Mit blindem Vertrauen durch den Pulverschnee
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Mit blindem Vertrauen durch den Pulverschnee Wie Sehbehinderte die Berge erleben

Blind auf den Bundstock – unmöglich? Nein, das ist es nicht. Jeden Winter erklimmen Blinde und Sehbehinderte eine Woche lang die schönsten Gipfel im Berner Oberland.

Der Wind bläst einem garstig um die Ohren. Die Sicht ist schlecht, und der Nebel hängt schwer in den Gipfeln im Berner Oberland. Die Spur des Bergführers vom Dossenlift auf der Engstligenalp Richtung Tierhörnli ist kaum sichtbar. Doch das ist Ivo Egger egal. Für den Systemanalytiker aus Luzern spielen die Sichtverhältnisse keine Rolle. Denn Egger ist vor über 20 Jahren wegen einer Erbkrankheit erblindet. Er ist eine von zehn Personen, die an der Skitourenwoche für Blinde und Sehbehinderte in Frutigen teilnehmen. Alle haben ihren eigenen speziellen «Blindenhund» – einen Skilehrer. Egger ist in diesem Jahr mit Ruedi Schütz unterwegs. Der Bergführer hat während des Aufstiegs an seinem Handgelenk ein kleines Glöcklein befestigt, an dessen Tönen sich Egger orientieren kann. Auch die Aufstiegsspur hilft dem 46-jährigen, sich im Hang zurechtzufinden. Er spürt, wenn er mit einem Ski in den Tiefschnee gerät. Zudem ist er via Funk mit seinem Leiter verbunden. «So funktioniert der Aufstieg gut», sagt Egger. Auch Schütz ist jedes Mal fasziniert, wie sicher sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bewegen. Auf den ersten Blick könnte es sich um eine ganz normale Skitourengruppe handeln. Erst beim näheren Hinschauen fällt vielleicht eine Leuchtweste auf. Auch schaufelt Bergführer und Tourenleiter Urs Steiner die Kehren aus, damit die Blinden und Sehbehinderten einfacher die Gehrichtung wechseln können.

«Wir sehen sowieso nicht viel»

Heute ist dies leider nicht lange nötig: Mitten in den Felsen oberhalb des Chindbettipasses, wo der Wind den Schnee fast weggefegt hat, vereiste Flächen zum Vorschein kommen und die Kälte das Atmen erschwert, entscheiden die Bergführer, die Tour abzubrechen. Sie helfen ihren Schützlingen, die Felle abzunehmen und die Bindungen zu fixieren. Während die Skilehrer über die Sicht fluchen, machen die Blinden ihre Witze: «Uns spielt das keine Rolle. Wir sehen sowieso nicht viel», sagt Doris Stalder. Sie ist ein alter Hase und schon seit der ersten Skitourenwoche vor zehn Jahren mit von der Partie.

Besser als manch ein Sehender

Als einer der Ersten fährt Egger den Pulverhang herunter. Mit gekonnten Kurzschwüngen setzt er in hohem Tempo seine Spur in den Schnee – besser als manch ein Sehender. Mit ein wenig Abstand folgt sein betreuender Skilehrer, der ihn via Funk führt. «Man muss schon sehr konzentriert arbeiten. Schliesslich hat man wirklich das Leben eines anderen in der Hand.» Für Egger selbst ist es eine Frage des Vertrauens. «Ohne das geht es nicht. Wir sind es uns jedoch gewohnt, die Kontrolle aus den Händen zu geben.»

Das Skifahren hat Egger schon als Kind erlernt – als er noch sehen konnte. Heute bedeuten ihm die zwei Bretter mehr denn je. Das Gefühl der Freiheit, das sich einstellt, wenn er in einen noch unbefahrenen Tiefschneehang sticht, ist für ihn als Blinder von unschätzbarem Wert. Weder mit dem Fahrrad noch mit dem Auto oder mit dem Motorrad kann er losfahren. «Ich lade bei Skitouren meine Batterien für den Alltag.»

Strahlendes Wetter am Bundstock

Zwei Tage später macht das Wetter mit: Die Sonne strahlt wärmend vom blauen Himmel. Sechs der zehn Teilnehmenden sind auf dem Weg Richtung Bundstock im Kiental. Unterhalb des Gipfels trennt sich die Gruppe: Zwei gehen mit ihren Begleitern Richtung Schwarzhorn, die andern schlagen die Route zum Bundstock ein. Doris Stalder nimmt mit Ernst Müller die schwierigere und weniger bekannte Route auf das Schwarzhorn in Angriff. Mithilfe des Bergführers überquert die Sehbehinderte das schwierige Teilstück. Da heisst es: Ski abziehen und laufen. Mit einer Hand hält sie sich an der Schulter des Bergführers fest. Auch hier ist Vertrauen gefragt.

Der lange, anstrengende Aufstieg wird mit einem Gipfel­erlebnis gekrönt. Anders als normalerweise erklärt Müller nicht lang und breit die Namen der umliegenden Berge. «Das ergibt ja wenig Sinn.» Viel mehr wird gelacht und das Erlebte beschrieben. Auch wenn Doris Stalder das wunderschöne Panorama nur sehr verschwommen sieht, geniesst sie es, auf dem Gipfel zu stehen. «Ich spüre ja die frische Luft, die Natur, die schweren Beine», sagt sie. Und fügt an: «Es gibt mehr als nur eine Sinneswahrnehmung. Wir kompensieren das Sehen durch das Hören, das Riechen und das Tasten.»

Vertrauen für den Alltag

Bei der anschliessenden langen Abfahrt fährt sie dicht hinter Müller. Sie orientiert sich jeweils an der Spur des Bergführers und fährt in die entgegengesetzte Richtung, sodass die Spur wie eine Acht aussieht. «So muss ich nicht in der Spur des Skifahrers fahren und kann mich trotzdem orientieren», sagt Stalder. Nach der anstrengenden Tour gibts den Einkehrschwung im Naturfreundehaus bei Katrin und Chrigel Sieber – in den letzten Jahren hat sich das schon fast zur Tradition entwickelt. Bei Kuchen, Kaffee oder Bier reden Bergführer und Teilnehmer über das Erlebte. Doris Stalder bringt es auf den Punkt: «Jede Skitour gibt einem wieder Vertrauen in sich selber und in seine Leistung. Und genau das ist für uns im Alltag so zentral.» So fällt es den Sehbehinderten nach einer Skitourenwoche leichter, sich in Städten zu orientieren und sich alleine etwas zu getrauen – schliesslich haben sie am Berg ganz andere Situationen gemeistert.

Nicht nur die Teilnehmerinnen und Teilnehmer profitieren von der Skitourenwoche. Auch die Skilehrer und Bergführer schätzen den Austausch. Ruedi Schütz: «Es ist für uns immer wieder beeindruckend, wie offen und positiv die Blinden mit ihrem Schicksal umgehen und wie dankbar sie sind. Davon kann man sich ein gewaltiges Stück abschneiden.»

Schneesport für Blinde und Sehbehinderte

Informationen erteilt der Schweizerische Blinden- und Sehbehindertenverband www.sbv-fsa.ch.

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