Nach bald sechzig Jahren (Ein Bergsommer im Kaukasus)
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Nach bald sechzig Jahren (Ein Bergsommer im Kaukasus)

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Ein Bergsommer im Kaukasus )

VON OSKAR HUG, ZÜRICH-KILCHBERG

Ein Bergsommer im Kaukasus ) Wir zählten Juni 1910. Da zogen zwei Lausanner Studenten aus und wollten im Kaukasus Berge besteigen gehen, aus lauter Abenteuerlust und mit dem Wunsch, einmal möglichst hoch hinauf zu kommen, höher, als es in den Alpen möglich war. Andere Motive beherrschten uns nicht, oder nur sehr wenig, es sei denn der Drang, Neuland zu betreten und unerstiegene Gipfel zu besteigen. Die Beweggründe dieses Handelns waren also jung und durchaus natürlich. Andere Wünsche lagen uns fern; wir tarnten unser Tun weder mit wissenschaftlicher Tätigkeit noch mit irgendeinem anderen Tun. Nun, diese Wanderlustigen waren mein Freund Casimir de Rham, Ingenieurstudent, und ich, ein zukünftiger Jünger Äskulaps. Wir hatten uns im ersten Semester, also vier Jahre früher, kennen und schätzen gelernt und wurden recht bald eine unzertrennliche Seilschaft, die zuerst in den Waadtländer Bergen, dann später im Wallis und Mont Blanc-Gebiet mit grossem Eifer und unstillbarer Ausdauer bereits bekannte Grate und Flanken erklomm und auch allerlei Neuland betrat. Doch sie war auf dieser Reise nicht allein. Meine Studienkameradin und Freundin Tatjana Nikitine, die sowieso ihre Ferien in Moskau, ihrem Daheim, verbringen wollte und die durch manche vorgängigen Berg- und Skifahrten von meiner Bergneugier angesteckt war, Schloss sich für den harmloseren Teil unserer Reise uns an. Das war sehr gut so, denn dank ihrem Drängen und Beharren zog sich sowohl unsere Hinfahrt in den Kaukasus als unser Heimweg in die Länge, liess uns manch schönen Erdfleck geniessen und die Reise auch unserer Bildung dienbar machen. Dieses letztere hatten wir ihr zu verdanken, und das war sehr klug.

Gepäck trugen wir herzlich wenig mit uns. Je ein Koffer, gefüllt mit unseren privaten Gegenständen und einer Anzahl Konservenbüchsen sowie Rauchwaren, Pfeifentabak für Casi und Stumpen für mich, und je eine Handtasche waren all unser Gepäck. Dieses machte also nicht viel mehr aus, als was man für einen mehrwöchigen Aufenthalt in den heimatlichen Bergen mit sich nimmt. Weder Mauerhaken und Hammer noch Abseilschlinge und Steigbügel belasteten uns, nur zwei Pickel und Steigeisen sowie zwei Vierzig-Meter-Seile und zwei Zelte nebst Schlafsäcken vervollständigten unsere bergsteigerischen Utensilien. Auch bedienten wir uns der Merzbacher-Karte vom Kaukasus.

Merzbachers Werk hatten wir allerdings vorher gut studiert, so dass wir uns gut zurechtfinden konnten. Dann stiegen wir in die Eisenbahn und fuhren nach Genua. An Finanzen besass jeder von uns 5000 Franken. Mein Geld stammte von einem Legat meiner Tante, mit dem ich eine Spanienreise berappen sollte. Das war damals viel Geld und reichte in genügender Weise für die projektierte Fahrt in den Kaukasus sowie für die nachfolgende Reise durch Russland. In Genua bestiegen wir einen grossen Dampfer, der uns mit eingeschalteten Unterbrüchen nach Odessa bringen sollte. Solche Aufenthalte, sogar zum Teil von mehreren Tagen, hatten wir in Neapel, in Piräus, in Smyrna und Konstantinopel. Die Hinreise bis Batum dauerte zweieinhalb Wochen. Den kürzesten Aufenthalt machten wir in Neapel, das wir ja später mit Leichtigkeit wieder erreichen konnten. Für Piräus—Athen verwendeten wir vier Tage, besuchten Museen und die Akropolis und genossen auch 1Die Alpen -1967- Les Alpes1 die ländliche, noch unverdorbene Umgebung. Jeden Abend sassen wir zu Füssen des Nike-Tempels und bewunderten die hinter Salamis in phantastischem Abendlicht untergehende Sonne. Dass wir hierbei unsere aus dem Griechisch-Unterricht spärlich zurückbehaltenen Kenntnisse nun de vivo auffrischten und mit reichlich Phantasie durchwirkten, brauche ich nicht besonders hervorzuheben. Auf alle Fälle waren diese Erlebnisse so eindrucksvoll, dass ich in späteren Jahren noch viermal, zum Teil längere Aufenthalte in Griechenland anschloss. Von Smyrna verbleiben mir nur mehr sehr geringfügige Eindrücke; desto mehr beeindruckte uns der Aufenthalt in Konstantinopel und am Bosporus.

In Konstantinopel begegneten wir erstmals dem vorderen Orient und der arabischen Welt. Ganz grossen Eindruck hinterliess uns der manche Stunden dauernde Aufenthalt in der grossen Moschee, das geschäftige Treiben, Gehen und Beten in deren Hallen und Nischen. Das waren sicher nicht nur grosse Gebete, die an diesem Ort zum Himmel stiegen. Eine ähnliche Betriebsamkeit trafen wir auch auf der grossen Brücke, wo es wie an einem Jahrmarkt her und zu ging.

In Odessa endete unsere Mittelmeerfahrt, und wir wechselten auf einen russischen Küstendampfer, der uns nach Batum bringen sollte.

Odessa blieb mir durch zwei Tatsachen bis heute in meiner Erinnerung: einmal war es die grosse, steinerne Treppe, die vom Hafen zur höhergelegenen Stadt geleitet. Ich begegnete diesem Bauwerk später wieder in dem ausgezeichneten Film « Panzerkreuzer Potemkin » Und weiter erregte uns ein uns bis dahin völlig unbekanntes Ereignis: wir waren im besten Hotel abgestiegen und waren früh zu Bett gegangen. Aber so um Mitternacht herum wurde ich durch ein Huronengebrüll von Casi aus dem Schlummer geweckt. Der Grund waren zahlreiche Wanzenstiche, die ich nun plötzlich auch auf meiner Oberfläche bewundern konnte. In tiefem Zorn traten wir beide in unseren Nachthemden auf den Korridor und verlangten den Hoteldirektor. Doch behutsam öffnete sich die Tür eines Nebenzimmers, und auf dessen Schwelle erschien, ebenfalls im Nachthemd ( Pyjamas waren dazumal noch nicht üblich ), ein älterer Herr, der sich als General vorstellte und uns in liebenswürdigster Weise aufklärte. » « Ne vous excitez pas, messieurs. On voit que vous êtes pour la première fois en Russie.Vous trouverez ces gentils petits animaux dans presque tout hôtel de notre pays. » Nun, unser Palaver wurde mehr und mehr humorvoll und komisch, und wir trennten uns in bester Artigkeit. Unsere Reklamation beim Direktor am anderen Morgen wurde mit den tragikomischen Worten abgetan: « Ce sont les clients qui nous les apportent. » Um die Krim etwas näher kennenzulernen, verliessen wir in Sewastopol den Dampfer, und in einem damals hochmodern wirkenden Auto brachten wir die Fahrt bis Yalta zu Land hinter uns. Wir hatten es nicht zu bereuen, denn die Porte de Baidar und die darauffolgende Höhenstrasse über Alupka, Livadia, Yalta, mit bester Sicht auf die pompösen und zahlreichen Villen und Paläste des Zaren, der Grossfürsten und des russischen Hochadels, können es ohne weiteres mit der Grande Corniche ob Nizza aufnehmen. In Yalta bestiegen wir wieder unseren Dampfer, der uns während der Nacht nach Batum, an den Ostrand des Schwarzen Meeres, brachte. Leider entging uns dadurch der Blick auf den westlichen Hochkaukasus. Batum glich damals mehr einem grossen Fischerdorf als einer Stadt.

Einige Abstecher in der Batum ostwärts liegenden grusinischen Landschaft liessen uns eine Anzahl alter Kirchen, noch in byzantinischem Stil, bewundern. Die Eisenbahn brachte uns in der Folge in das am Südfusse der kaukasischen Berge liegende Städtchen Lentechi. Am Stadtrand, doch in ganz vorgebirgiger Umgebung, konnten wir zum erstenmal das romantische Übernachten im Zelt geniessen. Dieses und das nachfolgende zweite Zeltbiwak erfolgte an einem herrlichen Plätzchen. Zwei bis drei Meter hohe Rhododendronsträucher mit ihren herrlichen beigefarbenen Blütendolden und unter diesen Büschen bereits blühende blaue Bergakeleien gaben uns Schutz und brachten uns bereits in helle Begeisterung. Durch einen Besuch bei dem russischen Kreishauptmann in seinem idyllischen Heim gelangten wir in den Genuss von bayrischen Knödeln. Der Grund hierfür lag bei der Frau Kreishauptmann, einer echt bayuvarischen, der Fülle keineswegs entbehrenden Dame, die sich unser Kreishauptmann, ein quicklebendiges kleines Männchen in etwas zu geräumig wirkender Uniform, in Deutschland geholt hatte. Natürlich genoss unsere Wirtin unser angebornes deutsches Idiom in ausgiebigen Zügen.

Der letzte Tag brachte uns drei mit zwei Trägern über den etwa 4000 m hohen Grenzkamm des Grusinien von Swanetien trennenden Vorgebirges des Leila und liess uns zum erstenmal trotz sehr wolkigem, regnerischem, aber von kurzen Aufhellungen begleitetem Wetter die Kette des swanetischen Hochgebirges bewundern. Zuerst erblickten wir die weissglänzende, unserem Walliser Weisshorn nicht unähnliche Pyramide des Tetnuld und der östlich davon gelegenen Fünftausender der Dschanga-Skara-Kette sowie den weiter westlich gelegenen zweigipfeligen Uschba, und wir konnten ahnen, was uns erwartete. Bei einsetzendem Regen stiegen wir in den Talboden von Swanetien und erreichten am Ende eines trotz eher schlechtem Wetter genussreichen Tages das Dorf Betscho am Eingang eines am Dolra-Tschala-Bache gelegenen Seitentales, welches zum Ausgangspunkt unserer Besteigungen wurde. Daselbst trafen wir unsere weiteren Vorbereitungen und wechselten die Träger. Unter diesen befand sich der Friedensrichter von Betscho, ein äusserst hilfsbereiter und liebenswürdiger Bergbauer, und unser Aufenthalts-Faktotum, der Armenier Abu-lop, welch letzterer für uns Zeltplatz-Bewacher, Koch, Nahrungsmittel-Zauberer und Dolmetscher wurde. Trotz seiner echt orientalischen Gerissenheit war an seiner Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft nie zu zweifeln. Wie dies gemäss Merzbachers Schilderungen üblich ist, machten wir zuerst einen Besuch beim sogenannten Tal- oder Stammesfürsten, der trotz russischer Besitznahme des Landes, aber sehr spärlicher militärischer Besetzung - was sehr angenehm wirkte - seine Bedeutung, nicht mehr aber die Macht und Gerichtsbarkeit über die Talbewohner innehatte. Der Herr hiess Knias ( Fürst ) Dadisch-Kiliani und bewohnte, nicht viel anders als seine swanetischen Mitbürger, einen von einem mächtigen Turm flankierten Berghof. Als wir uns an seiner Wohnstätte einfanden, waren wir nicht wenig erstaunt, in des Fürsten Schlafzimmer geführt zu werden. Dieses bildete einen ziemlich grossen Raum, im Mitteltrakt des Turmes gelegen, mit sehr wenig Möbeln und rauhen Wänden, die allerdings durch eine Anzahl von Sex-Illustrationen aus der damals beliebten « Vie Parisienne » verklebt waren und daher recht amüsant wirkten. Der Fürst lag in einem grossen, doch sehr bescheiden hergerichteten Bett, weil er infolge längerer Krankheit - er trug deutliche Zeichen von Aussatz ( Lepranicht fähig war, es zu verlassen. Trotz seinem Schaden empfing er uns, in bestem Französisch sich ausdrückend, in liebenswürdiger Weise.

Er erzählte uns, dass er als gewesener russischer Gardeoffizier längere Zeit in Paris verweilt habe und allerbeste Erinnerungen aus dieser herrlichen Stadt besitze, was uns die Wandillustrationen in lebendigster Weise bewiesen! Er war glücklich, sich mit uns Westeuropäern unterhalten zu können, sprach von seinem Leben in seiner Heimat und wünschte uns besten Erfolg für unsere bevorstehenden Bergbesteigungen.

Am dritten Tage verliess unsere kleine Kolonne, Casi und ich sowie Fräulein Nikitine, ferner Abulof und zwei Träger, Betscho und stieg bergwärts. Unser Ziel und gewissermassen Basislager suchten wir in der obersten Ebene des Kwisch-Tales, etwa 2400 m hoch gelegen. Der Marsch war etwas anstrengend, weil weglos, aber entbehrte nicht der Romantik und glich durchaus unseren Clubhütten-Anstiegen in den Alpen, allerdings ohne dass am Ende eine Clubhütte stand.

Damit begann unser Zigeunerleben. Wir fanden fast zuhinterst im Kwisch-Tal einen prächtig gelegenen Standort auf einer Matte neben dem Talbach und stellten dort unser Zeltlager auf. Dieses bestand aus unseren zwei Zelten mit Schlafsäcken und einem grossen Mosettigdach als Rastplatz für Abulof und zum Schutz unserer Vorräte.

Nach einem ersten Tag gemütlichen Verweilens am Ort und kleinen Bummeln in der Umgebung begannen Casi und ich unsere Gipfelbesteigungen. Tatjana Nikitine begleitete uns nie, sondern blieb stets am Zeltplatz, kochte für uns, arbeitete in ihrem chirurgischen Lehrbuch und las Romane. Sie fühlte sich bei dieser Lebensweise sehr glücklich. Wie auch zu Hause, begannen wir zuerst mit kleineren Bergen. Wir bestiegen den Dolra-Tau und den Kwisch-Tau, beides leichte Gipfel über 3900 m und von uns benannt, weil noch namenlos und noch nicht bestiegen. An den Tscharinda-Murkwebi-Türmen, etwa 3579 m hoch und ebenfalls noch unbestiegen, übten wir uns im Klettern.

Einen ersten Höhepunkt der Besteigungen erreichten wir am etwa 4000 m hohen Zalmiag-Tau, einem Gipfel nicht unähnlich unserer Aiguille Verte bei Chamonix. Steile Firnhalden und ein prächtiger Firngrat führten uns von Norden auf den Gipfel, der zweifelsohne vorher noch nie Besuch erhalten hatte. An ihn schlössen sich noch andere, im allgemeinen harmlose, doch sehr schöne Berge an. Da wir unseren Aufenthalt als reines Ferienvergnügen, nicht als alpinistische Arbeit betrieben, schalteten wir fast nach jeder Besteigung einen durchaus nicht notwendigen, aber desto angenehmeren Rasttag ein. Für unsere Ernährung sorgte Abulof. Diese gestaltete er recht abwechslungsreich, denn wir genossen vorwiegend Ortsprodukte, die wir aus dem letzten Dorf bezogen. Einmal war es ein Spanferkel, ein andermal reichlich bemessene Eierspeisen ( Omeletten ), ja sogar einmal Bachforellen, die Abulof uns zur Nachtzeit mit Fackel und Dreizack gefangen hatte. Wir schlemmten manchmal geradezu! Den Durst stillten wir nur mit Quellwasser, das reichlich vorhanden war.

Nach etwa zwei Wochen schritten wir zur Eroberung der höchsten Gipfel des Talhintergrundes. Dazu bezogen Casi und ich ein Hochlager und verbrachten die Nacht auf felsigem Boden, ohne Zelt und Schlafsack, weil wir eine West-Ost-Traversierung durchführen wollten. Anderntags standen wir schon um 8 Uhr auf dem noch jungfräulichen 4277 m hohen Nakra-Tau und schlössen an diese Besteigung die totale Längsüberschreitung der drei etwa 4500 m hohen Gipfel des Dongusorum-Jusenghi an. Diese Tour erfolgte bei herrlichstem Wetter; der Genuss gestaltete sich dementsprechend. Die Schwierigkeiten hielten sich im Rahmen einer Monte Rosa-Überschreitung. Am Abend dieses genussreichen Tages landeten wir im Ausgang des Dolra-Tales. An diesen Ort hatten wir die anderen Teilnehmer unserer Gemeinschaft bestellt. Unser Friedensrichter hatte inzwischen ein Pferd für die Weiterfahrt gekauft und mitgebracht. Gleichzeitig hatten wir Abulof von der weiteren Teilnahme an unserer Fahrt entlastet, und da auch der Träger von uns entlassen wurde, blieben wir nur mehr zu dritt mit einem Teil unseres Proviants. Anderntags überschritten wir den 3372 m hohen Betscho-Pass, der uns auf die Nordseite des kaukasischen Gebirgskammes ins Tal der Kabar-diner brachte. Tatjana hatte sich für diesen Übergang des gekauften Pferdes bedient, das auf dem ausgeaperten kleinen Gletscher mit der gleichen Sicherheit lief wie Casi und ich in unseren mit Tricouni-Nägeln beschlagenen Bergschuhen. Wir nächtigten am Ausgang des erst aus nächster Nähe sichtbaren Dorfes Urushbievo, das von Osseten bewohnt ist. Die Landschaft sah völlig verändert aus. Sie war baumlos, entbehrte fast gänzlich des wohltuenden Grüns von Matten und Wiesen; steinige und ausgetrocknete Hänge reichten bis zum Baskan-Bach hinab. Die Einwohner erwiesen sich als freundlich und hilfsbereit. Anderntags verliess uns Tatjana, die mit einem Osseten talabwärts wanderte und dem Kurort Pjätigorsk zustrebte. Sie hatte vom Bergleben genug und sehnte sich nach den Annehmlichkeiten der Zivilisation. In diesem Kurort traf sie ihre Eltern und verblieb daselbst, bis auch wir in den Ebenen von Südrussland wieder erschienen. Sie musste allerdings eine geraume Zeit warten, denn unsere bergsteigerischen Aspirationen waren noch gar nicht befriedigt.

Während wir beide, Casi und ich, unser Pferdchen der Obhut der Osseten überliessen, stiegen wir anderntags die Südhänge des Elbrus empor, des höchsten kaukasischen Gipfels. Auf den obersten Hängen des Terskol benannten Vorbaues richteten wir auf sandigem, von Felsblöcken geschütztem Boden am Rande des Terskol-Gletschers unser Biwak ein. Den ersten Tag in dieser Höhe verbrachten wir mit Nichtstun und Bummeln in der Umgebung. In unseren Schlafsäcken liegend, verbrachten wir einen unvergesslichen Abend und eine ebensolche prächtige, wolkenlose und vom Vollmond erleuchtete Nacht. Am folgenden Tag brachen wir schon frühzeitig zur Elbrus-Besteigung auf. Diese erwies sich als völlig harmlos und leicht, und wir erreichten ohne Mühe und Beschwerden um 10 Uhr morgens den Ostgipfel des 5533 m hohen zweigipfeligen, erloschenen Vulkans. Ein völlig wolkenloser, warmer Tag war uns beschert, so dass wir die phantastische Fernsicht in ungestörter Ruhe geniessen konnten. Bis zur Mittagszeit hielten wir Rast und Mahlzeit im windlosen, 300 m unterhalb der beiden Gipfel gelegenen Sattel. Den frühen Nachmittag benützten wir zur Ersteigung des 5623 m hohen Westgipfels, auf welchem wir über eine Stunde in unbeschreiblichem Genuss verbrachten. Die Fernsicht war von unglaubhafter Ausdehnung. Wir gelangten in die Ansicht des grössten Teils des linear West-Ost geordneten kaukasischen Bergmassivs, überblickten all die zahlreichen Fünf- und Viertausender und bewunderten selbst den rund 500 km weit in Armenien stehenden Ararat. Mit unglaublicher Klarheit lagen die unendlich weit bis zum fernsten Horizont reichenden fruchtbaren Ebenen Südrusslands und die südwärts von uns gelegene Landschaft der kleingebirgigen Struktur von Georgien vor uns. Ja, uns schien, dass wir sogar des Schwarzen Meeres gewahr wurden, zum mindesten aber der leicht dunstigen Zone über diesem Meere! Etwas Ähnliches hatten wir bis anhin nie erlebt. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass diese unendlich wirkende Fernsicht bis zum heutigen Tage in meiner Erinnerung haften blieb. Um die erste Überschreitung des Elbrus zu vollziehen, stiegen wir auf der Westseite des Westgipfels ab und erreichten nach weit ausholender Wanderung in den West- und Südhängen des Elbrus die Nordhänge des 3858 m hohen Asau-Basch, wo wir nächtigten. Schon früh am anderen Morgen brachen wir talauswärts auf und wanderten dem Baksan-Bach entlang bis zur Einmündung des Dongusorum-Baches. Dort zweigten wir in südwestlicher Richtung ab und erreichten bald das Plateau und das Seelein am Nordfuss des Dongusorum-Massivs. Wie vorher abgemacht, übergab uns dort der Ossete unser Rösslein, so dass wir anderntags ohne Rucksäcke ( die wir dem Rösslein aufluden ) und völlig unbeschwert unsere Wanderung über den Dongusorum-Pass, das Nakra-Tal hinaus und über einen Pass nach West-Swanetien ausführen konnten.

Nach Betscho zurückgekehrt, begannen wir sofort mit unseren Vorbereitungen zur Uschba-Besteigung, die den Höhepunkt unseres alpinistischen Strebens bedeuten sollte. Wir arbeiteten aber nun nur noch zu zweit. Unser nächstes Zeltlager richteten wir im Mündungsgebiet des Uschba-Gletschers ein. Von dort aus machten wir zuerst die Erstbesteigung des Westgipfels des Schechildi-Tau ( 4320 m ), eine durchaus nicht harmlose Angelegenheit, denn dieser Berg steigt völlig felsig und, mit Eiscouloirs durchsetzt, sehr steil, der Westseite des Schreckhorns nicht unähnlich, etwa 1600 m hoch vom Nordrand des Uschba-Gletschers empor. ( Siehe Bild in « Die Alpen » 1966, Heft 2. ) Unsere Klettergelüste kamen auf ihre Rechnung, ja, das war sogar oft zuviel des Guten! Das verursachte starken Zeitverlust und in der Folge ein äusserst unangenehmes Biwak hoch oben in einem Eiscouloir dieses Berges, eine Nacht, die sich als ebenso beschwerlich und auch nicht ungefährlich erwies, wie sich unser Nachtlager auf Terskol am Elbrus angenehm und genussreich gestaltete.

Doch auch dieses Erlebnis konnte unseren Bergsteiger-Wünschen keinen Abbruch tun. Denn schon zwei Tage später nächtigten wir auf einem brüchigen, von uns erbauten Felsbalkon am Rande und in der Höhe des obersten Tschatuin-Tau-Plateaus, von wo aus wir dem Nordgipfel des Uschbas zustrebten. Nach einer fast tragisch verlaufenen Nacht - denn unser auf einem Steinmäuerchen errichtetes Lager stürzte etwa um 2 Uhr früh zusammen und verhinderte auch unseren Absturz nur, weil wir uns vorher und zusätzlich mit einem Seil am festen Fels verankert hatten -begannen wir bei Tagesanbruch unsere Uschba-Besteigung. Allerdings liess schon in der Dämmerung das Wetter sehr zu wünschen übrig. Wir erreichten nach Überschreiten des Tschatuin-Plateaus und im Anstieg in der eisigen Nordflanke den zum Nordgipfel führenden Firngrat. Doch wir gelangten nur bis etwa 200 m unter den Uschba-Nordgipfel, als Wolken und sehr kalte Schneestürme einsetzten und uns zwangen, klug zu sein und von der weiteren Besteigung abzusehen. Bei immer stärker werdendem schlechtem Wetter erreichten wir, uns glücklicherweise nicht verlaufend, unser Zelt am Fusse des Uschba-Gletschers. Dort blieben wir zwei Tage von Regen und Sturm gefangen und konnten beim Wiederaufhellen nur feststellen, dass wir mit unserem Besteigungsab-bruch richtig gehandelt hatten, denn die Berge waren bis weit hinunter mit Neuschnee bedeckt. Wir stiegen deshalb wieder zu Tal nach Betscho, wo wir uns restaurierten.

Als das Schönwetter wieder beständig wurde, zogen wir zu einem zweiten Versuch einer Uschba-Besteigung aus. Dieses Mal versuchten wir es mit dem Südgipfel. Wir stiegen hinauf zum Gul-Gletscher, lagerten an dessen Nordwestbegrenzung am Fuss des Sattels, der zwischen Uschba und dem südwestlich davon gelegenen Masevi-Tau liegt. Da wir aus einer vorgängigen Beschreibung von der Erstbesteigung des Uschba-Südgipfels wussten, dass wir vor einer schwierigen Aufgabe standen, und wir diese Südhänge nicht kannten, entschlossen wir uns zu einer vorgängigen Besteigung des etwa 4000 m hohen Masevi-Tau, von wo wir beste Einsicht in unsere Aufstiegsroute ge-wannen1. Wir erreichten diesen Gipfel in sehr schöner, mittelschwerer Kletterei; doch sollte diese Tour unsere letzte kaukasische Gipfelbesteigung werden. Im Abstieg vom Gipfel warteten wir in den Felsen, und dabei geschah es, dass mein schöner und einziger Photoapparat aus meinem Rucksack fiel und talwärts hinunterkollerte. Dieses Missgeschick erzeugte eine ganz unerwartete Stimmung.

Wir hatten ganz plötzlich, und zwar wir beide fast in gleicher Stärke, vom Bergsteigen genug und verlangten wieder nach Wandern und Reisen im Tiefland. Ich habe mich schon damals und später immer wieder gefragt, wieso eine solch abrupte Stimmungsänderung uns zu diesem Entschluss führen konnte. Der Grund hiefür blieb mir bis zum heutigen Tag unbekannt. Sicher bildete der Photoapparat hiefür lediglich der « äussere Stupf ». Ähnlich rasch erfolgende Änderung und Plan-aufgabe hatte ich schon zu Hause in den Alpen erlebt. Sie trat jeweils nach länger dauerndem Aufenthalt im Gebirge ein und wurde bewirkt durch ein unwiderstehliches Verlangen, von den erhabenen Höhen wieder ins prosaische Tiefland hinunterzusteigen. Wahrscheinlich gingen diese Wünsche von einer Art Sättigung im alpinistischen Handeln aus. Trotz schönem Wetter und sehr guter Kondition in unserm Befinden sagten wir- und das ohne jegliches Bedauerndem schönen, von uns nicht erreichten Uschba Valet, liessen weiterhin die vorgängig festgelegten Besteigungen des schönen Tetnuld und des zweifellos interessanten Dych-Tau fallen und begannen unsere Heimreise.

In Betscho kauften wir abermals zu einem sehr niedrigen Preis von 100 Rubeln ein zweites Pferd und setzten nun unsere Reise mit dem Rest unseres Gepäcks und ohne weitere Begleitung talost-wärts nach Ostswanetien fort. Unterwegs besuchten wir den Hauptort des Tales, die grosse Siedlung 1 Von diesem Gipfel stammt der Zettel, der im Bulletin 1965, Seiten 260/61, zu finden ist.

von Mestia, die mich mit ihren vielen, bis zu 25 m hohen Türmen und den primitiven Wohnhäusern, von Ferne gesehen, an den Anblick von Carcassonne in Südfrankreich oder an San Gimini-ano in Italien erinnert. Nach einer weiteren Passüberschreitung gelangten wir zu der Poststrasse, die von Kutais über den Mamison-Pass nach Wladikawkas auf der Nordseite der Kaukasus-Kette führt. Dieser Übergang wurde für uns mit unseren Pferden und ohne jegliche Behinderung aus Zeit- oder Unterkunftsgründen zu einem grossen Genuss. Unseren kaukasischen Pferden war es Gewohnheit, sich nur in raschem Trab oder gemütlichem Galopp zu bewegen, und in den vierhök-kerigen Sätteln sitzt man sehr sicher und gar nicht in unangenehmer Weise, was für uns, die wir nur über die Anfangsgründe des Reitens verfügten, nicht ohne Bedeutung war. Hatten wir genug von unserem Ritt, dann stellten wir unser nunmehr einziges Zelt ( das zweite hatten wir unserem Friedensrichter von Betscho geschenkt, der sich uns gegenüber mit dem Geschenk von zwei echt kaukasischen, mit Silber-Ornamenten geschmückten Dolchen, genannt Kinjals und nicht mit dem lästigen « Made in Germany » verziert, beglückte ) auf und nächtigten weiterhin in der freien Natur. Wir liessen uns sehr viel Zeit und erreichten erst nach mehreren Tagen unser Ziel. Viel war in Wladikawkas nicht zu bewundern, es sei denn am späten Abend ein Boxkampf. Dieser Sport konnte uns aber keineswegs begeistern, obgleich er nach unserer Laienansicht sehr fair ausgetragen wurde, so dass diese Wettkampfdarbietung in meinem ganzen Leben die erste und zugleich die letzte dieser Art für mich war. Nach einer eintägigen Rast brachen wir zu unserem zweitägigen Ritt auf der grusinischen Heerstrasse auf und gelangten nach Tiflis, der grössten Stadt von Georgien. Unterwegs hatten wir einen Blick auf den schönen Kasbek, den zweithöchsten kaukasischen Berggipfel.

Für die Stadt Tiflis verwendeten wir drei Tage. Dort verkauften wir unsere zwei Pferde und machten dabei einen Gewinn von je 20 Rubeln, denn die beim Ankauf mageren Pferde und die bedeutenden durch die Sättel verursachten früheren Wundschäden waren durch unsere Pflege und gute Ernährung in einen Zustand gebracht worden, der den Mehrpreis, also den Gewinn für uns, ergab. Wir kamen uns bei diesem Handel vor wie zwei Armenier, die bekanntlich auf diesem Tätigkeitsgebiet nicht von Pappe sindTiflis erwies sich als eine an den beiden Ufern des Koura-Flusses sich ausbreitende, interessante Stadt. Da ihre Bewohner sich aus Georgiern, Armeniern, Tartaren, Russen und eingewanderten Deutschen zusammensetzen, pulsiert das Leben in ihr in recht lebhafter Weise. Der interessanteste und älteste Stadtteil befindet sich im Süden. Ein Gang zur sogenannten Zitadelle hinauf schenkte uns eine recht schöne Übersicht über die Stadt und ihre Umgebung. Ein Gang durch die botanischen Gärten war durchaus der Mühe wert. Der Hauptbestandteil des Handels wickelt sich hier mit orientalischen Teppichen ab. Wie man neuen Teppichen ein antikes Aussehen verschaffte, erlebten wir im Stadtteil der Eingeborenen. Hier werden neue Teppiche ganz einfach auf die Strassen gelegt, aufweichen sich ein sehr lebhaftes Kommen und Gehen, nicht nur zu Fuss, sondern auch mit Fahrzeugen aller Art abwickelt. Dass auf diese Weise die Teppiche rasch ein sehr gebrauchtes, ja fast antikes Bild gewinnen, ist verständlich. Antike Teppiche aber konnten teurer verkauft werden als neue.

Wir glaubten uns verpflichtet, beim Gouverneur unsere Visitenkarte abzugeben. Da dieses Stadt-oberhaupt sich aber just in West-Europa befand, empfing uns einer seiner Adjutanten in strammer russischer Uniform. Er lud uns gleich ein zu einer Tennispartie; die Kleidung und Utensilien dafür besorgte er gleich. Mir, als sehr mittelmässigem Spieler, winkte das Glück, das Spiel zu meinen Gunsten zu beendigen, was meinen russischen Partner scheinbar beglückte, denn er lud uns zu einem opulenten Nachtessen in einem sehr belebten Restaurant ein. Dadurch gewannen wir einen etwas tieferen Einblick in die Gesellschaftsverhältnisse von Tiflis. Auch gab er uns beste Ratschläge für unsere weitere Russlandfahrt. Diese führte uns per Bahn zuerst nach Baku, das uns sein Erinne- rungsmerkmal in der Gestalt von ölflecken auf unserer Kleidung zurückliess. Von dort führte uns die folgende Eisenbahnfahrt nach Tsaritsin, dem heutigen Stalin- oder neuerdings Wolgograd, am südlichsten Knie der Wolga gelegen. Hier trafen wir, entsprechend vorhergegangener schriftlicher Abmachungen, wieder mit unserer Begleiterin, Tatjana Nikitine, zusammen. Die Weiterreise erfolgte also wieder zu dritt bis Moskau. Es erwies sich als eine ausgezeichnete Idee, diese Weiterreise nun zu Schiff auf der Wolga aufwärts zu machen. Wir nahmen Quartier auf einem der bekannten Vergnügungsdampfer des « Samoliet » und brachten eine äusserst genussreiche Fahrt hinter uns. Bei jeder grösseren Stadt wurde ein mindestens halbtägiger Halt eingeschaltet, so dass wir die schönen, bereits östlich frisierten Städte Saratow, Samara und Kazan besichtigen konnten. Auch gesellschaftlich erwies sich das Bordleben als recht aufschlussreich. Wir gelangten dank Tatjanas Bemühungen zu einem guten Kontakt mit der recht gebildeten Vergnügungsgesellschaft. Diese wollte uns in keiner Art glauben, dass wir aus bergsteigerischen Gründen den Kaukasus besucht hatten, sondern stempelte uns à tout prix zu einer kleinen Künstlergruppe, die in den russischen Städten ihre Auftritte besorgte! Item, das schadete uns nicht, denn Künstler galten damals in Russland als bevorzugte Menschen. Wir kamen daher in den Genuss eines sehr angeregten und anregenden Lebens. Von all den Städtebesuchen ist mir jener von Kazan am besten in Erinnerung geblieben. Das wohl besonders deshalb, weil wir in dieser wichtigen Durchgangsstadt von West-Russland nach Sibirien zahlreiche schlitzäugige Bewohner Sibiriens erstmals richtig zu sehen und sogar zu sprechen bekamen. Ob es sich bei diesen Sibiriaken um Kalmücken, Tartaren oder Burjäten handelte, konnten wir nicht entscheiden, doch spielte das keine Rolle. Auf alle Fälle merkte man gut, dass sich hier ein sehr reges Leben abspielte. Aufgefallen ist uns die grosse Anzahl orthodoxer Kirchen und Moscheen. Im übrigen zeigte Kazan das Bild einer typischen russischen Provinzstadt.

In Nijny-Nowgorod verliessen wir den Dampfer und setzten die Fahrt per Eisenbahn nach Moskau fort. Damit erreichten wir das Hauptziel unserer russischen Tieflandfahrt und fanden bei der Familie Nikitine ein typisch russisches, äusserst gastfreundliches Mittelstands-Milieu. Unter der bewährten Führung von Tatjana bekamen wir die meisten Sehenswürdigkeiten dieser Stadt zu Gesicht, insbesondere die Altstadt beim Roten Platz, die Kathedralen, die Tretjakow-Galerie und natürlich den Kreml. Das war für uns eine ganz neue Welt, die wir da zu sehen bekamen. Sie wirkte aber durchaus sympathisch. Da ich damals die russische Sprache, zwar ganz oberflächlich, verstand, konnte ich mich mit allen Volksschichten, denen ich begegnete, verständigen. Der Sprachaustausch bildet eben immer die Basis zum Verständnis des anderen. Wir verbrachten etwa zehn Tage in Moskau, darin eingeschlossen einen kurzen zweitägigen Abstecher nach St. Petersburg. Natürlich bedeutete das nur ein Nippen am vollgefüllten Glase, denn die zwei russischen Hauptstädte zusammen ergaben mir ein Erlebnis ganz besonderer Art. Hier das Vorherrschen des Alten und Einheimischen, dort das Auftauchen des Internationalen und Modernen. Wenn ich mich frage, was mir von Petersburg am dauerhaftesten übriggeblieben ist, so sind es drei Erinnerungen, die unzerstörbar blieben: der Blick vom Strielka-Garten Newa aufwärts gegen die Bauten und Paläste aus der Zeit Peters des Grossen, das geschäftige Treiben am Newski-Prospekt und der Besuch der unvergleichlich schönen und reichen Hermitage-Galerie.

Nachdem wir nach Moskau zurückgekehrt waren, kam rasch der Tag der Heimreise, in einer langen Eisenbahnfahrt und ohne Unterbrechung über Warschau, Berlin nach Basel. Als wir den heimischen Ausruf « Verzolle » hörten, wussten wir, dass wir wieder daheim waren.

Überschaue ich heute unsere Reise, so muss ich sagen, dass sie den Höhepunkt meines äusseren Erlebens bildet. In rein bergsteigerischer Hinsicht lohnt sich ein Besuch des kaukasischen Berg- landes für einen guten Kenner der Alpen nicht. Diese Kette ist viel einfacher gebaut als die Alpen und entbehrt der grossen und zahlreichen sowie verschiedenen Schönheiten unserer Berge. Wir finden nirgends Bergseen, und ich bin niemals auch nur einer Spur von Wild begegnet. Rein bergtechnisch gesehen, bieten die Alpen wesentlich mehr. Eine Ausnahme bildet allerdings eine Besteigung des Elbrus; diese ist zwar leicht; schenkt einem aber eine so ausgedehnte und verschiedenartige Fernsicht, wie wir sie auf keinem Gipfel der Alpen geniessen können. Damals ( 1910 ) bildete die Einfachheit des Lebens der kaukasischen Völker zweifelsohne eine grosse Anziehungskraft. Heute dürfte dies nicht mehr der Fall sein. Auch dürften die dortigen Bergfahrten in grosser Kollek-tivform und die Reglementierung des jetzt üblichen Besteigungswesens uns Alpenländler kaum anziehen, weil dieser Massenbetrieb das Wertvollste am Bergsteigen, die Einsamkeit, das Zwiesprache-halten mit sich selbst, nicht aufkommen lässt. Damit kommt das Beste vom Bergsteigen gar nicht zur Geltung. Als Reise in einem fremden Land mit für uns neuer Völkerzusammensetzung und anderen Lebensformen bot die Russlandfahrt uns aber etwas durchaus Besonderes und Einmaliges. Ich habe ein Gleiches oder Ähnliches bei meinen späteren zahlreichen Reisen in Italien, Spanien und dem Balkan nicht erlebt. Russland hat mir damals ein neues Bild vom Menschen gegeben. Dass dieses Volk 1917 sich in Revolution in völliger Umschichtung der Lebensformen austobte, war wohl berechtigt und zeitgemäss. Schon meine Kaukasusreise und mehr noch ein kurz darauf folgender Winteraufenthalt in Moskau hatten mir klar die « Wurmstichigkeit » der höheren Volksschichten gezeigt. Dem konnte nur ein radikaler Umbruch abhelfen. Was dann aber als Folgen dieses Umbruchs sich zeigte, steht auf einem anderen Blatt. Diktatur und Ähnliches, zweifellos etwas durchaus Notwendiges als erste Revolutionsfolge, können niemals als Dauerzustand von Revolutionen gelten. Das hiesse von einem Sumpf in einen anderen fallen. Doch scheinbar gehört das zum geschichtlichen Ablauf der Volksentwicklungen. Wir müssen von grossem Glück reden, dass wir Schweizer diese Entwicklung schon vor Jahrhunderten und auf leichtere Weise hinter uns gebracht haben.

Feedback