Im Gebiet der Signina
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Im Gebiet der Signina

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Ferdinand Böhny.

Schon oft, wenn ich meine Reiseprogramme zusammenstellte, gehorchte ich der Sprache der Karte, dem Kartenbild. Aber auch Namen von Ortschaften, Bergen und Flüssen können in uns bestimmte Vorstellungen einer Gegend verschaffen. Ob sie richtig sind, wird sich dann auf der Reise erweisen. Diesmal weckten die Worte Safien, Rabiusa, Tuma, Signina und Riein eigenartige Ahnungen in mir, die den endgültigen Entscheid gaben. Ich kann mir Menschen denken, die es töricht finden, im Zeitalter des Rationalismus solchen Gefühlen zu lauschen, die gut zu einer jugendlichen Romantik passen.

Nein, diese Einwände sind unberechtigt. Erwartungen und Vorstellungen gehören nun einmal zum Reisefieber. Wir müssen nur fähig sein, das Bild, das wir uns vor der Reise machten, zum Verschwinden zu bringen. Das können freilich nicht alle. Es gibt Menschen genug, die nicht zufrieden sind, wenn sie eine Gegend nicht so vorfinden, wie sie es sich wünschten, vorstellten. Sie wollten der Natur ihren eigenen Stempel aufdrücken, und das rächt sich. Unsere Seele muss fähig sein, das Neue ungetrübt aufnehmen zu können, wir müssen bereit sein, tausend neue Dinge zu entdecken, und wir werden Entdeckung über Entdeckung machen.

Und während dieser Ferien, von denen ich jetzt etwas berichte, sah ich viel Neues. Das Erlebnis dieser Tage ist so schön und gross, dass ich davon erzählen möchte.Von Heldentaten habe ich nichts zu melden.

Nach einem arbeitsreichen Winter, der mir nur zwei oder drei Sonntagsskifahrten schenkte, suchte ich Erholung in Tenna, 1645 m, im Safiertal, das mit seinen Bergen so wenig bekannt ist. Das kleine Bergdorf Tenna liegt auf der linken Talseite, hoch über der Rabiusa, dem ziemlich stark geneigten Hang entlang. Der Blick schweift von hier hinüber zur langen Kette des Heinzenberges, zum Beverin, über das in der Tiefe liegende Safiertal hinweg zu den Splügener Kalkbergen. Zunächst hat man das Unter- und Oberhorn. Signina, Guter und Böser Fess, Riein, alles prächtige Aussichtsberge, die von Tenna aus bestiegen werden können, sieht man nicht.

Soweit ich die Menschen von Tenna kennen lernen konnte, glaube ich schliessen zu dürfen, dass ihr Kirchlein ganz gut zu ihnen passt. Sind sie doch selber bescheiden, still und zurückgezogen. Es gibt Gegenden, wo der Kampf mit der Natur die Menschen eher verbissen und argwöhnisch gemacht hat. Hier scheint ein körperlich und seelisch kräftiger Schlag Leute zu wohnen. Als ich an einem Vormittag den Hang hinaufstapfte durch Neuschnee, der — es war Juli — Bergblumen, die in voller Blüte standen, und das geschnittene Gras tief verdeckte, kam ich mit einem Bergbauern ins Gespräch. Er erzählte mir, wie auch aus diesem Tal immer noch Menschen auswandern, zeigte mir Alpweiden, die früher ständig bewohnt waren. Als ich ihm vom Leben und Kampf in den Industrieorten berichtete, da meinte er: « Ja, ja, es ist halt überall Welt. » In diesem kurzen Satz, mehr noch im Tonfall, mit dem er gesprochen wurde und der von einer reichen Ausdrucksfähigkeit zeugte, lag eine ganze Weltanschauung. Ich spürte in diesem kurzen Augenblick eine tiefe Verbundenheit mit diesen Menschen. Trotz Kampf und Entsagung keine Verbissenheit, trotz Erkenntnis unserer Gebundenheit keine Resignation. Nein, viele der Männer und Frauen dort oben schauen zuversichtlich in die Welt hinaus wie der schlanke, schöne Turm ihrer einfachen Kirche.

Wenige Tage nach meiner Ankunft in Tenna lag die ganze weite Gegend in tiefem Neuschnee. Man hätte sich im Winter geglaubt, wenn nicht auf den Wiesen gleich weissen Wellen und kleinen Hügelchen, von Schnee verdeckte Heuschöchlein und -haufen gelegen hätten. An diesem Morgen war ich rasch aus den Federn und im Eilschritt erstürmte ich in kurzer Zeit das Schlüchtli, 2287 m. Bis ich oben war, hatten die Wolken die Sicht nach dem Oberrheintal, nach Westen und Süden genommen, einzig im Osten sah ich den Rhätikon, die Silvretta, den Linard und über diese Berge hinaus viele mir noch unbekannte Gipfel.

Im Abstieg nahm ich mir genügend Zeit, streifte an drei kleinen Seelein vorbei und träumte mir in dieser winterlich gewordenen Gegend die verschiedenen Ski-Abfahrtsmöglichkeiten aus. Das Schlüchtli ist in der Umgebung Tennas jener Berg, der in erster Linie für eine Besteigung mit Ski in Frage kommt. Guter Fess, Riein auf gewöhnlichem Wege, Oberhorn und das Täli ( Punkt 2541 ) sind nur bei besonders guten Schneeverhältnissen — 3—4 Tage nach Schneefall, keine Föhnlage — für Skituren möglich. Dagegen bietet die linke Seite des obersten Safiertales, die ganze Kette vom Bärenhorn 2932 m über Tomül 2951 m, Tälihorn 2857 m bis Günerhorn 2842 m nur lohnende Aussichtsberge, eine Reihe flotter Skituren mit weiten, schönen Abfahrten.

An einem schönen Abend stand ich unter der Tür und schaute zu den Bergen hinauf. Führer Thomas Buchli sah mich, erkannte meine Sehnsucht und bot sich an, mit mir am Morgen auszurücken. Auch ihn zog es hinaus. Ich spürte gleich, dass mir in ihm ein Kamerad entgegenkam. Rasch war der Plan ausgeheckt: Riein über Nordgrat, Guter und Böser Fess, vielleicht auch Signina.

Früh 350 Uhr zogen wir über die Matten hinan. Noch funkelten die Sterne. Der Himmel war nicht mehr so klar wie am Abend zuvor. Einige leichte Wolken zogen über die Landschaft. Im Osten war der Himmel schon hell, die Berge davor zeigten ihre noch nachtschwarzen Abendseiten. Eine eigenartige Stimmung. Als wir zwischen Nollen und Unterhorn ins Täli einstiegen, war es Tag. Das Vieh auf der obersten Alp lag schlafend im taubenetzten Gras, drin in der Hütte schien auch noch alles zu schlafen, einzig der Hund war wach und begrüsste uns.

Nach 21/2 Stunden standen wir zuhinterst im Täli, 2541 m, bei der letzten Erhebung der Kette der La Gauma. Rechts geht es hinunter in eine tiefe, wilde Schlucht, welche das Brüner Laub westlich begrenzt. Grau, unwirtlich ist sie, keine Blume, kein Gras, kein Moos, nichts als Schiefer und Schutt. Das Wasser schneidet in dieser Gegend in den Bündnerschiefer scharfe, tiefe Schluchten. In wenigen Minuten waren wir auf der bereits genannten Erhebung ( in der Karte als Pyramide erkennbar ), legten die Säcke nieder und studierten den Aufstieg über den Nordgrat des Riein.

Nach kurzem Gang standen wir am Nordgrat. Wir legten das Seil um. Der Weg ist leicht zu finden. Man verfolgt am besten konsequent den Grat. Wohl verlockten kleine Couloirs zur Begehung, doch käme man im Schutt des Schiefers mehr rückwärts als vorwärts, und die Gefahr des Steinschlages ist zu gross. Die Kletterei ist heikel, jedoch nicht schwer, verlangt aber Übung. Eine Seilsicherung ist fast nicht möglich, das Gestein rutscht beständig unter den Füssen weg. Sich auf Griffe verlassen zu wollen, wäre verhängnisvoll. Rasches, aber vorsichtiges Klettern führt am schnellsten und besten zum Ziel. Gerade in diesem Gestein spürt der Kletterer, wie viel man durch geschickte Gewichtsverlegung und « auf Druckklettern » ausrichten kann. Dieser Grat muss, wie aus dem Clubführer zu schliessen ist, früher schwieriger gewesen sein. Die Veränderung des Geländes vollzieht sich hier verhältnismässig sehr rasch und wird darum den Turisten immer wieder vor neue Situationen stellen. 750 Uhr, also nach vier Stunden, standen wir auf dem Piz Riein, 2755 m.

Der Riein ist ein Aussichtsberg ersten Ranges. Es ist, als würde man mitten in einem ungeheuren Zirkus stehen. In einem mächtigen Rund nichts als Berge: Tessiner, Walliser, Berner, Urner, Glarner, Rhätikon, Silvretta, Engadiner, Bergeller. Obwohl der Fess etwas höher und dem Riein vorgelagert ist, stört er die Aussicht nicht. Und ist man erst auf dem Fess, so hat man den bestimmten Eindruck, dass die Aussicht des Riein schöner und freier sei.

Von Westen her segelten in gleichen Abständen helle, leichte Wolken. Noch nie hatte ich das Gefühl, dass die Wolken schweben, so deutlich wie an diesem Tag. Sie waren tiefer als wir und zogen auf dem sonst sonnigen Boden langsam ihre Schatten nach. Es war, als ob eine weiche, sanfte Hand beruhigend und segnend über die Erde gleite. Wie waren wir glücklich! Ich glaubte, von einem schweren Traum erwacht zu sein.

Bald verliessen wir den Gipfel und steuerten dem Guten Fess, 2874 m, zu, der im direkten Anstieg von Tenna leicht zu erreichen ist. Vom Riein bis Zeichnung von Ernst Schlatter, Uttwil.

Böser Fess von Guten Fess gesehen.

zu ihm benötigten wir fünf Viertelstunden. Kommt man auf den Gipfel, so hat man plötzlich den um einige Meter höheren Bösen Fess vor sich. Seine spitzige, dunkle Gestalt schaut drohend und abweisend herüber.

Nach einer guten Rast entschlossen wir uns zum Übergang auf den Bösen Fess. Die Säcke liessen wir zurück. Der Abstieg beginnt — steht man dem Bösen Fess gegenüber — einige Meter rechts neben dem Gipfel des Guten Fess. Gesichert von Führer Buchli verfolgte ich ein schmales, wenig bewachsenes Bändchen abwärts, das zu einem kleinen Felsbalkon führt, auf dem man reichlich Platz für die Füsse hat. Hier muss man sich wenden, Gesicht gegen die Wand, und bückt sich vorsichtig, um rechts unten mit beiden Händen in die Spalte einer Platte zu greifen. Für kurze Leute, wie ich bin, ist es nicht möglich, die Platte mit einem Spreizschritt zu umgehen. Also liess ich meine Füsse los und pendelte auf ein Querband hinüber. Dieses verfolgend gelangte ich nach wenigen Metern zu einer Höhle, die fast unmittelbar unter dem Gipfel des Guten Fess liegt. In diese Höhle kroch ich und sicherte den nachkommenden Kameraden. Wieder gesichert, kletterte ich rechts gegen die tiefste Stelle der Scharte hinab. Bald stand ich unter einem überhängenden Fels, von wo aus Buchli gesichert werden konnte. Nach einer nochmaligen Sicherung standen wir in der Scharte. Mit Sorgfalt schneebedeckte schmale Schuttbänder querend, gelangten wir auf die Südseite des Bösen Fess und über diese verhältnismässig leicht auf den Gipfel. Einzig die letzte Partie ist recht luftig.

Der Abstieg in die Scharte nahm 30 Minuten in Anspruch, der Aufstieg zum Bösen Fess fünf Viertelstunden. Das Gipfelbuch hat nur wenige Eintragungen.

Und nun Signina? Nein, diesen Berg wollte ich mir auf einen andern Tag ersparen. Ich spürte nun, dass ich eigentlich doch zur Erholung in dieser Gegend weilte. Die Rückkehr zum Guten Fess vollzog sich auf gleichem Wege und ohne eigentliche Schwierigkeiten; einzig die Platte machte meinen kurzen Beinen einige Mühe.

Über das nette Oberhorn, 2798 m, kehrten wir heim. Müde, aber überglücklich und völlig gesund genoss ich den Abend in Tenna.

An einem Morgen früh verliessen wir abermals zu zweit Tenna, stiegen durch das Täli direkt auf den Guten Fess und hatten im Sinn, in einer Kehle auf der Westseite des Guten Fess ( leichtere Route zum Bösen Fess ) abzusteigen, den Bösen Fess zu umgehen, die Signina zu besuchen, von dort das Günerhorn zu besteigen, um dann vielleicht die südöstlichen Hänge der Signina und des Fess querend zum Unterhorn zu kommen. Auf diese Weise hätte ich während meines Aufenthaltes in Tenna die ganze Signinakette und ihre wichtigsten Wege kennen gelernt. Allein schon im Aufstieg zum Fess verschlechterte sich das Wetter. Zeitweise hüllte uns Nebel ein. Die Schuttbänder, die den Übergang vom Guten Fess zur Signina ermöglichen, waren mit trügerischem Neuschnee bedeckt. Wo der Schutt frei lag, war er leicht gefroren und vereist, wie die Felsen, die uns Halt bieten sollten. Die Begehung schien uns zu gefährlich, und wir beschlossen etwas enttäuscht den Rückzug.

Als wir wieder auf dem Gipfel des Guten Fess standen, sahen wir ein Nebelbild ( Brockengespenst ). Der Nebel war einige Momente ganz licht, die Sonne beschien uns schwach und drunten in der Richtung der Alp Signina, die im Sonnenschein lag und ganz schwach durch den Nebel heraufleuchtete, sahen wir plötzlich den Schatten unseres Berges und unsere eigenen Schatten, umgeben von einem regenbogenfarbenen Halbkreis. Diese Erscheinung hielt einige Zeit an. Ein solches Erlebnis, so schön es ist, überrascht und beklemmt doch etwas. Es zeigt uns blitzartig, dass wir dem primitiven Menschen mit seiner Furcht vor den Naturgewalten viel näher sind, als wir es je gedacht oder gefühlt haben.

Im Täli liessen wir uns zur Ruhe nieder und sahen plötzlich etwa 50 m vor uns eine Schar junger Murmeltierchen, die vor ihrem Bau lustig spielten. Die Alten fehlten. Lange schauten wir zu. Schliesslich zog ich vorsichtig meinen Photoapparat aus dem Rucksack, machte ihn schussbereit und schlich den Murmeltierchen entgegen. Je näher ich kam, um so besser merkte ich, dass die Jungen keine Gefahr kannten. Es gelang mir, ganz zum Bau zu gelangen. Nur einen Meter sass ich vom Loch entfernt. Ihrer sechs Junge trieben ein possierliches Spiel. Neugierig waren sie wie die Geissen. Interessiert schauten sie mir zu. Zu lustig, wenn jedes zuvorderst sein wollte und das andere mit dem Pfötchen zärtlich aber bestimmt am Genick packte und in das Loch hineindrückte. Das so um seinen Posten beraubte kam nach kurzer Zeit zu einem anderen Loch heraus, hüpfte wieder die Halde hinauf und verdrängte nun den Bruder oder das Schwesterchen, das ihm vorhin den Platz versperrt hatte. Lange schauten wir diesem reizvollen Spiele zu. Es erleichterte den Verzicht auf die Signina.

. Die Berge der Signinakette sind keine weltberühmten Giganten. Sie bieten aber dem, der Augen hat, zu sehen, viel Schönes und Interessantes. Und die Gegend von Tenna hat eine auserlesene Flora. Freilich, wer in das Safiertal will, darf nicht zu jenen Menschen gehören, die den Stadtbetrieb mit allem Drum und Dran auch angesichts der Berge begehren. Wer aber der Stimme der Natur und seiner eigenen lauschen will, wird reich beschenkt aus dieser schönen Gegend zurückkehren.

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