Lauinhorn
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Lauinhorn

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3642 m = 11.211 Par..F

Am folgenden Morgen ( den 26. August ) war ich längst gerüstet; aber mannigfache Aufenthalte verzögerten den Aufbruch. Wir marschirten daher erst um 51/2 Uhr, also bei hellem Tage, von Ried ab. Ausser hinlänglichem

Schweizer Alpenclub.5 ;.

Proviant hatten wir uns mit zwei wollenen Decken für die Nacht versehen. Bei Platten ,'/4 Stunde thalaufwärts, überschritten wir die Lonza. Ich hatte mir am gestrigen Abend das Relief der zum Baltschiederjoch aufsteigenden Berggehänge so genau eingeprägt, dass mir unter Weges jeder Fels bekannt sein musste. Freshfield und Tucker wollen bei ihrer ersten Ueberschreitung nur 3 % Stunden auf 's Joch hinauf gebraucht haben. Ich glaube hier fast einen Druckfehler vermuthen zu dürfen; der vorgerückten Zeit halber uns sehr beeilend, erreichten wir dasselbe doch erst nach 6 Stunden; auch die Brüder Siegen, die vermöge ihrer bessern Kenntniss der untern Partien im Walde weniger aufgehalten waren, kostete der Aufstieg 5 Stunden, als sie später auf meine Veranlassung nach dem Baltschiederthal gingen. Oestlichvon dem Abflüsse des Bireh-gletschers, der durch eine tiefe Felsenschlucht hernieder-braust, betraten wir das Gehänge. Eine kurze Strecke ging es über Alpweiden empor; dann nahm uns der Wald auf. Wir verfehlten den Fusspfad, der rechts dicht über der Schlucht des Birchgletscher hinaufzieht, und kletterten sehr steil, von den hemmenden Tannenästen und durch die eigene überall widerstossende und sich verwickelnde Bagage mannigfach behindert, an den moosbehangenen Felsen in die Höhe.

Um 7 Uhr war die obere Waldgrenze erreicht. Von hier aus dehnt sich eine wasserlose, grasbewachsene Einsenkung lang empor. Dominirend starrt in ihrem Hintergrund das Bietschhorn aus den Eiswogen des Birchgletschers gen Himmel. Rechts und links von uns erheben sich zwei parallel laufende Felsrücken, auf denen die Vegetation in Gestalt einzelner Hochtannen ihre äussersten Vorposten gegen die Steinregion hinauf sendet. Der westliche Rücken versinkt zuletzt in den Berg, der höhere östliche gi- pfelt hoch droben am Rande der Gletscher in mehreren übereinanderliegenden Felsköpfen, dem sogen.

Rothen Galm. Ihre Gestalt tritt auf der Karte nicht deutlich hervor. Wir zählten von untenauf vier solcher Felsköpfe, zwischen denen sich drei durch hohe Parallelgräte geschiedene Kehlen herabziehen. Die oberste derselben, nur kurz, mündet über dem Sérac des Birchgletschers; die mittlere, schmal und lang, ist durchweg von einer vereisten Firnhalde ausgefüllt; die unterste, breit und hoch und auf ihrem Grunde von röthlichem Trümmergestein bedeckt, mündet zwischen den beiden hervorspringendsten Felszacken. Sie bildet den mathematisch kürzesten, aber, wie wir bald sehen sollten, auch mühseligsten Aufstieg zum Baltschiederjoch.

Mittlerweile hatte sich die jenseitige Bergkette in ihrer ganzen Pracht entfaltet; ein wolkenlos reiner Himmel überwölbt die welligen Massen des Petersgrates; das anziehendste Objekt der Aussicht ist das Berner Breithorn. Wie drohende Finger einer Riesenhand erhebt links vom Tschingelhorn das Gspaltenhorn seine Zacken. Nach Osten blicken wir über die Lötschenlücke dem Aletsch in 's riesige Herz hinein. Gen Westen, gerade über dem Thal, erhebt sich der Montblanc, heute jedoch nur in seinen Gletschern sichtbar; die Felsen verschwimmen total mit dem Blau des Aethers. So erscheint er nur wie ein Hauch am Firmament, wie schwebend; ein unvergleichliches Bild von Duft und Zartheit.

An der letzten einsamen Tanne versahen wir uns mit dem nöthigen Holz vorrath. Bald darauf war auch der Grraswuchs zu Ende. Unser Streben ging jetzt nach der untersten der drei genannten Kehlen. Ein runder Geröllberg, wohl an 1000 Fuss hoch, trennte uns von derselben. Wir erstiegen ihn an seiner östlichen Absenkung;

5* in den Vertiefungen lag Schnee;

er besteht aus kolossalen Blöcken, die meistens viele Zentner an Gewicht halten. Hechts über uns starrten die Eisnadeln des Birchgletschers auf. Als wir an Höhe dem obern Plateau desselben gleichgekommen, gelangten wir an ziemlich ausgedehnte Schneefelder. Sie waren mit einer harten Eiskruste überzogen und zum Gehen wenig geeignet. " Wir sehnten uns daher zu der untern Kehle hinauf, deren Steinboden dem Fuss einen sichern Standpunkt versprach. Um 9 Uhr standen wir an ihrem Eingang. Unsere gute Hoffnung wurde bitter enttäuscht. Der Aufstieg durch diese Kehle ist zwar ohne Gefahr, gehört aber zu dem Mühseligsten, ja Qual-vollsten, was mir je auf Alpenwanderungen vorgekommen ist. Ich möchte Jedermann rathen, den Uebergang, wie wir bei unsrer Rückkunft thaten, weiter oben zu suchen. Den anderthalbstündigen Jammer über das namenlos zertrümmerte, heimtückische und verrätherische Gestein, das wir jetzt unter den Fussen hatten, will ich übergehen. Die Passage gehört zu den seltenen Reiseerlebnissen, die, selbst durch das verschönernde Glas der Erinnerung betrachtet, gar, aber auch gar keine Spur von Annehmlichkeit darbieten. Alles unter uns bricht zusammen, weicht, glitscht und rutscht und prasselt in die Tiefe; nichts ist fest, nichts zuverlässig, alles mürbe und faul und wie absichtlich zum Fallen hingelegt. Mitunter verliert man selber das Gleichgewicht und fährt mit dem beweglichen Boden ein Stück zurück; mit Anstrengung aller Kraft entreissen uns ein paar tüchtige Sprünge dem weitern Fall, dann aber poltert und jagt die entgleitende Masse mit wilden Sätzen in die Tiefe. Ihr Sturz ist in ihrer Art ein Triumphzug, denn Tausende und Tausende schliessen sich unterwegs an; den einigermassen festen Felsköpfen werden die Spitzen abgeschlagen; der ganze Hang ist in Be- wegung, und es gibt nicht eher Ruhe, als bis die gesammte Sturzmasse in Gestalt einer breiten Steinlawine drunten bei den Schneelagern angelangt ist.

Freilich konnte man dieses Ende nicht immer verfolgen; denn die aufwirbelnden Staubwolken, die ich auf Bergen in dieser Weise noch nie gesehen, und die von der furchtbaren Verwitterung zeugen mögen, machten oft die ganze zwischenliegende Luft undurchsichtig.

Endlich nach langem Seufzen und Stöhnen hatten wir uns bis an die Felsköpfe des Rothen Galm hindurch-gequält. Hier musste ein Augenblick gerastet werden; die Anstrengung war zu gross gewesen. Wir befanden uns noch bedeutend unter dem Niveau des Baltschiederjochs. Neben uns versinken die Firnhalden in den Abgrund des Standbachgletschers; doch ist ihre Senkung zu vorgebogen, als dass wir diesen selbst erblicken könnten. Auch die Schneebank, über die wir jetzt hinauf mussten, hatte grosse Aehnlichkeit mit einer Dachfirst, und wir legten daher vor ihrem Betreten die Seile an.

Die Kante führte uns sozusagen bis auf den Korridor des Baltschiederjochs. Die eigentliche Jocheinsenkung wird westlich von hohen Eisschultern beherrscht, den letzten Ausläufern des Bietschhorns. Nach vorn fällt sie selbst als hohe Firnwand ab. Es wäre also schwer, sich ihr unmittelbar zu nahen. Wir lassen uns daher die Mühe nicht verdriessen, das letzte hohe Schneepolster des Bietschorns zu ersteigen und stehen um il Uhr 50 Minuten auf der Höhe.

Vor uns ausgebreitet liegt der Jägifirn, gross und weit gedehnt, aber nicht ganz so gross, als ich mir ihn der Karte nach gedacht hatte. Zuerst mussten wir wieder eine Strecke weit hinab; dann ging es aufwärts dem Elwerück zu, dessen hinterer sanftgeneigter F eisrücken bedeutend weiter in den Gletscher hineinzieht, als auf der Karte angegeben ist.

Es folgte nun ein zweiundeinhalb-stündiger Marsch über das Hochplateau des Jägifirns. Dasselbe ist nach Süden schwach geneigt, hat jedoch mehr Schrunde, als man bei seinen sanften Wellenformen erwarten sollte. Heute waren dieselben vom frischgefallenen Schnee verdeckt. Durch die Wirkung der glühenden Sonne aber war dieser weich geworden, und alle paar Schritte sank man bis an die Hüften, ja noch tiefer ein, so dass meine Führer, mit der schweren Bagage beladen, nicht eben viel Vergnügen an der Wanderung fanden. Die Anstrengung von der Kehle her spürten wir noch in allen Gliedern und wurden ausserdem von einem brennenden Durste gepeinigt, der durch Wein nicht zu stillen war. Wir waren daher sehr froh, zwischen dem zerbröckelten Gestein des Elwerücks, bei dem ein kurzer Halt gemacht wurde, reichliches Schmelzwasser zu finden. Von hier aus steuerten wir dem hintersten Theile des Gletschers zu, da wo er, in stärkerer Steigung und von grösseren Schrunden durchschnitten, sich nordöstlich in einen Wirbel hinaufzieht, über welchen sich eine hohe Bergspitze erhebt — wie wir glauben mussten: das Lötschthaler Breithorn.

Südöstlich sahen wir den Gipfel des Jägihorns. Zwischen beiden Bergen dehnte sich ein hoher Grat aus, gleichsam eine Mauer, durch welche uns alle dahinterliegende Welt verdeckt wurde. Ich hielt ihn, wie nicht anders möglich, für die Felsen, die sich vom Breithorn nach dem ISfesthorn hinüberziehen, zweifelte ganz und gar nicht am Dufour'schen Atlas und erlaubte mir nur, im Stillen mich darüber zu wundern, dass dieser gewaltige Grat auf seiner Höhe keine Spur eines obenauf liegen den Gletschers trage und vor seiner Vereinigung mit dem Nest-

hörn zuerst dem Jägihorn die Hand reiche, während er doch der Karte nach mit diesem absolut nichts zu thun haben durfte.

Um 2 Uhr 25 Minuten langten wir vor der dominirenden Spitze an. Vor uns blickten wir durch die oberste Lücke des Grates gen Osten; doch lag sie, wenn auch nur wenige Schritte entfernt, zu hoch, als dass wir ausser dem blauen Himmel irgend ein festes Objekt dadurch hätten wahrnehmen können. Nur die Felsen, die ihrer ganzen Konfiguration nach auch jenseits sehr schroff abfallen mussten, schienen keinen guten Durchpass nach dem dahinter vermutheten Beichfirn zu gestatten. Aus Furcht, dass, wenn der Hinabstieg dorthin so schwierig sein möchte, meine Führer die Ersteigung des Breithorns heute für unmöglich erklären würden, verschob ich die Untersuchung der Lücke auf unsre Rückkunft; zunächst wollte ich das Sichere für das Unsichere nehmen und lieber eine Nacht ganz hier oben zubringen als das Breithorn daran geben.

Das Gepäck liessen wir an dieser Stelle zurück und setzten uns in Bewegung nach dem Hörn. Eine steile Firnhalde wurde in nordwestlicher Richtung überstiegen; die neue Schneelage hatte sich noch nicht auf die alte gesenkt und brach bei unserm Auftreten in weiten Entfernungen mit Getöse auf diese herunter; der Bergschrund machte einige Mühe. Ton hieran mussten wir uns an die Felsen halten, da der Schnee viel zu steil war. Aber auch die Felsen erforderten ein gehöriges Klettern und machten durch ihre Schroffheit und Unzuverlässigkeit unser Fortkommen zu einem sehr langsamen. Während des Steigens hatte ich keine Musse, die sich erschliessende Aussicht zu beobachten; theils drängte die Zeit zu sehr, theils erforderte das Terrain, auf dem wir uns bewegten, unsre ganze Aufmerksamkeit.

Zwei Stunden waren wir so gestiegen, als wir endlich nahe über uns die höchste Spitze erblickten. Sie bestand aus scharfkantigen, über einander geschobenen Granitblöcken, deren gebrechlicher Aufbau ein sehr vorsichtiges Betreten erforderte. Noch einige Schritte, noch ein paar Handgriffe — und wir sind oben.

Lötschthaler Breithorn, jubelte es schon in uns, auch du bist besiegt! " Wie ich aber nach Osten schaue, um die sanfte Fläche des Beichfirns zu übersehen, da fällt mein Blick in einen riesentiefen Abgrund hinab. Himmelanstrebende Felsmauern umstarren ihn von allen Seiten; nur nach Süden ist er offen, und ein mir unbekannter Gletscher scheint dort um die Ecke herum seinen Ausgang zu suchen; namentlich östlich uns gegenüber, wo das schneeige Schienhorn stehen sollte, ragen in grandiosem Absturz nackte Bergmauern auf und fallen mit viele tausend Fuss tiefen, starren, senkrechten Wänden in diesen Höllenschlund hinab. Mehrere Minuten lang war ich durchaus konsternirt. Die Karte konnte die Verwirrung nur steigern; was sie zeigte und was ich hier sah, waren unvereinbare Widersprüche. Was blieb übrig, als sie wegzulegen und sich durch eigene Kombination Klarheit zu schaffen!

Alsbald ging mir ein Licht auf: der Punkt, auf dem wir sitzen, ist gar nicht das Breithorn, sondern die Spitze 3642. Das Breithorn ist dort drüben im Nordost der hohe Doppelgipfel, an dem kaum ein Schneetleckchen zu haften vermag. Von dieser Seite aber kommen wir nie auf dasselbe hinauf: über den Abgrund müssten uns Flügel tragen, und über den schwindlieh gezackten Grat, der uns mit ihm verbindet, kann keine Gemse hinüber. Vom Breithorn zieht sich die hohe Wand südöstlich gegen das Nesthorn, in der Mitte noch von einer auch im Atlas an- gedeuteten Spitze gekrönt;

doch müsste sie durchweg viel höher dargestellt sein, als es geschehen. Gerade südlich von uns nach dem Jägihorn verläuft mit zwei dominirenden Spitzen der hohe Felsenzug, den wir vorhin für den Nest-Breithorngrat gehalten hatten. Auch er versinkt in unnahbaren Mauern in den Gletscherabgrund, ist aber trotz seiner imposanten Grosse auch nicht mit einem Striche auf der Karte angedeutet.

Und nun der neue Gletscher da untenWie steht es mit ihm? Seine Oberfläche liegt tief, tief unter dem Niveau des von uns passirten Jägifirns, und mit diesem steht er durchaus in keiner originären Terbindüng. Trotzdem ist er im Atlas faktisch mit dem Jägifirn als zusammenhängende Masse dargestellt, und doch wieder dem Wortlaut nach mit dem Breithorngletscher verbunden, der hoch über ihm auf der Nest-Breithornwand lastet und für uns natürlich unsichtbar ist, weil er hinter dieser in gerade entgegengesetzter Richtung zu Thale zieht.

Die auf der Karte angedeutete grosse Quermauer, die den neuen Gletscher in der Mitte durchschneiden und vom Jägihorn quer östlich hinüber nach dem Gredetschthal laufen soll, suchen wir vergeblich. In durchaus regelmässig sanfter Neigung durchzieht die Eismasse ihr tiefes Thal. Diese Entdeckung war denn doch frappant! Freilich ist es erklärlich, dass wenn man die Aufnahme meilenweiter Gletscherreviere nur vom Thal aus bewerkstelligt, man selbst dominirende Bergzüge auslassen kann; dass man aber stundenweite Felsmauern aufnimmt, die der Zeichnung nach die riesenhafte Nest-Breithornwand an Höhe um etwa das Doppelte übertreffen müssten, während in Wirklichkeit auch kein Steinchen davon existirt, das übersteigt unsern Horizont!

Die vielen prägnanten Punkte, die uns eben beschäf-

tigen, erfordern selbstständige Namen. Bis Berufenere als ich die Gegend verzeichnet haben, und um meine Ausdrücke abkürzen zu können, bediene ich mich einstweilen der folgenden: Unsre Spitze 3642 möchte ich als Beherrscherin des Lauingletschers Lauinhorn nennen; für den neu entdeckten Grat, der von hier nach dem Jägihorn läuft, bleibt wohl kein anderer Name als Jägigrat. Der damit östlich parallel ziehende, der vom Grubhorn nördlich emporsteigt, mag Gredetschgrat heissen. Der von 3795 des Breithorns südlich stehende Name Breithorngletscher darf nur auf die Eismassen bezogen werden, die sich vom Breithorn östlich in den Beichfirn senken; da dieselben jedoch ein*oberer Quellzufluss des letztern, mithin noch in einem frühern Stadium der Bildung begriffen sind, so würde man der Bezeichnung des untern Beckens entsprechend auch hier wohl besser von einem „ Breithornfirn " reden. Für unsern neuen, dem Baltschiederthal zufliessenden Gletscher aber weiss ich, da alle Namen vergeben sind, einstweilen keine andere Bezeichnung als östlicher Jägifirn, während wir den bisherigen bloss sogenannten Jägifirn den westlichen nennen.

Froh, die Orientirung glücklich vollendet zu haben, aber missmuthig über das verfehlte Ziel, schworen wir dem Breithorn dort drüben Rache und arrangirten zum Zeichen der ersten Ersteigung unsers Lauinhorns einige Steine übereinander, unter denen in Ermangelung einer schützenden Flasche ein blosser Papierstreifen mit den nöthigen Notizen verwahrt wurde. Unser Aufenthalt währte nur kurze Zeit; wir stiegen nicht auf dem gleichen Wege hinab, auf dem wir heraufgekommen waren, sondern etwas mehr westlich, wo sich die Felsen weniger steil, der Schnee gangbarer und der Bergschrund schmäler zeigten. Wenn auch langsam und nicht ohne equilibristische Kunststücke ging der Abweg im Ganzen doch leidlich von Statten.

Nach einer Stunde waren wir bei dem zurückgelassenen Gepäcke.

Die oberste Gratlücke, von der ich vorhin redete, war von hier nur zwei Minuten entfernt. Ein tiefer Firn-trichter, nach oben von Höhlungen wüst zerklüftet, trennte uns davon. Leichter, als ich mir vorgestellt, fand ich mit Johannes den Weg hindurch und konnte nun, auf dem Aberen angelangt, auch von hier aus in den gewaltigen Abgrund hinabblicken. Die Felsen zeigten eine merkwürdige Bildung: Die Schichten mit einer Neigung von etwa 70° südostwärts versinkend, liegen gerade in der sehr steilen Richtung ihres Fallens bloss, und stellen sich daher als mächtige Schalen dar, die auf ihrer Oberfläche oft auf mehrere hundert Fuss nirgends einen Anhalt gewähren. Da hinunter zu kommen, halte ich für unmöglich; es müssten sich denn bei genauerer Untersuchung Stützpunkte ergeben, die unserm kurzen Ueberblick entgangen sind.

Den heutigen Lagerplatz hatten wir in der Hoffnung, mit leichter Mühe den Beichfirn zu erreichen, einstweilen im Voraus „ Hotel Schienhorn " getauft. Dorthin zu gelangen, ist uns jetzt freilich versagt.Andreas, was machen wir nunNun, ich denke, im Hotel Jägihorn ist 's auch nicht schlecht.Ein guter Einfall! Das soll ja allerersten Ranges sein; also über den Jägifirn hinab und auf 's Horn zu! Wirth, Koch und Kellner müssen wir freilich selber mitbringen; Johannes wird die gesammten Ehrenämter mit Freuden übernehmen. Die Entfernung bis zu unserm Ziel betrug noch eine starke Marschstunde; wir hielten uns ziemlich dicht an die Wand des hohen Jägigrates an, und unsers Erstaunens, ihn von der Karte so total todtgeschwiegen zu sehen, war kein Ende. Im Uebrigen erinnerte mich die " Wanderung lebhaft an diejenige über den obern Rhonefirn, und wer diesen kennt, vermag zu ermessen, wie leicht dieselbe von Statten ging.

Um 5 Uhr 30 Minuten wurde auf den Felsen des Jägihorns gelandet. Sie bestehen aus einem sehr hellen, quarzreichen Granit. Ankommen und Einschlafen war für meine Führer Eins. Ich selbst war durch die neu gemachten Entdeckungen zu sehr angeregt, um mich dem dolce far niente in gleicher " Weise ergeben zu können. Zunächst musste ich in Anbetracht des Zustandes meiner Kleidung dem Schneider noch etwas in 's Handwerk pfuschen; dann ging es an die Musterung der Gegend. Auch von hier aus nahm ich noch eine Skizze des Jägihorns und des Grates bis zum Lauinhorn auf. Das erstere erhebt sich, von unserm Standpunkt aus unersteiglich, als kahler Obelisk und gipfelt in zwei scharfen ungleichen Spitzen. Zwischen beiden zieht sich ein wüstes Felskamin herab, dessen Stein- und Eistrümmer durch die noch immer heftige Glut der sinkenden Sonne in lebhafter Aktion gehalten wurden. Nach Westen steigt eine grosse Felsbastion von der flachen Schulter, auf der wir uns befinden, weit und tief in den Baltschiedergletscher hinab. Wir übersehen den letztern in seiner ganzen Ausdehnung bis da, wo er in blauer Tiefe an der Galzienkumme endet. Die Abflüsse der beiden Jägifirne, aus denen er gebildet ist, behalten, wenn auch örtlich vereinigt, doch bis zu Ende ihren scharf gesonderten Charakter bei: Der westliche Theil besitzt eine freie Eisoberfläche, der östliche ist von Moräne ganz überschüttet. Diese grossen Schuttmassen machten meine Ueberzeugung von der Mchtexistenz der vom Jägihorn bis an den Gredetschgrat angedeuteten Quermauer wieder wankend, indem sie in ihrem Dasein eine sehr gute Erklärung gefunden hätten. Ich schritt

daher, um dieselbe auch von dieser Seite aus aufzusuchen, so weit gegen die Südecke des Jägihorns vor, als es die Steilheit der Gesenke erlaubte, konnte aber, von den ungangbaren Abstürzen zurückgewiesen, noch zu keinem günstigen Resultate gelangen.

Das nöthige Wasser fand Johannes nach langem Suchen weiter oben am Firn. Noch einmal wurde daher aufgepackt und mit Sack und Pack begaben wir uns über die wankenden Felsblöcke zu der Oase. Der Anblick des Monte Leone und der Fletschhörner, den wir anfänglich genossen, wurde uns durch den veränderten Standpunkt entzogen; dafür aber hatten wir einen, wenn auch beschränkten Ausblick nach dem Matadoren von Zermatt, der an Glanz und Glorie schneeiger Herrlichkeit seines Gleichen sucht. Rechts und links von dem schroffen Felskamme des Baltschieder Breithorns erheben sich, über unzähligen Gipfeln thronend, Weisshorn und Mischabel, im Hintergrund der Monterosa; in den beiden letztern begrüssen wir zwei alte Bekannte, an deren stolze Häupter sich vom vorigen Jahre her unauslöschliche Erinnerungen knüpfen. Das Weisshorn aber ist von unbeschreiblicher Grazie, und wir glauben nicht zu viel zu sagen, wenn wir unter dem gesammten Bergesvolk Helvetia's, die angebetete Jungfrau selbst nicht ausgenommen, ihm den höchsten Preis der Anmuth, den Triumph der Schönheit vindi-ziren.

Es ist ein wonniges Geniessen so hoch am Abend über den Gletschern, wo uns der Freiheit höchste Fülle umfängt, wo sich das Auge kaum satt sehen kann an dem Erhabensten, was die Erde trägt, und vor Allem in solder Seelenruhe, wenn das Tagewerk vollbracht ist, wenn uüs endlich einmal die vier Wände, in die der Mensch " ei Nacht zu fliehen pflegt, nicht beengen, und man,

gebettet aufweitschauendem Stemlager, überdeckt von des Himmels unermesslichem Rund, umstarrt von leuchtendem Eis und dämmerndem Fels, sich Eins fühlt mit jener ewigen Natur, die nur mit wenigen Sterblichen das Band der engsten Freundschaft knüpft, nur wenige zum Einblick in die Tiefen ihrer innersten Geheimnisse auserwählt. Ich hätte alle " Welt zu mir rufen mögen, als die Sonne den Abschiedskuss auf die glühenden Wangen ihrer Lieblinge presste, als sie hinabtauchte hinter die Berge Savoyens, und goldene Abendwölkchen ihren letzten Gruss zurückbrachten. Eine kurze Zeit lang breitete der Abend sein gleichgültiges Grau über die Bilder des Tages; dann aber bricht eine neue Herrlichkeit an. In einem Glanz, den im Thale nie ein Auge geschaut hat, glitzern die Sterne am prangenden Himmelssaal; die Milchstrasse fluthet und wallt wie ein Strom von lauterm Gold. Endlich mit dem Steigen des Mondes beleben sich auch die Firne auf 's Neue, und die Nacht, sonst das Symbol der Finsterniss, wird hier zum strahlenden Phänomen, dessen seltsame Herrlichkeit wir eher auf einem fremden Planeten als auf der uns bekannten Erde gesucht hätten. m Allmälig wurde es Zeit, sich zur Ruhe zu begeben. Das Nachtessen war beendet; nach Entfernung der grösseren Steine war ein Lager so glatt als möglich mit den Aexten ausgeebnet worden. Am Rande des Firns, der uns unmittelbar berührte, war eine Schutzmauer aufgerichtet und dahinter eine Decke zur Unterlage ausgebreitet. Die andre behielten die Führer. Ich selbst wickelte mich in den Shawl; ein flacher Stein bildete das Kopfkissen. Die Blöcke zur Seite beengten uns auf unverzeihliche Weise. Wir fingen an nur allzubald zu bemerken, wie wenig die nüchterne Prosa, die den Menschen überall verfolgt, sich gescheut hatte, unsern Spuren nach

selbst in diese geweihteste Region einzudringen. Je schöner es draussen wurde, desto unbehaglicher zwischen unsern Felsen. Beim Aufwachen, das schon in den ersten Stunden sehr häufig erfolgte, hatte ich stets den riesenhaften Koloss des Bietschhorns unmittelbar vor Augen. Vorhin, als ihn die Schatten des Abends umfingen, hatte man ihn trotz seiner Grosse weniger beachtet; jetzt starrte er, von unten bis obenauf grell beleuchtet, gen Himmel, und je später, desto kälter und schauerlicher drohten seine blinkenden Flanken und Zinnen auf uns hernieder. Um Mitternacht trieb uns der Frost auf die Beine. Zugleich erhob sich ein Wind, der, wenn auch anfänglich schwach, die Kälte doch sofort doppelt und dreifach empfindlich machte. In dem Herde, der sich zwei Klafter tiefer befand, wurde daher ein Feuer angefacht, und zähneklappernd sassen wir mit unsern Pfeifen um dasselbe her, bis das Kaffepulver durchgekocht war, und der braune Trank, mit Kirschwasser tüchtig versetzt, wieder einiges Leben durch die erstarrenden Glieder goss. Dieses nächtliche Intermezzo, zu dem ich nur meine Feinde, wenn ich deren hätte, herbeigewünscht haben würde, hatte etwa 1% Stunde gedauert. " Ich konnte mich nicht wie meine Führer dazu entschliessen, das kalte Lager wieder aufzusuchen, sondern hielt mich bei dem Feuer, die Kohlen so lange anblasend, bis auch der letzte Funke erloschen war. Diesen Augenblick hatte ich erwartet, um mich in die erwärmte Vertiefung des Herdes auszustrecken; ob der Russ die Kleider schwärzen würde oder nicht, das war unter sothanen Umständen vollkommen gleichgültig. Es folgten jetzt Stunden wahrhafter Qual. Der Herd war zwar anfangs warm, aber der Kopf fand keine Unterlage. Ich *egte daher das grösste Scheit Holz quer darüber. Selbst 111 dieser Stellung versagte mir die Müdigkeit nicht allen Schlummer, bis plötzlich die Unterlage brach und mein ermüdetes Haupt, sammt Hut und Holz unsanft auf die spitzen Steine des Bodens aufpolterte.

Ein solches Bett war in der That arg genug! Der Wind blies heftiger und kälter; hie und da wurde bereits der Schnee aufgewirbelt, und zu allem Dem noch der Stand der Uhr, deren Zeiger erst die zweite Stunde nach Mitternacht andeuteten! Von jetzt an kam kein wahrer Schlaf mehr über unsre Augen; wie wir den Eest der Nacht durchträumten, durchwachten, durchfroren, ich wüsste es nicht zu schildern. Der sanfte Nachtwind steigerte sich gegen Morgen zum Mark und Bein durchschütternden Nordsturm, der wahrhaft donnernd über die Gletscher daherbrauste. Uns war es zu Muthe wie den Franzosen auf der Retirade in Eussland, und auf der Retirade befanden wir uns ja auch, waren wir doch am Breithorn so halb und halb zurückgeschlagen worden! Zitternd barg sich Jeder bis über den Kopf in seine Decke und starrte hohläugig in die Flammen, über denen der Morgentrank bereitet wurde. Zum Essen war es zu kalt, ja selbst mit Sonnenaufgang konnten wir den Lagerplatz noch nicht einmal verlassen, sondern mussten warten, bis die Strahlen auch uns wirklich erreicht hatten, da die Hände vorher zu steif waren, um die Aexte festzuhalten. Unsre kleine Schaar war von dem übergrossen Ungemach der Nacht demoralisirt. Jetzt wäre es Zeit gewesen, nach dem Baltschiederjoch hinabzusteigen und den östlichen Jägifirn auch von untenauf zu untersuchen. Aber wer kam nur im Entferntesten auf diese Idee! Wären nicht auch unsre Lachmuskeln erstarrt gewesen, den hätten wir ausgelacht, der uns diesen Rath ertheilt hätte. Zurück, zurück! war jetzt der einzige Gedanke, und zwar zurück auf dem kürzesten Wege. Endlich war die sechste Stunde des 27. Augast ge-

kommen, die Erlösungsstunde. So schnell uns die Beine trugen, jagten wir über die sanfte Steigung des westlichen Jägifirns der Richtung des gestern passirten Baltschieder-joches zu. Es währte auch nicht lange, so wurden uns die fielen Kleidungsstücke — denn wir hatten uns nach und nach die ganze Hab Seligkeit umgehüllt—zu schwer, und ein Stück nach dem andern musste der Sonnenwärme weichen, um so mehr, da ganz urplötzlich'der Sturm aufhörte und einer fast völligen Windstille Platz machte.

Der heutige Weg zog sich etwas südlich unter der gestrigen Route hin. Von Schrunden unbehindert, langten wir um 7 Uhr am Fusse des Bietschhorns an, dessen untere Stufen diesmal noch höher hinauf erstiegen werden sollten als gestern; denn vor der dritten Kehle am Rothen Gralm hatten wir zu grossen Respekt, und beabsichtigten heute, den Weg durch die^oberste zu nehmen. Die Skizzirung des Jägigrats vom Lauinhorn bis zum Jägihorn kostete 20 Minuten; dann steuerten wir der höchsten Firnschulter zu, von der aus der nördliche Felsgrat des Bietschhorns in schroffen Absätzen zum Gipfel hinansteigt. Um 8 Uhr an dieser Stelle angelangt, sahen wir, dass wir zu hoch gestiegen waren. Gegen das Baltschiederjoch wurde daher eine lange Reihe von Stufen an einer stotzigen, gefrorenen Eis wand hinabgehackt. Umühr befanden wir uns auf einem kleinen Firnplateau oberhalb der gesuchten Kehle, die auf den Birchgletscher mündet. Auch hier tïafen wir das leidige Trümmergestein; dennoch entsprach der Weg im Allgemeinen unsern Hoffnungen; nur wurden wir bald gewahr, dass wenn wir ihn bis zu Ende verfolgten, uns das Sérac des Birchgletschers den Weitermarsch verwehren würde. Es wurde daher abwärts der Felsgrat ^erklettert, der unsere Kehle von der vereisten mittlern fr Auch hier rasten alle stürzenden Blöcke mit gran-

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diosen Sätzen in den Abgrund; bald aber befanden wir uns am Rande der schmalen Firnhalde, welche die ganze Ausdehnung der zweiten Kehle durchzieht. Die Halde sehr abschüssig, war hart gefroren; wir durften sie natürlich nicht der Länge nach verfolgen, sondern mussten die schmälste Stelle aufsuchen, um vermittelst gehackter Stufen hinüber zu gelangen. Dies geschah langsam und mit grösser Vorsicht. Es folgte die Ueberkletterung des zweiten Grates, der die Scheidemauer gegen die unterste Kehle bildet und, bei den Firnlagern angelangt, priesen wir uns glücklich, die gestern zurückgelegte heillose Passage so passend vermieden zu haben.

Von hier hinab über den grossen Geröllberg, an dessen Fuss wir ( um 9 Uhr 20 Minuten ) das gebleichte Gerippe einer Gemse fanden, über die Grashalden und durch den Wald, in welchem diesmal der richtige Fusspfad benutzt wurde, bis auf die Wiesen hinab, war der Weg derselbe wie gestern, und ich kann ihn mithin übergehen. Um 11 Uhr 20 Minuten schon— denn wir waren gelaufen, als wäre uns das wilde Heer auf den Fersen — langten wir auf der Thalsohle an; um 12 Uhr befanden wir uns wieder bei Herrn Lehner im Hôtel Nesthorn.

Wachsam sein ist für alle Zeiten eine gute Regel. Als ich mich einem nicht gerade kurzen Mittagsschläfchen ergeben, kam zu meinen Führern der Gemsjäger Rubi und streute böses Unkraut zwischen den guten Waizen meiner Pläne. Meine Idee war keine andere, als am folgenden Tag die Versuche gegen das Breithorn wieder aufzunehmen und zwar diesmal vom Beichgrat aus. Rubi aber erklärte mit grösser Ausführlichkeit, zwischen Elwerück und Breithorn liege ein Pass so breit, dass man mit Ochsen hinübertreiben könne, und von diesem Punkte, den er aus Erfahrung kenne, sei der Aufstieg auf das Breit-

hörn eine wahre Kleinigkeit. Dieser Pass konnte doch nur östlich vom Lauinhorn liegen. Ich war sehr ungläubig; denn er passte schlechterdings nicht zu meiner Auffassung des Gebirges. Aber was traut man nicht einem als bewährt angesehenen Gemsjäger zu! Das Resultat, mir heute noch so unbegreiflich wie damals, war, dass ich mich täuschen liess. Diesmal wurde nur für einen Tag Proviant gerüstet; für die folgenden Unternehmungen sollte er auf Gletscherstaffel nachgebracht werden.

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