Im Land der Drachen
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Im Land der Drachen Zusammenfassung

China, Land der unermesslichen Distanzen. Ich sitze im Zug, im Bus, im Auto, auf dem Traktor, und Tausende von Bildern ziehen vor meinen Augen vorbei. Dann ein Halt, ich steige ab und beginne zu Fuss meine Reise durch das südliche China. Sie ist eine Rückkehr in eine bäuerliche Welt, in der noch Büffel oder Menschen den Pflug ziehen, in der das Leben einfach ist und in uraltem Rhythmus abläuft. Die Provinzen Yunnan, Guizhou und Guangxi bilden ein dicht wie ein wogendes Meer gewelltes Gebiet von Bergen zwischen 500 und 6000 Metern Höhe. Ausgedehnte Hochebenen aus Kalkstein, tiefe Schluchten, ungestüme Flüsse, Wasserfälle und Seen fügen sich zu einer rauhen Landschaft. Die ursprüngliche Bewaldung ist im Lauf der Jahrhunderte beträchtlich zusammengeschmolzen; grosse Flächen sind ihrer Bäume beraubt worden. Inzwischen ist Brandrodung, die das Ziel hat, mehr Ackerland zu bekommen, von der Regierung verboten. So gibt es heute die auf dem Prinzip «Schlagen und Brennen» beruhenden, zerstörerischen landwirtschaftlichen Wanderkulturen nur noch in den abgelegensten und unzugänglichen Gebieten. Die Natur hat die Landschaft geformt, aber der Mensch hat im Lauf der Jahrhunderte tiefe Spuren in ihr hinterlassen. Jedes Stückchen Land ist kostbar und wird intensiv kultiviert. Es ist ein «gezähmtes», weitgehend urbar gemachtes Land, denn die Bauern haben, gleich einfallsreichen Bildhauern, seine feindliche Natur ihren Bedürfnissen entsprechend umgeformt: Sie haben die steilen Berghänge in geduldiger Arbeit terrassiert. Die mächtigen Stufen verhindern nicht nur die gefährlichen Bergrutsche während heftiger Regen, sondern tragen auch zu einer Abnahme der Erosion bei und vergrössern die für den Ackerbau nutzbare Fläche. Diese die Berghänge von der Höhe bis in die Ebene unterteilenden Felder gemessen den Vorteil einer maximalen Sonneneinstrahlung. Das gesamte landwirtschaftliche Gefüge erfordert gewissenhafte Pflege. Zu Beginn des Jahres werden die Äcker gepflügt, die Terrassen instand gesetzt oder neue angelegt; im Mai wird der Reis gepflanzt, im September kann er geerntet werden. Die Felder liegen niemals brach, wenn sie nicht Reis tragen, werden Süsskartoffeln, Mais, Buchweizen, Gerste und verschiedene Gemüse auf ihnen angebaut.

Das südliche China gleicht nicht nur einem Meer aus Bergen und Hügeln, sondern auch einem Meer von Gesichtern. Die durch das Gebirge bedingte Isolierung hat jahrhundertelang das Überleben der verschiedensten ethnischen Gruppen (Zhuang, Miao, Dong, Naxi, Yao, Yi, Bai, Hani, Tibeter) begünstigt, die in den abgelegensten, schwer zugänglichen Regionen ihre sozialen und kulturellen Traditionen und ihre ursprüngliche Sprache fast unberührt erhalten konnten. Der das Leben bestimmende Mondkalender ist durch viele Feste gegliedert, Gelegenheiten zu Familientreffen und Begegnungen mit Freunden. Sie sind aber auch für die heiratsfähige Jugend eine Möglichkeit, den zukünftigen Ehepartner zu finden; ein Grund für die jungen Mädchen, prächtige, reich bestickte Gewänder und prunkvollen Silberschmuck zu tragen, die ihre Schönheit und ihren Reichtum zur Geltung bringen.

Zu der grossen Zahl der Bedrohungen für die Natur wie Luft- und Wasserverschmutzung, Giftabfälle, Zerstörung der Ozonschicht und Ausrottung zahlreicher Tierarten kommt heute noch das Verschwinden alter Volksgruppen als Folge des zunehmenden und unvermeidlichen sozialen Niedergangs. Der stürmische wirtschaftliche Wandel Chinas bringt das reiche kulturelle Erbe der ethnischen Minderheiten in grosse Gefahr. Am stärksten bedroht sind jene Volksgruppen, die in der Nähe grosser städtischer Zentren und entlang der wichtigsten Verkehrswege leben. Immer mehr Junge wenden sich von den überlieferten Sitten ab und dem modernen städtischen Leben zu. Ein Gleichgewicht von Traditionen und Modernität zu finden ist für die junge Generation eine äusserst schwierige Aufgabe.

Aus dem Italienischen übersetzt von Roswitha Beyer, Bern

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