Jedem seinen Alpenblick
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Jedem seinen Alpenblick Begegnung mit den Touristen auf dem Jungfraujoch

Die Schweiz und die Berge sind in der Vorstellung ihrer Besucher eins. Ihre Eindrücke sind so unterschiedlich wie charmant.

«Spektakulär, wunderbar, kalt, magisch, authentisch …» Diese Worte kommen aus dem Mund von Touristinnen und Touristen, die auf dem Jungfraujoch anzutreffen sind. Der Strom der Gletscher, Eiger, Mönch, Jungfrau und viele andere Gipfel – ein erstaunliches Bergpanorama entfaltet sich vor ihren Augen. Die Touristen aus aller Welt fahren mit dem Zug hinauf, steigen auf 3454 Metern aus und verbringen einige Stunden auf dem «Top of Europe». Für viele ist es die erste Begegnung mit dem Hochgebirge.

Die Besucherinnen und Besucher nähern sich den Gipfeln in unterschiedlicher Art. Die Ängstlichen verlassen die Anlage auf dem Joch gar nicht erst, sie betrachten die Gipfel lieber von den Terrassen aus oder durch die Glasfenster. Die etwas Mutigeren betreten den Schnee, viele von ihnen zum ersten Mal. Die Angefressenen, Bergsteigerinnen und Alpinisten aus aller Herren Länder, besteigen einen Gipfel. Die «Höhenpilger» sind zwar alle anders, aber eines haben sie gemein: Niemand bleibt unberührt vom Landschaftsspektakel an diesem Ort, der das Hochgebirge für alle zugänglich macht. «Ohne Bergsteiger zu sein, sehen wir uns gerne die Berge an. Wenn wir aufs Jungfraujoch fahren, haben wir das Gefühl, auf dem Dach der Welt zu sein, in aller Sicherheit», freuen sich Simon, Pat und Ben Osborne, eine englische Familie aus Birming­ham.

 

Überrascht von der Härte des Klimas

Die legendenumwobene Jungfrau sehen, davon hat Dušan Sučik geträumt. «Ich war schon oft in den Alpen, aber hier, das ist etwas Besonderes», erklärt der Tscheche, der mit Blick auf die Berge am Boden sitzend picknickt. «Das Gefühl, komplett eingetaucht zu sein, ganz klein mitten in einem so gross­artigen Naturschauspiel, ist sehr selten.» Eine Meinung, die von acht Bernern geteilt wird, die zweimal im Jahr hinauffahren, weil sie alle den Vornamen Pierre tragen. «Obschon wir die Gegend kennen, wird man ihrer nie überdrüssig», sagt einer, «es ist ausserordentlich, die Berge so nah zu haben.» Ein anderer Pierre bedauert «die übertriebene Entwicklung des Tourismus, die diesen ausserordentlichen Ort betrifft».

Die Gesichter von Pinghan und Shihyi Chuang sind halb verdeckt von einer Atemschutzmaske. Sie kommen aus Taiwan und besuchen die Schweiz auf ihrer Hochzeitsreise. «Ein so ausserordentlicher und leicht zugänglicher Ort wäre bei uns komplett überschwemmt von Touristen», sagen sie positiv überrascht. «Der Yu Shan (3952 m), der höchste Berg Taiwans, scheint uns stärker besucht.» Tatsächlich hat das instabile Wetter dieses Tages wohl viele abgeschreckt. Shihyi Chuang ist überrascht vom rauen Wetter und staunt über «die Geschwindigkeit, mit der das Wetter von einer Aufhellung zu dickem Nebel wechselt». Das Phänomen erstaunt auch eine Gruppe Inderinnen aus Allahabad. «Wir sind nicht gut genug angezogen und haben das Restaurant nicht verlassen können», sagt Narasimha Rao in ihrem leichten Sari enttäuscht. «Aber das hindert uns nicht daran, diesen Ort wunderbar zu finden, obschon unsere Berge auch schön sind.»

 

Das Abenteuer Hochgebirge

Die Alpen mit anderen Bergen zu vergleichen, das machen die Besucherinnen und Besucher ohnehin. Abdullah ist keine Ausnahme: «In Dubai erdrückt dich die Hitze. In der Wüste sind die Berge aus Sand und Stein. Hier liebe ich es, die Kälte zu spüren. Ich habe nie zuvor so imposante Berge gesehen.» Der junge Mann präsentiert stolz Handschuhe, Schal und Mütze. Seine Schwester Eman schätzt die Brise, die sie als «natürliche Klimaanlage» bezeichnet, bevor sie sich auf eine familiäre Schneeballschlacht einlässt.

Der aus Malaysia angereiste Marcus Lim zeigt seiner Freundin Jayne Tan aus Borneo die Schweiz und die Alpen. «Den Zug nehmen, um so hoch hinaufzufahren, ist schon ein Abenteuer für sich», meint der junge Mann. Am Tisch in der Mönchsjochhütte sitzend, probiert seine Begleiterin zum ersten Mal eine mit Käse überbackene Rösti. «Die Alpen kannte ich nur von Bildern. In der Realität sind sie sogar noch schöner. Auch wenn ich Mühe habe mit Atmen, ich bin froh, da zu sein.» Die Ruhe und die Stille gefällt den jungen Leuten besonders. «Ich hatte geglaubt, wir würden Skifahrer antreffen und ich könnte mich im Snowboarden versuchen. Aber eigentlich ist es besser, dass es auf diesen Gipfeln fast nichts hat. In Malaysia haben wir die Unberührtheit unserer Berge nicht immer bewahren können. Nahe bei meinem Wohnort, auf dem Gipfel des Genting, stehen ein Casino und ein Themenpark», sagt Marcus mit Bedauern.

 

Der «Snobismus» der Gipfel

Der Mythos der Alpen hat eine starke Wirkung auf die Touristen aus der ganzen Welt. «Viele Szenen aus Bollywoodfilmen sind in den Alpen gedreht worden», erklärt Priyadarshini Ramachandran. Die junge Frau ist in Mumbai, dem früheren Bombay, in Indien aufgewachsen und kennt die Schweiz nur von den Kinoklischees. «Ich musste hierherkommen, um die Realität mit der Fiktion zu vergleichen. Die Schweiz ist eine sehr attraktive Destination für Inderinnen und Inder. Wir träumen alle davon, herzukommen und die Berge zu sehen.» Mit ihrer Familie lässt sie sich vor der Tafel «Top of Europe» fotografieren. «Ich verbreite mein Foto über die sozialen Netzwerke. Für uns ist es sehr chic, zu zeigen, dass wir hier sind, auch wenn ich keinen einzigen Gipfel mit Namen kenne.»

Der «Snobismus» der Berge nimmt für den Japaner Hirami Wada eine sportlichere Form an. Er ist seit rund zehn Jahren nicht mehr in die Alpen gereist und hat sich Sorgen über das Ausmass des Gletscherschwunds gemacht. In wenigen Tagen hofft er, den Mönch und die Jungfrau besteigen zu können, bevor er sich ans Matterhorn macht, dann an den Mont Blanc. Mit drei Wörtern Englisch versucht er, zu erklären, inwiefern «die Alpen für einen Bergsteiger aus seinem Land etwas Besonderes sind». Und fügt an, dass in Japan Klettern Gesundheit bedeute. Seine Begeisterung erstaunt den Berg­führer Alexandre Ravanel aus Chamonix nicht. «Die Alpen sind nach wie vor der Heilige Gral für viele Bergsteiger. Ich bin vor allem mit Asiaten unterwegs. Aber es ist das erste Mal, dass ich eine Woche mit einem Kunden verbringe, ohne dass ich mich mit ihm verständigen kann.» Alexandre erklärt die Landschaft mit Gesten, spricht die Namen der Gipfel aus, es sind die einzigen Worte, die Hirami versteht.

 

Zum ersten Mal Schnee sehen

Ein Bergsteiger Seite an Seite mit einer Inderin im Sari. Klettergurt, Steigeisen und Seil hier, wenig angepasste Kleidung dort. Was für Kontraste. Die von einer Schweizer Freundin warm eingekleideten Mexikanerinnen Aracili und Olivia wussten nichts über die Alpen. Sie sehen zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee. «Ihn zu berühren, verblüfft mich, ebenso wie das Geräusch, das er macht, wenn man auf ihm geht», sagt Aracili verwundert. Als sie vernehmen, dass man ihn auch essen kann, nehmen die beiden Frauen ein wenig in denMund. «Wow! Diese Berge sind magisch», begeistert sich Olivia, die von der Schweiz bisher nur die Schokolade aus der «Milka-Werbung» kannte.

Der Nigerianer Paul Emeka fotografiert das Panorama aus allen Winkeln. Vor dem Bild des Aletschgletschers lächelt er: «Ich begreife endlich, was ein Gletscher ist, aber ich stellte ihn mir weisser vor und nicht so grau. Wie sich diese Eismasse in Bewegung setzen kann, verstehe ich nicht. Beeindruckend finde ich die Tiefe der Gletscherspalten. Es ist noch viel packender, die Berge vis-à-vis zu haben, als an ihrem Fuss zu stehen.»

Ein Souvenir, eine Postkarte für die Liebsten zu Hause, die Besucherinnen und Besucher des Jungfraujochs begeben sich aufs Perron, um den letzten Zug ins Tal zu nehmen. In den Wagen nicken die meisten ein, die Erinnerung an die Alpen tragen sie mit sich nach Hause.

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