber, dem das Werk von Nansen in allen Einzelheiten gegenwärtig ist, versteht es gut, in allen möglichen Lagen unseres Eskimolebens passende Stellen aus « In Nacht und Eis » zu zitieren. Wenn wir aber wählen müssten zwischen unserer hohen Warte und den eintönigen Polargegenden, würde sich sofort zeigen, dass unsere Begeisterung mehr den steilen Firnen als dem flachen Eise gilt. Denn wir sind von der gleichen Liebe zu unseren Bergen beseelt wie die Pioniere des Alpinismus, und der Entdeckergeist, der sie nach neuen Wegen durch unsere Hochalpen fahnden liess, treibt uns nun, da die wichtigsten Pfade gefunden und gebahnt sind, weiter zu suchen und die eigenartigen Naturerscheinungen, die das Hochgebirge auszeichnen, zu ergründen — und ebenso gross wie in der Jugend des Alpinismus ist wohl unsere Entdeckerfreude und -begeisterung.

Bei der dritten Messrunde graut bereits der Morgen durch Schneesturm und Nebel. Es ist Hochsommer, wo die Dämmerung so weit oben ja schon vor 4 Uhr anbricht. Nach der Schneearbeit und der Messung mache ich mich daran, das Frühstück zu brauen. Selten wird wohl in einer Clubhütte das Wasser zum Morgenkakao so kristallrein — durch die Türspalten hereingeweht wie heute früh in unserer Firnhöhle. Auch für den Fall, dass man beim Kochen Kakao verschüttet, oder wenn der Apparat raucht, ist gleich frischer Schnee zur Hand, um alles wieder zu « vergipsen » und « blanc-fix » auszustreichen. Nun wacht Max vom Pfannendeckelgeklapper auf, und bald schlürfen wir unser heisses Getränk.

Nach dem Frühstück bemerken wir zu unserer Freude, dass es nicht mehr schneit; das Gestöber bringt nur mehr aufgewirbelten Schnee vom Gipfelplateau. Wir beschliessen daher, die riesige Gwächte, die sich während der Nacht über unser Messzelt gelegt hat, abzugraben. Während der Arbeit legen sich die Wolken dicht auf den Gipfel, und wie die Sonne kommt, wirft sie bereits unsere Schatten auf den sinkenden Nebel. Erstaunt bemerkt jeder einen kreisrunden Regenbogen um den Schatten seines Kopfes. Ganz begeistert bestaunen wir die Erscheinung und sind beglückt, dem « Brockengespenst », von dem wir schon viel gehört haben, das aber keiner von uns beiden noch je gesehen hat, hier oben so unerwartet zu begegnen.

Die Sonne scheint aufs Zelt; Neuschnee und Rauhreif tauen. Wie riesige Perlen glitzert das geschmolzene Eis auf dem Zelttuch. Tränen gleich werden sie immer grösser und kollern schliesslich über das Zelt hinunter. Auf dem First gleisst bezaubernd eine endlose Kette von kristallhellen Tropfen im wundervollen Spiel der Regenbogenfarben: Unser Zelt ist ein tausendfältiger Taumantel.

Und nun bricht ein herrlicher Tag heran. Wolken und Nebel lösen sich auf, die Fernsicht öffnet sich nach allen Seiten. Wenn man auch die Aussicht vom Mönch schon dutzenmal hat rühmen hören, macht man sich doch nicht den geringsten Begriff, wie erhaben und überwältigend sie ist. Nach allen Seiten, wohin das Auge schweift, trotzige Häupter. Es ist nicht wie auf jenen Viertausendern, wo alles unter einem liegt und fast bedeutungslos verschwindet. Ebenbürtig stehen die Jungfrau, die Schreckhörner ( die gerade in den Firnstollen unserer Höhle hineingucken ), das Finsteraarhorn und das Aletschhorn da.

Aus dem Konkordiaplatz strömt feierlich der Aletschgletscher, der mich an die grössten und schönsten Flüsse erinnert, die ich schon gesehen habe, und von dem man nicht sagen kann, ob er fliesst oder stillsteht, wenn man den Blick, den er magnetisch anzieht, längere Zeit unverwandt auf ihm ruhen lässt. Weit überschaut man seine Firne bis zum rätselvollen Märjelensee. Alles strahlt im schönsten Morgenglanze, während auf der Scheidegg unten noch grauer Morgen und im Lauterbrunnental dunkle Nacht herrschen.

Wir zeigen einander, wo die einsamen Clubhütten liegen, und besprechen die möglichen Anstiege auf diesen und jenen Gipfel. Ringsum sind alle Hörner schon unzählige Male « gemacht » worden, und man weiss genau bis in alle Einzelheiten, von welcher Seite sie in Angriff zu nehmen sind und wie man sie bezwingt. Ausser ein paar schwierigen Wänden und Graten bleibt, wie die Erstbesteigungsjäger sagen, « nichts mehr zu tun übrig ». Und wieder möchte ich wissen, was wohl die Pioniere des Alpinismus, was Andreas Fischer zu dieser Auffassung sagen würde.

Gewiss, unsere Berge sind kleiner geworden; sie sind hoch hinauf von Bahnen durchwühlt, im Eiltempo rasen die Kraftwagen über ihre Pässe, und Flugzeuge schweben leichthin über die höchsten Spitzen weg. Aber der Sinn des Bergsteigens hört damit nicht auf. Die Pioniere haben uns die Berge nicht erschlossen, damit wir uns davon abwenden, wenn einmal alle Auf- und Abstiege erschöpft seien, und sie haben nicht gekämpft, damit, was sie errungen haben, später brach liege. Nein, der Alpinismus entwickelt sich weiter. Es kommt die Zeit, wo die Besteigungen im Dienste der Wissenschaft erfolgen. Mit ebenso banger Freude und ängstlicher Erwartung, wie zu einer Fahrt ins Ungewisse, brechen wir zu unseren Messungen auf. Mit Begeisterung stecken wir unsere ganze Kraft in das Hochgebirgslaboratorium von Firn und Eis auf einem unserer schönsten Berge, dem Mönch. Und dankbar gedenken wir derer, die die Wege dahin gebannt haben, und sind stolz darauf, dass wir wochenlang auf diesem erhabenen Luginsland bleiben können, wo andere nur Stunden weilen durften — auf diesem « trotzigen Ende der Welt », dessen Schönheit und Tücke Andreas Fischer so unvergleichlich geschildert hat.

Albert Frey.

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