Marangun
Gertrud Schwarzenbacher, Räterschen
Schon seit Jahren wünschte mein Mann, einmal durchs einsame Val Lavinuoz zur Fuorcla Zadrell zu wandern, hatte er doch schon öfters von der sagenhaften Schönheit dieses Tales erzählen hören. Als dann die Nachricht in den « Alpen » erschien, auf der Alp Marangun im Val Lavinuoz werde eine Alphütte versuchsweise als SAC-Unterkunft mit 8 Schlafplätzen eingerichtet, besannen wir uns nicht lange: Wir meldeten uns telephonisch beim Hüttenwart in Lavin an und erhielten den Bescheid, wir seien die ersten Besucher und er werde die Hütte einen Tag vor unserer Ankunft noch fertig einrichten.
Und jetzt ist es soweit. Wir sind, nachdem wir einige Gipfel im Grialetschgebiet besucht haben, in Lavin angekommen und möchten einige Tage in diesem schönen Hochtal verbringen. Den Fahrweg, der seit kurzem hinaufführt, meiden wir nach Möglichkeit, da wir uns vom alten Fusspfad viel mehr Kurzweil versprechen. Allem Anschein nach wird dieser leider nur noch selten benützt, und wir fragen uns besorgt, ob der Weg, nicht mehr gepflegt, in wenigen Jahren wohl gar nicht mehr zu finden sein werde. Er ist dicht mit grossen Steinblöcken übersät; dazwischen blühen unzählige prächtige Steinnelken und blauer Natter-kopf. Doch später wird der Weg wieder deutlicher, und nur an wenigen Stellen liegen Steinblöcke, die offenbar vom Bau des Fahrweges herrühren. Fröhlich schreiten wir bergan, dicht der rauschenden Aua Lavinuoz entlang. Weiter oben hat sich der Weg auf einer Länge von etwa 50 Metern in einen Bach verwandelt. Mein Mann schlägt vor, wir könnten hier Querrinnen graben und so das Wasser vom Weg ableiten. Da sind natürlich unsere zwei Buben, 13 und i i Jahre alt, sofort mit Begeisterung dabei. Wir sind eifrig tätig, bis vier Abzugsgräben gebaut sind und der Weg trocken liegt. Schade, dass wir nicht noch mehr solche Stellen finden; das Bauen war so vergnüglich!
Die Alp d' Immez erreichen wir gerade zur Melkzeit; es gibt kuhwarme Milch, die herrlich schmeckt. Jetzt wandern wir über ebenes Gelände und stehen nach kurzer Zeit vor unserer Hütte. Da liegt sie im Talkessel, von steilen Bergen umsäumt: Links erhebt sich die gewaltige, finstere Pyramide des Piz Linard, hinten ragen die Felszacken der Verstanciagruppe weit in den Himmel hinauf, und auf der rechten Seite führen steile Grashänge zum Piz Tiatscha; von allen Seiten aber leuchten Alpenrosen, und um die Hütte wächst Eisenhut in grossen Mengen; nur sind seine Knospen noch nicht erblüht.
Voller Neugierde stürmen die Buben in die Hütte. Was es da alles zu bewundern gibt: den mächtigen, gemauerten Kamin, in dem zur Weidezeit wohl ein riesiges Käskessi hängt; den uralten Herd und das urwüchsige Türschloss aus Holz. Rechts führt eine Türe ins Schlafstübchen, wo uns vom Tisch her ein Alpenrosenstrauss entgegenlacht, und der ganze Raum ist so reinlich und gemütlich, dass wir uns recht von Herzen behaglich fühlen. Gerne möchten wir uns jetzt einen heissen Tee kochen; da macht sich aber ein kleiner Mangel bemerkbar: Wir können einfach nirgends eine Axt ausfindig machen; doch zur Not lässt sich auch mit dem Eispickel Holz spalten. Der uralte Herd zeigt sich von seiner besten Seite, indem er uns innert weniger Minuten kochendes Wasser liefert.
Am nächsten Morgen wandern wir auf den Piz d' Anschatscha ( 2978 m ). Ein steiler Hirtenpfad führt uns zum nächsten Plateau; dann geht es der Spürnase nach weiter über Grashalden und zu- letzt über grosse, bemooste Gneisblöcke. Aus dem Geröll grüssen uns immer wieder Gletscherhahnenfuss, weisse Faltenlilien und rötliche Polster stengellosen Leimkrautes. Aber immer wieder muss ich ehrfürchtig staunen: Wie könnt ihr, ihr Feinen, Zarten, gedeihen zwischen diesem rauhen Gestein?
Vom Gipfel geniessen wir eine herrliche Rundsicht; vor allem andern hat es uns aber der Anblick des Piz Fliana ( 3281 m ) angetan. Könnten wir den wohl mit unsern Buben besteigen, oder ist er zu schwierig? Nach fleissigem Studium von Landeskarte und Clubführer wird beschlossen: Wir wollen es morgen wagen! Gelingt uns der Aufstieg nicht, so können wir ja wieder umkehren.
Am nächsten Morgen erwachen wir zu unserem eigenen Schrecken erst nach 7 Uhr; wir haben viel zu gut geschlafen. Jetzt heisst es aber sich sputen! Etwas nach 8 Uhr verlassen wir die Hütte und wandern zur Fuorcla d' Anschatscha hinauf, wo wir uns aber schleunigst in unsere Regenhäute hüllen müssen, denn der Himmel hat seine Schleusen geöffnet. Da stehen wir nun und warten und lassen das kühle Nass an uns hin-unterrinnen. Auf einmal öffnet sich ein Wolkenfenster, und ein heller Sonnenstrahl lacht herunter. Die Welt schaut wieder viel freundlicher aus, und wir beeilen uns, eine Geröllrunse hinaufzusteigen. Über Felsstufen und Steine hüpfen muntere Bächlein, und ebenso munter kraxeln wir bergauf über leichte Felsen, dann wieder über Schnee. Schwierigkeiten zeigen sich kaum, nur müssen wir des lockeren Gesteins wegen aufgeschlossen bleiben; auch finden wir es vernünftiger, uns anzuseilen, da die nassen Felsen manchmal etwas glitschig sind. Sonnenschein und Regen wechseln in bunter Folge ab. Jetzt erreichen wir das Schneefeld unter dem Gipfel, dann geht 's über einen breiten Blockgrat zum Steinmann, wo wir einander freudestrahlend die Hände schütteln. Unser Jüngster gräbt im zusammengefallenen Steinmann eifrig nach dem Gipfelbuch, während wir andern die benachbar- ten Gipfel betrachten. Welchem gilt unser nächster Besuch? Die Aussicht vom Fliana ist etwas vom Grossartigsten, das ich mein Lebtag gesehen habe.
Ein heftiger Donnerschlag lässt uns zusammenschrecken und gemahnt uns daran, dass es höchste Zeit für den Rückweg ist; immerhin zeigt die Uhr schon auf halb 3 Uhr nachmittags! Auch beim Hinuntersteigen begleiten uns abwechselnd Sonnenschein, leichter Regen, Blitz und Donner. Um halb 6 Uhr erreichen wir unsere gemütliche Hütte, und kaum sind wir in trockene Kleider geschlüpft und ist im Herd Feuer angefacht, da prasselt ein heftiger Gewitterregen hernieder. Wir aber sitzen wohlig geborgen im Stübchen und lauschen dem Trommeln auf dem Dach, das uns bis in den Schlaf begleitet.
Am Morgen lacht wieder heller Sonnenschein. Eigentlich hatten wir vor, heute über die Fuorcla Zadrell ins Vereinatal zu wandern; aber unsere Buben rebellieren: « Wir wollen in keine andere Hütte; hier ist es viel schöner! Überhaupt, heute wollen wir den Bach stauen; gestern sind wir den ganzen Tag gewandert. » Gut, lassen wir ihnen die Freude; uns gefällt es ja auch so gut hier, dass wir nicht mehr gerne fort möchten. Und morgen müssen wir doch heimfahren - leider! So setzen wir uns auf einen Steinblock und vertiefen uns in Karte und Führer und machen bereits Pläne für das nächste Jahr. Von hier aus gibt es unglaublich viele Möglichkeiten, von der leichten Wanderung bis zur schwierigsten Kletterei.
Der Clubführer durch die Bündner Alpen, Band VIII, sagt aus, dass von Marangun selbst auf den Gipfel des stolzen Piz Linard ( 3410 m ) vier verschiedene Routen führen. Die direkteste und wohl auch leichteste dürfte der Aufstieg ins Val da las Muntanellas und über den Nordostgrat sein. Auch über die Ostwand hinaufzusteigen ist nicht besonders schwierig, aber recht mühsam, so dass diese Route eher für den Abstieg zu empfehlen ist. Eine dritte Variante führt über die Alp d' Immez zur Scharte zwischen Linard Pitschen und Piz Linard hinauf und von dort aus über den Südostgrat. Der vierte Aufstieg zur Fuorcla dal Linard hinauf und von dort über den Nordwestgrat bietet ziemlich schwierige, durch brüchiges Gestein erschwerte Kletterei.
Von der Fuorcla dal Linard aus lässt sich auch der 3101 Meter hohe Piz Sagliains über den Südwestgrat in schwieriger Kletterei erklimmen; leichter erreichen wir dessen Gipfel jedoch vom Vadret da las Muntanellas aus durch eine der vielen steilen Rinnen, von wo aus nachher noch ein kurzes Stück über den Grat zu steigen ist.
Durch die Fuorcla dal Linard können wir auch ins Val Sagliains oder zum Vereinapass hinüberwandern. Die nördlichere Fuorcla Zadrell hingegen lässt uns ins Vernelatal, zum Berghaus Vereina gelangen, und unermüdliche Bergsteiger haben zudem die Möglichkeit, von der Fuorcla aus einen Gipfel zu besuchen. Der Piz Chapütschin ( 3232 m ), etwas nördlicher gelegen, mit seiner schönen weissen Mütze ist von hier aus ziemlich leicht zugänglich und lohnt unsere Mühe mit einem prächtigen Ausblick auf die Türme und Zacken des Verstanclahorns ( 3297 m ) und der Torwache. Den geübten Kletterer wird der 3104 Meter hohe Piz Zadrell eher locken, der von hier über seinen Ostgrat angegangen wird.
Für Klettertouren in der Verstanciagruppe empfiehlt sich der Aufstieg über die Parait Alba-Vadret da las Maisas zum Vernelasattel oder Verstanclasattel, von wo aus in recht schwieriger Gratkletterei das Verstanclahorn erreicht werden kann. Vom Vernelasattel aus lässt sich auch der Piz Chapütschin über den exponierten Nordgrat erklettern. Vom Verstanclasattel aus hingegen führt ein luftiger Felsgrat zur Torwache ( 3186 m ). Wer lange Gletscherfahrten liebt, kann von der Parait Alba aus über das Verstanclator oder den Silvrettapass zur Silvrettahütte hinüberwandern. Dies dürfte, wenn keine Lawinengefahr lauert, eine herrliche Skiwanderung sein!
Auch auf der östlichen Seite des Val Lavinuoz finden wir lockende Gipfel und Übergänge.Vor Marangunhütte mit Torwache ( 3186 m ) und Parait Alba allem unsern Piz Fliana, der auch über die Parait Alba und den Nordwestgrat zu erreichen ist, doch brauchen wir dafür etwas mehr Zeit und müssen mehr Schwierigkeiten überwinden. Der 3051 Meter hohe Piz Tiatscha lässt sich auf Kletterpfaden über den Südwestgrat oder vom Piz Fliana aus erklimmen.
Dann möchte ich noch unsern Piz d' Anschat-scha ( 2983 m ) erwähnen. Von seinem Gipfel aus können wir über den Südostgrat in genussvoller zweistündiger Wanderung den Piz Champatsch ( 2969 m ) besuchen und von dort zur Marangunhütte zurückkehren oder ins Val Tuoi hinuntersteigen. Auch die Fuorcla d' Anschatscha oder die südlichere Fuorcla Gronda lassen uns ins Val Tuoi und zur im Talhintergrund stehenden, gemütlichen Chamanna Tuoi ( 2250 m ) gelangen.
Den Abschluss dieses Gipfelkranzes bildet der 2931 Meter hohe Piz Chapisun ( 2931 m ), im Clubführer als Kletterparadies bezeichnet. Er lässt sich von Marangun aus über die Fuorcla Gronda erklettern und gewährt uns von seinem Gipfel aus einen grossartigen Tiefblick ins Unterengadin. Vom Piz Chapisun aus können wir auch direkt nach Lavin oder Guarda hinuntersteigen.
Die Marangunhütte selbst ist von Lavin aus durch das sanft ansteigende Val Lavinuoz bequem in knapp zwei Stunden erreichbar, entweder auf dem Fahrweg oder dem alten Fusspfad. Von Marangun aus führen nur noch vereinzelte schmale Hirtenpfade die steilen Grashänge empor; von dort aus aber muss der Bergwanderer ohne Weg zurechtkommen; zu keinem der erwähnten Ziele führt ein fester Pfad.
Das Val Lavinuoz ist ein herrliches, einsames Tal und noch ganz unberührt von Technik und Zivilisation. Wir finden dort weder Telegraphenmasten noch Wasserfassungen, dafür aber eine bunte Menge schönster Alpenblumen. Deshalb ist uns dieses Tal auch so ans Herz gewachsen.
Den ganzen Tag können wir aber nicht dasitzen und planen; deshalb machen wir am Nachmittag noch einen kleinen Abstecher ins Val da las Muntanellas gegen die Fuorcla dal Linard hinauf. Nochmals schauen wir auf die imposanten, gewaltigen Felswände des Piz Linard, zur Fuorcla Zadrell hinüber und zu all den Zacken und Schneefeldern. Unsere Buben stehen inzwischen vergnügt mit blossen Füssen in der Aua Lavinuoz, ihre Dämme und Staubecken bauend. Am nächsten Morgen müssen wir dann das uns so lieb gewordene Tal verlassen, um wieder nach Lavin hinunterzuwandern. Zum Abschied erfreut uns ein junges Murmeli mit seinen muntern Sprüngen und verschwindet dann schnell in seinem Loch. Noch einen letzten Blick wenden wir zurück zu den Gipfeln, die unsere Hütte umrahmen; dann geht 's heimwärts.
Literatur: SAC-Führer durch die Bündner Alpen, Band VIII ( Silvretta und Samnaun ), LK 1:25000, Blatt 1198, Silvretta.