Intermezzo
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Intermezzo

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Fri15 Tradisler ( Bern ) Durch die Nordwand des vierten Kreuzberges waren wir heraufgestiegen, in dem mächtigen Kamin, der den östlichen Teil der Wand bis fast zur Grathöhe spaltet. Die Wand lag noch im Schatten, und morgendliche Kühle hing um Platten und Kanten. Vom Ende des Kamins aus hatten wir ohne Mühe das schuttübersäte, breite, geneigte Band gewonnen, das zu den Rissen hinüberleitet, durch welche man nach einigen Seillängen zum Vorgipfel gelangt. Ich stand nicht zum erstenmal hier; in einem der vorhergehenden Sommer schon war ich mit einem Kameraden auf diesem selben Weg in die Höhe geklettert. Allerdings konnte ich mich nicht mehr genau entsinnen, welchen Riss wir damals gewählt hatten. Aber ich wusste noch, dass ich nach dem Abstieg von der Roslenalp aus erstaunt gesehen hatte, wie kühn dieser letzte Teil der Route hart an der glatten Nordwand, im äussersten Riss, zur Höhe strebt. Stand es nicht auch so im Führer? « Den zu äusserst an der Wand gelegenen benützend, geht 's hinauf. » Diese Worte klangen in meinen Ohren. Ohne mich umzusehen, begann ich in diesem Riss emporzusteigen.

Die ganze Kreuzbergkette besteht aus senkrecht aufschiessenden Schichten, sie lässt sich etwa mit einer übel zugerichteten Säge vergleichen. Zwischen diese Schichten hat die Zeit Spalten und Risse hineingefressen, so dass scharfe Grate, ja grosse, senkrecht stehende Platten blossgelegt sind. Die Nordwand des Vierten ist eine solche Platte, die in prächtigem Schwung vom Fuss der Wand lotrecht zur Höhe schiesst. In der Gegend, wo ich mich nun hinaufmühte, ist diese grosse Platte vom Berge abgespalten, ein Zwischenraum von der Breite einer Elle klafft zwischen der Platte und dem Berg. Mit Anstrengung war ich einige Meter emporgekommen und verharrte an einem halbwegs dazu geeigneten Ort, um etwas auszuruhen und den Weiterweg zu erkunden. In die Höhe schaute ich und konnte durchaus nicht begreifen, dass wir vor zwei Jahren hier emporgeklommen sein sollten. So weit ich sah, war nicht ein einziger Griff oder Tritt zu entdecken. Die beiden Kanten des Risses waren nicht scharf und glatt, sondern etwas abgerundet. Unzählige kleine Vertiefungen waren muschelförmig aus ihr herausgeschlagen, INTERMEZZO jedoch zu nichts nütze. Wie sollte ich da weiterkommen? Den Körper drin zu verklemmen und mich wie ein Wurm emporzuwinden, dazu war der Riss zu weit, und zum Stemmen war er zu schmal. Ich schaute zu Hans hinunter, der da recht sorglos stand, das Seil in den Händen, und nichts zu tun hatte. Sollte ich umkehren? Nein. Ich machte einen Versuch, höher zu klettern. Den linken Fuss drückte ich an die Risskante, lehnte die Schulter gegen die andere Kante und suchte mich so emporzuschieben — das ging nicht. Wieder in die Ruhestellung! Nochmals versuchen. Kräftig anstemmen, so gut es eben geht, da, ein kleiner Ruck, der Fuss gleitet aus, ich rutsche zurück. Mir dämmert, dass man nicht ewig in solch mühsamer Ruhestellung bleiben kann, und ich schaue mir nun doch den Rückweg an. Es sind nur wenige Meter. Gewiss kann ich hinunter. Ich setze an — komme keinen halben Meter weit. Nun muss ich allerdings zugeben, dass mein Vertrauen in den Reibungskoeffizienten seit jenem kleinen Rutsch vorhin etwas gelitten hat. Überhaupt — dieser Abstiegsversuch ist eine Sache, von der ich recht wenig überzeugt bin. Er ist eher ein hinhaltendes Manöver, ein nutzloser Scheinangriff, um Zeit zu gewinnen. Zeit wozu?

Die Sonne ist etwas höher gestiegen, ich erkenne es am Schatten der Felszacken auf dem gegenüberliegenden Hang des Roslenfirstes. Der dritte Kreuzberg, der über die Gratscharte des vierten zu mir herüberguckt, ist ganz von ihrem hellen Schein übergössen. Das Licht beginnt in seine Risse und Kamine hineinzufliessen. Er sieht sehr trocken aus. Habe ich gesagt, er gucke zu mir herüber? Das ist nicht wahr. Jener Berg schaut nicht zu mir. Er ist völlig teilnahmslos. Er hat gar kein Gesicht oder dann ein verschlafenes, das die Sonne noch nicht geweckt hat. Krachen fallender Steine dringt aus einem Graskamin zu mir herüber, Rufen und Johlen menschlicher Stimmen; ich sehe eben noch eine Gestalt als weissen Punkt in den Schatten des Kamingrundes tauchen.

Ich bin hier allein. Die Zeit geht. Der Fels sieht nicht anders aus als vorhin. Er ergibt sich nicht.

Worte flattern über den nahen Grat zu mir her, fallen an mir vorbei in die bodenlose Tiefe. Es wird jemand in der Nähe sein. Mag er zum Teufel fahren, ich will keine Zuschauer. Von dort, vom Grate aus, könnte man, bequem hingesetzt, mir in aller Ruhe zuschauen. Aber niemand ist dort, zum Glück. Wieder höre ich menschliche Stimmen, diesmal verstehe ich sie deutlich: « Siehst du, wie gut es ist, dass wir nicht dort hinaufgegangen sind. » Gewiss, das ist sehr gut! Viel besser ist 's, ich sitze hier statt euch. Ihr kämet ja hier wohl nicht viel rascher vorwärts als ich!

Ferne Gestalten tauchen drüben aus dem Schrund des Kamins am dritten Kreuzberg. Auch auf seinem Gipfel stehen Leute. Die Beneidenswerten!

Merkwürdig, wie lange es diesmal dauert, bis ich müde werde. Der Fuss beginnt zwar etwas zu schmerzen. Hinunter kann ich nicht, das weiss ich. Es gibt nur eines: in die Höhe. Hier bin ich doch schon einmal durchgekommen, also muss es auch jetzt gehen, wie unbekannt mir die Felsen auch scheinen. Von überall her fliesst etwas auf mich zu, in mich hinein. Ich weiss nicht, ob es die Seele des Steins ist, das Leben des Felsens — ich weiss nicht, wie .T

INTERMEZZO ich mich in dieser Klamm hinaufschrauben soll — ich weiss nicht, wie lange ich schon hier stecke. Aber ich fühle: Hier muss ich hinauf — ich muss. « Probier's doch nochmals mit Stemmen! » ruft es aus der Tiefe. Mein Kamerad hat recht. Trotz allem ist dies die einzige Möglichkeit, etwas zu tun, wenn ich hier nicht vertrocknen will. Nochmals werfe ich einen Blick in die Höhe. Sehr gut! Kein Ruhepunkt, so weit das Auge reicht.

Da klemme ich meine Unterschenkel zwischen die Bergwand und die abgespaltene Platte, so wie die Bauarbeiter Spriesse waagrecht zwischen die Wände der Schächte keilen. Und auch den Unterarm verspriesse ich auf diese Weise in der Kluft, und dann würge ich mich empor. Zehn Zentimeter, zwanzig Zentimeter. Langsam den linken Fuss anpressen, Unterschenkel und Arme nachziehen — aufs neue verkeilen. Ich fühle mich Teil eines unbegreiflichen Klumpens aus Fels, Kraft, Luft, Wollen und äusserster Anstrengung. Von Denken ist gar keine Rede mehr. In meinem Kopf ist nur für eines Platz: Hilf Himmel, ich muss doch hier hinauf! Man wird doch hier hinaufkommen! Es geht, es geht ja. Sehe ich etwas? Gewiss, ich sehe meinen linken Fuss. Ich sehe sehr gut, wo, und passe auf, wie ich ihn hinpresse. Zwei- oder dreimal geschieht es, dass er abgleitet, aber immer, bevor ich mein ganzes Gewicht ihm anvertraut habe. Ich weiss ganz gut, dass unter mir der Spalt keilförmig zusammenläuft, ganz sachte. Nach ein paar Meter Fall würde ich stecken bleiben, Luft über mir und Luft unter mir. Aber dass ich fallen könnte, daran ist kein Gedanke. Ich bin überhaupt nicht mehr ein lebendes Wesen, das da in dem Felsen hängt. Ich bin selber Fels und Unnachgiebigkeit, selber Stein, der sich vom andern nur dadurch unterscheidet, dass er sich bewegt. Meter um Meter geht es aufwärts.

Es kommt mir in den Sinn, dass ich eigentlich müde bin. Von Ausruhen ist keine Rede. Nicht eine einzige Zehntelssekunde darf verloren gehen. Ich habe nicht Musse, nach oben zu sehen, wie weit der Weg noch ist. Wer weiss, was die Glieder in einem unbewachten Augenblick anfangen würden! Aber jetzt arbeiten sie prächtig. Arm und Bein, mit immer heftigerer Gewalt pressen sie sich an die Felsen.

Ein Griff erschien, ein Tritt. Soll ich sagen endlich — endlich erschien ein Tritt? Nein, nichts war herbeigesehnt. Dazu war keine Zeit. Es musste gehen — und es ging, Stück um Stück. Es musste ein Ende nehmen. Das war weder erfreulich noch zum Verwundern, sondern selbstverständlich.

Es war so weit! Auf unschwierigen Felsen konnte ich weiterklettern. Das Seil ging aus. Hans band sich los. Ich stieg weiter bis zu einem Ruhepunkt. Es ist zu erwähnen, dass natürlich kein Mensch jemals durch diesen unsinnigen Spalt hinaufsteigt! Eine halbe Seillänge daneben leiten leichte Felsen empor, über die mich Hans erreicht, und nach kurzer Zeit haben wir den Vorgipfel gewonnen!

Aber dieser Riss hat mir Kraft gegeben. Lange noch habe ich im Tal aus der Erinnerung an diesen Riss geschöpft: Es muss gehen — muss!

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