Mit Satelliten gegen Flutwellen
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Mit Satelliten gegen Flutwellen Frühwarndienst für einen riesigen Gletschersee

Im Westen Chinas überschwemmen zwei Gletscherseen regelmässig Siedlungsgebiete. Mit Schweizer Know-how, Kamelen und Satelliten ist in der schlecht zugänglichen Gegend nun ein Frühwarnsystem eingerichtet worden.

Siedlungsgebiete im äussersten Westen Chinas, im uigurischen autonomen Gebiet Xinjiang werden von zwei grossen Gletscherseen bedroht: dem Merzbachersee in Kirgistan und dem Kyagarsee im Karakorum. Der Kyagarsee liegt auf einer Höhe von 4800 Metern im Shaksgam Valley, nahe der bekannten Achttausender K2 und Gasherbrum. In der Vergangenheit führten häufige, spontane Entleerungen zu grossen Überschwemmungen. Die riesigen Flutwellen mit über 6000 Kubikmetern pro Sekunde ergossen sich praktisch ungebremst in das 560 Kilometer entfernte, landwirtschaftlich intensiv genutzte Gebiet von Yarkant und Markit. Da sich der Gletschersee weitab der Zivilisation in unzugänglichem Gebiet befindet und sich regelmässig aufbauen kann, ereigneten sich die Flutereignisse ohne jegliche Vorankündigung – mit den entsprechend katastrophalen Folgen für die Bevölkerung.

Riesiger Eisdamm

Der See entsteht durch einen Rückstau hinter dem Kyagargletscher, der ähnlich gross ist wie der Aletschgletscher. Die zerrissene Gletscherzunge schliesst das Haupttal in seiner ganzen Breite ab und bildet so einen rund 100 Meter hohen Eisdamm, hinter dem sich ein See von mehreren Kilometern Länge aufstauen kann. In der Vergangenheit erreichte der Gletschersee Volumina von bis zu 280 Millionen Kubikmetern, er war damit rund 100 Mal grösser als der Gletschersee in Grindelwald oder enthielt soviel Wasser wie der Sarnersee.

Bei hohem Wasserstand schwimmt die Gletscherzunge auf, und der See entleert sich rasch. Eine der Hauptaufgaben in einem schweizerisch-chinesischen Projekt (vgl. Kasten S. 60) war es, ein Alarmsystem einzurichten, um die betroffene Bevölkerung rechtzeitig vor Überflutungen zu warnen.

Wenig Informationen

Die Voraussetzung für ein Frühwarnsystem sind Kenntnisse über die kausalen Zusammenhänge der Entstehung und Entleerung des Gletschersees. Wie aber können die notwendigen Informationen über ein Gefahrenpotenzial beschafft werden, das weitab im unzugänglichen Niemandsland liegt? Die Lösung: Satellitenbilder lieferten die Grundlagen für hochpräzise, topografische Karten und Höhenmodelle für das Seebecken und den Gletscher. Anhand alter Satellitenbilder aus dem Archiv konnten frühere Gletscherseestände und Flutereignisse analysiert werden. Mit diesen Unterlagen gelang es, die Dynamik des Gletschersees zu verstehen.

22 Stunden Vorwarnzeit

Das erste Standbein des Frühwarnsystems sind regelmässige Satellitenaufnahmen des Sees. Damit kann der Seerand und so das Seevolumen erfasst werden. Für den Kyagarsee stehen alle elf Tage geeignete Satellitenpositionen zur Verfügung. Sie liefern mittels Radar auch bei bedecktem Himmel präzise Bilder des Seebeckens.

Dieses eine Standbein ermöglicht es, zu erkennen, ob ein See da ist und wie gross er ist. Ein eigentlicher Seeausbruch kann hingegen zeitlich nicht genau erfasst werden. Dafür braucht es terrestrische Beobachtungsstationen. Hierfür bot sich vorerst das tadschikische Dorf Cha Hekou an, das über den Tibet-Highway erreichbar ist. Es liegt 200 Kilometer stromabwärts des Kyagargletschersees und ist 360 Kilometer vom Siedlungsgebiet entfernt. Wird an dieser Messstelle eine Flutwelle registriert, beträgt die Vorwarnzeit für die dichter besiedelten Gebiete circa 22 Stunden. Die Station macht Fotos und erfasst laufend den Wasserstand des Flusses sowie Klimadaten. Die Daten werden per Satellit zum Server der Geotest AG übermittelt und verarbeitet. Ein Alarm geht zurzeit noch via Schweiz nach China.

Expedition mit Kamelen

Eine ähnliche Messstation wurde im Herbst 2012 am Gletschersee selbst installiert. Der Einsatz von Helikoptern ist in dieser Gegend aus politischen und logistischen Gründen nicht möglich. Deshalb gelangte eine Expedition auf dem Landweg und mit Kamelen als Lasttieren zum See. Die völlig autarke Messstation liefert nun seit September 2012 täglich via Satellit Bilder von Gletscher und See sowie Klimadaten.

Wie gefährlich der Gletschersee ist und wie er sich in Zukunft entwickelt, lässt sich nur erfassen, wenn man das Verhalten des Gletschers versteht. Satellitenbeobachtungen dokumentieren, dass der Eisdamm in den letzten Jahren stark geschmolzen ist und deutlich an Mächtigkeit eingebüsst hat. Lässt der Klimawandel den Gletscher und somit den See bald verschwinden? Messungen zeigen in eine andere Richtung: Der Karakorum ist eine der wenigen Regionen der Erde, in denen die Gletscher momentan weitgehend im Gleichgewicht sind und sich kaum zurückziehen oder sogar wachsen. Dies wird durch einen Anstieg des Niederschlags erklärt, der auf Höhen von über 6000 Metern als Schnee die Gletscher nährt. Neuste Messdaten weisen darauf hin, dass der Kyagargletscher im Akkumulationsgebiet an Masse gewinnt und das Eis schneller zu fliessen beginnt. Das könnte dazu führen, dass der Eisdamm schon bald wieder wächst und einen grösseren See aufstauen kann.

Risikomanagement für China

Im Jahre 2010 unterzeichnete Bundesrat Moritz Leuenberger in Peking ein Memorandum of Understanding für eine engere Zusammenarbeit der Schweiz mit China auf dem Gebiet Naturgefahren und Klimaänderung. Der Schwerpunkt liegt auf dem Risikomanagement für die von Überflutung gefährdete Bevölkerung am Yarkant River. In diesem Rahmen leitet Geotest zusammen mit dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) und der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) seit 2011 ein Projekt. Die Erfahrungen mit dem Kyagargletschersee zeigen, dass es heute dank moderner Satellitentechnik möglich ist, Frühwarndienste in völlig abgelegenen, schwer zugänglichen Gebieten einzurichten und erfolgreich zu betreiben.

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