Labrador
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Labrador

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON HANSPETER DUTTLE, LA PAZ, BOLIVIA

Mit 4 Bildern ( 87-90 ) Der Pilot des kleinen Buschflugzeuges fliegt mich zur Killinek-Insel an der Nordspitze Labradors. Dort befindet sich die Eskimosiedlung Port Burwell mit rund hundert Einwohnern. Im Auftrag der kanadischen Regierung soll ich dem Dutzend schulpflichtiger Kinder die englische Sprache beibringen. Da ich bereits im vergangenen Jahr bei den Caribou-Eskimos an der Hudson Bay die Sprache gelernt und Lebensweise der Eskimos angenommen habe, freue ich mich gewaltig auf den neuen Posten. Zudem hoffe ich, mit Hilfe eines guten Hundelenkers ins Innere von Labrador zu dringen, um dort einen Gipfel zu besteigen.

Beim Zusammenleben mit den Eskimos habe ich viele Ähnlichkeiten mit den Sherpa und Tibetanern bemerkt. Nicht nur Aussehen und Mentalität, auch äussere Lebensbedingungen und sogar einige Sitten verbinden das Eskimovolk mit seinen Brüdern am Himalaya. Die Eskimosprache allerdings ist ganz anders und nicht einfach zu erlernen. Aber auch die Eskimos sind fröhlich, gelassen und sehr gastfreundlich und ihre Töchter, wie die der Sherpa, oft sehr anziehende Geschöpfe!

Meine Unterkunft in Port Burwell, ausgerüstet mit Kochherd, Öllampe, Pritsche und Tisch, gleicht einer alten SAC-Hütte. Weil die Baumgrenze einige Hundert Kilometer weiter südlich liegt, heizt man nur mit Petrol oder Seehundsfett. Mangels eines Schulhauses unterrichte ich die fröhliche Kinderschar bei mir. Es gibt nicht viel zu tun, denn immer ist ein Teil der Kinder mit den Eltern auf der Jagd; dies ermöglicht mir, die Vorbereitungen für die Fahrt zu den Torngat-Bergen in Labrador bald zu beginnen.

Trotz ihrer angeborenen Fröhlichkeit sind die Eskimos anfänglich scheu. Aber es gibt auch hier einen sicheren Weg zum Herzen dieser Menschen: ihre Sprache sprechen, ihr Leben teilen - und ihre Kinder gewinnen. Als Lehrer habe ich natürlich die beste Gelegenheit dazu, und bald bin ich aufgenommen in die friedliche Gemeinschaft.

Für mein Bergunternehmen brauche ich einen zuverlässigen Kameraden: Ich wähle Tukak. Er ist jung, kräftig und besitzt neun ausgezeichnete Hunde. Im Mai sind wir bereit; unser Schlitten ist vollbepackt mit Zelt und Proviant. Ich habe im Sinn, einige Tage lang die Küste von Labrador hinunter ( also nach Süden ) zu fahren und dann ins Innere des Landes vorzudringen. Dort werde ich mir einen Gipfel aussuchen.

Vor unserer Abfahrt nehmen wir der Sitte gemäss keinen Abschied. Selbst Tukaks junge Frau tut nichts dergleichen, als sie beim Anschirren der Hunde mithilft Tukak gibt den Hunden den Startruf, und sofort haben wir alle Hände voll zu tun: Wir müssen den Schlitten durch das aufgetürmte Packeis lotsen. Die Zugseile verstricken sich um die Eisblöcke, und die Hunde beginnen ihre Kämpfe und Beissereien. Wir rufen, fluchen und werfen Eisstücke nach den Hunden, um sie vorwärts zu treiben. Erst weiter draussen auf dem Meer, wo das Eis flach wird, beruhigt sich die Meute.

Der Mai ist eine prächtige Jahreszeit in der Arktis: Das Eis ist auf weite Strecken spiegelglatt, die Schneeschicht auf dem Land dünn und hart. Gewaltig ragen die steilen Gipfel Labradors in den Himmel. Es ist nicht mehr so kalt, und man kann auf das leidige Iglubauen verzichten. Die gleissende Sonne lässt die weisse Landschaft mit den schwarzen Gipfeln erstrahlen.

In den ersten Tagen kommen wir schnell vorwärts. Wenn wir einen Bergsattel erklimmen, um in einen neuen Fjord zu gelangen, helfen wir unseren Hunden beim Ziehen; oben angelangt, lassen wir die Tiere los und sausen auf der anderen Seite hinunter.

Wir beabsichtigen, jeden Tag einige Seehunde zu erlegen, die sich um diese Jahreszeit auf dem Eis zu sonnen pflegen. Unsere Hunde verschlingen im Tag gut einen Seehund, und auch wir brauchen rohes Fleisch zur Stärkung gegen die Kälte. Den Rest wollen wir für die Rückreise bereithalten. Aber unser Unternehmen ist nicht vom Jagdglück begleitet; irgend etwas scheint die Seehunde verängstigt zu haben. So sehr wir uns auch bemühen, hinter dem weissen Segeltuchschild verborgen und gegen den Wind, den dösenden Seehund anzuschleichen, immer verschwindet er noch rechtzeitig im Atemloch.

Jeden Abend errichten wir unser Zelt auf einer flachen Stelle der Küste. Manchmal stosse ich dort auf Steine, die kreisförmig angeordnet am Boden liegen: Reste eines alten Eskimolagers. Diese « Zeltringe » sind vielleicht hundert Jahre alt, vielleicht auch tausend. Nicht oft hat sich jemand die Mühe genommen, die Harpunenköpfe und verwitterten Knochengeräte aufzulesen, die hier noch herumliegen. Und wer weiss, ob nicht auch die Vikinger hier irgendwo gelagert haben!

Eines Nachts beginnen die Hunde ihr kurzes, aufgeregtes Warngebell, das sich eigentlich mehr wie ein trockenes Husten anhört. Ein Eisbär? Wir greifen zum Gewehr und eilen aus dem Zelt. In der Dunkelheit können wir nichts erkennen. Dort, ein langer, schwarzer Schatten! Es ist ein Hundegespann. Merkwürdig - von Port Burwell wollte doch niemand auf die Jagd nach Labrador, und das nächste bewohnte Dorf, Nain, liegt über vierhundert Kilometer weiter südlich. Von dort kommt selten jemand da hinauf. Endlich erkennen wir die Züge des Lenkers: es ist Tirkringerk, einer aus unserem Dorf. Die Begrüssung vollzieht sich wie üblich, knapp und zurückhaltend. Man muss sich zuerst an die neue Situation gewöhnen. Ich lade den Mann ein, bei uns zu übernachten. In der Wärme des Zeltes « taut » er langsam auf und berichtet, er sei vor einigen Tagen abgereist und fahre seither allein in der Wildnis umher Er habe nur drei Hunde, darunter ein Muttertier; das Junge führe er in einer Kiste mit sich. Unser Gast bringt gute Nachrichten; denn er hat eine frische Eisbärenspur entdeckt.

Am folgenden Tag trennen wir uns wieder. Beide Partien gehen ihre eigenen Wege und wollen versuchen, den Eisbären zu erlegen. Tukak ist innerlich erregt: Eisbärenjagd ist der Höhepunkt des Eskimolebens, und wir brauchen dringend Fleisch für die Hunde. Plötzlich beginnen unsere Tiere mit aller Kraft zu ziehen; sie haben die Fährte mit den riesigen Fussabdrücken entdeckt. Die Meute hat ihren Hunger vergessen, und nun kommen wir wieder schnell vorwärts. Aber es ist schwer, einen wachsamen Eisbären einzuholen; oft verliert sich die Spur ins offene Wasser, und wir werden zu riesigen Umwegen über Land und Eis gezwungen. Nach zwei Tagen Verfolgung müssen wir uns geschlagen geben: der Bär ist entwischt. Dafür sind wir jetzt im Gebiet, das ich für eine Besteigung vorgesehen habe. Hinten, am Ende des langen Komaktorvik-Fjordes, erhebt sich ein gewaltiger Gipfel. In zwei Tagen könnte ich oben sein, doch eben jetzt darf ich nicht an die Berge denken. Wenn wir nicht bald frisches Fleisch haben, werden die Hunde schwach, und wir kommen nicht mehr zurück. Wir schiessen einige Schneehühner, die wir roh verzehren; aber den Hunden ist damit nicht geholfen. Karibus? Ausgerechnet hier kommen diese nicht vor. Es gibt nur eine Lösung: Seehunde.

Wir benützen nun die gleiche Route wie unser Bär. Er hatte die Gewohnheit, von Zeit zu Zeit am Berghang emporzusteigen, um nach Beute Ausschau zu halten. Es sieht drollig aus, wie er mit seinen Riesentatzen im Schnee hinaufgestiegen ist, einen kleinen Sitzplatz ausgeebnet hat und dann in einer anderen Richtung abgezogen ist. Wir verstehen nun auch, warum die Seehunde so ungewöhnlich scheu sind. Unterwegs stossen wir auf die abgenagten Reste eines erbeuteten Tieres. Die Landschaft scheint tot, aber Tukak erspäht mit dem Instinkt des geborenen Jägers seine Beute: Schneehühner, eine Schnee-Eule. Solche Tiere kann ich selber nicht entdecken auf dem weissen Hintergrund, ebensowenig die seltenen Schneehasen, Schneefüchse und die Lemminge. Nur die Krähe ist nicht weiss, und ihr Gekrächze tönt wie ein Donnern in der tiefen Stille. Mein Begleiter erkennt auf viele Meilen einen schlafenden Seehund, dort, wo ich selbst mit dem Feldstecher nur Eisblöcke zu erkennen glaube.

Endlich gelingt es Tukak, einen Seehund zu schiessen. Sofort schneidet er die Leber heraus, die wir auf der Stelle verzehren. Das Fleisch ist warm und süss und bringt wieder Leben in unsere steifgefrorenen Glieder. Am Abend erhalten die Hunde ihr Teil, und im Nu ist auch schon der ganze Seehund weg, mitsamt den Knochen von der gierigen ( und zur Futterzeit nicht ungefährlichen ) Meute verschlungen. Die schwachen und langsamen Tiere erbeuten natürlich wenig, aber so ist das Gesetz unter den Hunden. In der Nacht werden dann die verschlungenen Knochen wieder erbrochen.

In den folgenden Tagen haben wir wieder Pech mit der Jagd. Über uns thronen die Gipfel Labradors, aber die sind nun für mich ausser Reichweite. Wohl oder übel müssen wir zurück. Die müden Tiere werden immer langsamer, und in den langen Aufstiegen zu den Bergpässen bleiben wir oft stecken. An einer steilen Küstenstelle ist das Eis aufgebrochen, so dass wir auf gut Glück von Eisscholle zu Eisscholle gleiten müssen. Aber wir schaffen es.

Die Ankunft im Dorf ist ganz anders als die Abfahrt: Jedermann eilt freudig aus seiner Hütte, drückt einem die Hand und hilft beim Aufnehmen des Hundegeschirrs. Und obgleich ich keinen Gipfel bestiegen habe, liegt ein anderes, tiefes Erlebnis hinter mir: Gemeinschaft mit einem Eskimo in der arktischen Einsamkeit.

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