Kontraste in der alpinen Landschaft
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Kontraste in der alpinen Landschaft

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON JÖRG HASLER, ÖLTEN

Mit I Kartenskizze und 4 Bildern ( 111-114 ) Dies ist nicht ein Aufsatz über eine schwierige Hochgebirgstour, eine waghalsige Kletterei an senkrechten und überhängenden Wänden oder gar über eine Expedition in unbekannte Gegenden der Anden oder des Himalaya; unsere Route führt uns ganz schlicht ins Grenzgebiet zwischen Bern und Wallis und erreicht kaum einmal Höhen wesentlich über dreitausend Meter.

Vielleicht hat sie das Besondere, dass sie dort endet, wo sie angefangen hat, dass wir auf einem Kreis im Gebirge herumwandern und so dasselbe Gebiet aus den verschiedensten Perspektiven erleben; am Morgen beispielsweise den berühmten Blick von Kandersteg auf die weisse Blümlisalp, gegen Abend vom Hockenhorn aus die gleiche Blümlisalp als schwarze Steilwand; von der Roten Kumme her sehen wir die über und über mit Firn bedeckten Hänge von Balm- und Rinderhorn und erinnern uns dabei an die Rundsicht vom Gipfel desTorrenthorns aus, wo uns die senkrechten Felswände dieser Berge beeindruckt haben. Der scharfe Gegensatz zwischen Steilabfällen gegen Süden und Osten und gemässigten Neigungen gegen Norden und Westen - Firnfeldern oder ( in tieferen Regionen ) Alpweiden - ist ja für die ganze Gegend typisch. Wir denken dabei nicht zuletzt auch an die Gemmi. Häufig sind es Kontraste, die eine Landschaft berühmt machen. Nehmen wir als anderes Beispiel das Seenplateau zwischen St. Moritz und Maloja! Da ist es diese ganz reine Ebene, die sanft in die Ebene der Wasseroberfläche übergeht, im Gegensatz zu den steilen, felsgekrönten Berghängen zur Linken und zur Rechten.

Der Kontrast zwischen Steil und Nichtsteil aber ist lange nicht die einzige Pointe am Gemmipass. Die Gemmiwand reicht bis hinauf zum höchsten Punkt des Passes und bildet mit der fast flachen Nordabdachung eine eindeutige Kante: Der von Norden kommende Wanderer wird urplötzlich mit der Walliser Landschaft konfrontiert. In seinem 1882 erschienenen Buch « Pflanzenleben der Schweiz » schreibt Hermann Christ: « Eine Längsfurche, tief und lang: hundertzwanzig Kilometer von der Furka bis zum Léman, in die höchste Erhebung der Alpen eingerissen: das ist das Wallis. Es ist in jeder Beziehung unser eigentümlichstes Land: nicht mit Unrecht hat man es das schweizerische Spanien genannt. Ein schärferer Kontrast als beim Übergang aus der frostig-kühlen, von Feuchtigkeit strotzenden nordalpinen Natur des Berner Oberlandes in das gewaltige Rhonetal ist in Europa auf so kleinem Raum nicht wieder zu finden. Wer die Gemmi übersteigt - ein halber Tagesmarsch -und aus dem moosigen, in Laub- und Tannenwald gehüllten Kandertal bis an die Kante des Passes gelangt ist, wo - auf der .Daubedie Aussicht plötzlich über die Penninischen Alpen und in die Taltiefe von Wallis sich öffnet, der sieht mit Erstaunen einen andern Himmel, andere Farben, eine südliche Gebirgslandschaft erhabensten und originellsten Stils. Das scharfe Licht des Südens - ,il lume acuto ', wie es schon Dante genannt hat - die am Mittag so wunderbar nahe Ferne mit ihren unvermittelten schwärzlichen Schatten der am Abend so herrliche rosig und rubinfarbig strahlende Ton der ganzen Landschaft die mächtige fast unerträgliche Insolation an der steilen Felswand die Abhänge voll duftender Sabina sind Zeugen südlichen Lebens die uns sofort begegnen wenn wir die Gemmi niedersteigen. » Auch der Lötschenpass ist ein Übergang zwischen Bern und Wallis, aber der Kontrast zwischen Nord und Süd kommt hier kaum so zum Ausdruck wie auf der Gemmi. Denn der Riegel der Bietschhornkette verwehrt weitgehend den Blick ins Wallis hinein; man fühlt sich auf dem Lötschenpass viel mehr ganz im Gebirge drin als auf einem klaren Übergang von einem Landesteil zu einem andern.

Unbekannter ist der Restipass. Er überquert nicht die Hauptkette der Berner Alpen selber, sondern bloss einen ihrer südlichen Ausläufer. Und dennoch ist seine Furche höchst gerissen gelegen: ziemlich genau auf der Verlängerung der Lötschental-Geraden. Während des ganzen Aufstiegs ( von der Ostseite her ) sieht man all die Berge rund ums Lötschental, erlebt beim ständigen Höherkommen, wie sich ihre gegenseitige Lage stetig verändert: die hinteren, höheren Erhebungen beginnen Adell über die vorderen, niedrigeren zu dominieren, am Horizont tauchen neue auf. Wie der Kampf einer Menge Individualisten um die Priorität, in dem die wahrhaft Grösseren schliesslich siegen: Man erlebt plastisch die effektiven räumlichen Beziehungen der Höhen und Tiefen zueinander, die geographischen Zusammenhänge.

Im Gegensatz dazu bewegt sich jener, der von Westen her den Pass in Angriff genommen hat, in keiner besonders bemerkenswerten Umgebung. Um so überwältigter ist er von der Bergkulisse, der er oben auf der Passhöhe auf einmal gegenübersteht. Zitieren wir hier Ferdinand Hodler! Er schreibt:«... Führt mich ein Weg durch einen Tannenwald, wo Baum an Baum zum Himmel strebt, so sehe ich vor, neben und hinter mir Stämme, die sich wie unzählige Säulen erheben. Eine gleiche Linie, die sich vielfach wiederholt, umgibt mich. Ob die Stämme sich hell auf einem sich immer mehr aufhellenden Hintergrund abheben oder ob sie himmelwärts streben, es ist immer die gleiche, oft wiederholte Linie, die sich zu einer schönen Einheit verbindet. Die Ursache, die diese Einheit bedingt, ist der Parallelismus. Die zahlreichen senkrechten Linien wirken wie eine einzige grosse Senkrechte oder wie eine grosse Fläche. Wenn wir unser Auge auf einer Wiese schweifen lassen, wo eine einzige Blumenart massenhaft blüht, wie zum Beispiel der Löwenzahn im Frühjahr, dessen lebhaftes Gelb sich von dem zarten Grün des Rasens abhebt, so empfinden wir den Eindruck einer grossen Einheit, die uns bis zum hellen Jubel entzückt... Oder man denke sich in ein mit Felsblöcken dicht- besätes Gelände, die Überreste eines Bergsturzes, wie etwa am Fusse des Salève, versetzt, und man wird gleich den Eindruck von melancholischer Grosse, bedingt durch die Wiederholung ähnlicher Formen und Farben, davontragen. Einem ähnlichen, aber viel stärkeren Eindruck unterliegen wir, wenn wir uns auf einer Bergspitze inmitten der Alpen befinden. Alle die zahllosen Gipfel, die uns umgeben, lösen die Bewunderung jenes Reizes aus, der aus der Wiederholung des Gleichartigen hervorgeht... » Der Wanderer, dem sich so plötzlich die Bergkulisse östlich des Restipasses offenbart hat, wird zweifellos die Reihung der unzähligen Gipfel, die vielfache Wiederholung von gleichartigen Formen empfinden. Er wird in den Gipfeln kaum « Individualisten » sehen: er wird sie - solange er noch keine Landkarte aufschlägt - kaum als Körper im Raum empfinden; vielmehr wird die Einheit der zahlreichen einander ähnlichen Elemente wie eine grosse Fläche wirken.

Zwei ziemlich kontrastierende Empfindungen ein und derselben Landschaft, je nachdem, wie sich einem der Blick auf sie öffnet! Natürlich kommt dieses Phänomen mancherorts vor, aber am Restipass ist es besonders ausgeprägt.

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