Nachlese im Taminathale
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Nachlese im Taminathale

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

„ Nachlese " ist heute die Aufgabe der Alpenclubisten, nachdem die Pioniere, deren Großzahl leider schon die breite Kluft zwischen Leben und Tod passierten, das Schönste und Beste in der Alpenwelt „ ausgelesen " haben. Kaum ein nennenswerter Gipfel ist noch unbestiegen, kaum ein wegbarer Paß oder Grat noch nicht begangen. So blieb auch mir nach den im XXX. und XXXI. Jahrbuche des S.A.C. beschriebenen Wanderungen im Taminathale nur mehr eine bescheidene Nachlese von Touren zweiten und dritten Ranges übrig.

Hintere Orgeln ( cirka 2700 m ) Panärahörner1 ).

Obwohl die Orgeln aus dem Calfeisen- und Kunkelsthale sehr gut sichtbar sind, ist ihr Name doch den meisten Passanten unbekannt, weil sie selten bestiegen und von der nahen Gruppe der Panärahörner allzu buchstäblich in den Schatten gestellt werden. Im XXX. Jahrbuche des S.A.C. habe ich eine Tour auf die Vordem Orgeln beschrieben. Anno 1897 bestieg ich auch die Hintern Orgeln, welche zwei horizontal geschichtete Flyschgipfel von ziemlich gleicher Höhe darstellen. Der vordere, massigere Gipfel wurde von Herrn Professor Gröbli gegen Ende der achtziger Jahre von der Alp Panära aus besucht. Nach seinen Angaben im Jahrbuche aber blieb dabei das südlicher gelegene Horn unberührt.

Mein Aufstieg ging von der Alp Ramuz aus, durch leichte Felsen in angenehmer Kletterei zur Lücke zwischen den beiden hintersten Orgeln, welche auch Professor Gröbli beschrieben hat. Von hier ist der Anstieg zu den letztgenannten Hörnern ohne Schwierigkeiten. Die Aussicht ist stark beschränkt, gestattet jedoch auf dem südlichsten Gipfel, der, von Kunkels gesehen, scheinbar nach Süden überhängt, einen wunderbaren Blick auf die grandiosen, dolomitenähnlichen Felsenformen, welche für das Ostende des Ringelgebirges besonders charakteristisch sind.

Nach kurzem Aufenthalte auf dieser Höhe versuchte ich in südlicher Richtung den Aufstieg auf den Grat der Panärahörner, der infolge der günstigen Schneeverhältnisse außerordentlich gut gelang. Anfangs ging es in angenehmer Kletterei durch die Bänke und Couloirs empor; in der Nähe des Kammes wurde das Gestein locker, damit nahm aber die Böschung ab. Ohne nennenswerte Schwierigkeiten erreichte ich den cirka 2900™ hohen Gebirgskamm der Panärahörner und Ringelkette kurz vor seinem jähen Absturz zur Alp Ramuz, wo er noch von einem weithin sichtbaren haushohen Turme gekrönt ist. Pathologische Gründe hinderten mich, den Grat bis zu den Panärahörnern zu begehen. Statt dessen stieg ich unverweilt längs der Westhalde des Grates zur Ochsenfurggla ab, und gelangte auf exponiertem, anspruchsvollem Wege ins Ochsenthäli und durch die Alp Ramuz wieder nach Hause.

2. Besteigung des Piz Sardona1 ) ( 3054 m, Saurenstock ) yon Westen.

Eben waren die ersehnten Ferien des Sommers 1896 angebrochen, und schon ging 's von Zürich wieder den Bergen meiner Heimat zu. Ich hatte den Plan, über Elm, Foopaß und Muttenthalergrat ins Calfeisenthal zu gelangen, um daselbst andern Tages dem Jakobifeste ( vide Jahrbuch XXXI, pag. 184 ) beizuwohnen. Nachdem ich in Glarus übernachtet, fuhr ich mit dem 6 Uhr Zuge nach Schwanden und eilte von dort, mit Überzieher, Botanisierbüchse und Bergstock angethan, perpedes in 2 Stunden 10 Min. nach Elm; nach eingenommenem Frühstück wandte ich mich um 10 Uhr der Alp Ramin zu, allwo ich meine Botanisierbüchse mit Alpenrosen vollstopfte. Ein herrlicher, thaufrischer Tag leuchtete über die Berge, zu welchen eben erst der Frühling heraufgezogen war. Hoch droben am Himmel schauten die Zacken der Scheibe, der Tschingelhörner und dazwischen die weiße Firnwelt des Piz Segnes und Sardona auf mich herab. Ich prüfte die stolzen Wände und den Weg dahin ( vergleiche die Abbildung in „ Bergsturz von Elm " von Heim und Büß ). Über dem Anblick vergesse ich den Foopaß, den Muttenthalergrat, denn mich locken „ höhere Gewalten ". Sursum! Auf zu den schneeigen Höhen! Von der mittlern Alphütte Ramin schwenke ich rechts ab, überquere einige gewaltige Lawinenreste, an deren Rande eben Soldanella alpina, Primula integrifolia, Ranunculus alpestris, Viola calcarata blühen, und erreiche in ungefähr 2100 m Höhe den steilen Grat der Geisegg am Westhange der Sardonagruppe.

Über Rasen und Geröll erreiche ich die Wand des Piz Sardona, aus deren Couloir ich mir bereits das nächstgelegene ( auf Blatt Elm des topographischen Atlasses westlich vom Buchstaben „ g " des Wortes Saurengletscher ) zum Wege ausgewählt habe. Die Kluft ist sehr steil und enge, zum Teil mit Schnee erfüllt; die Felsen jedoch bieten gute Griffe, und so gelange ich trotz meines sonntäglichen Überziehers und der anspruchsvollen Pflanzenbüchse rasch in die Höhe. Ich glaube schon am Ziel zu sein, als im letzten Momente noch einige Felsblöcke mir den Weg versperren. Ich binde allen mitgeführten Ballast auf den Rücken und greife mit allen Vieren zu. Nach einigen Schritten hänge ich mich an einen gewaltigen, über dem Geklüfte hängenden Felsklotz; doch zu meinem Entsetzen wackelt der Tückische und droht, mich wieder retour zu schicken, woher ich gekommen. Glücklicherweise balancierte der mehrzentrige Unhold bloß mit meiner Wenigkeit. Einige Griffe seitwärts bringen mich aus seiner Nähe. Nach wenigen Minuten bin ich droben auf dem Sardonafirn und damit an meinem Ziele.

Indessen aber war die Sonne schon fern im Westen angelangt; man denke, daß ich um 6 Uhr noch in Glarus, um 10 Uhr in Elm und cirka 12—1 Uhr noch auf Ramin war, und mich unterwegs mit Botanisieren und anderem beschäftigte. Ein kalter Wind, gegen den mein Überzieher sich bewährte, mahnte mich an die nahende Nacht. Die Aussicht war trüb und neblig. Doch war heute nicht die Aussicht, sondern die Pest-stellung der Thatsache mein Ziel, daß der Piz Sardona oder die Große Scheibe auch von Westen her auf leichten Wegen zu erreichen ist, die nur in vereistem Zustande oder zu gewissen Tageszeiten wegen Steinschlag gefährlich werden können.

Mit Bezug auf die Berichtigungen des Herrn W. A. B. Coolidge im XXXII. Jahrbuche des S.A.C., pag. 368, war für mich die Entdeckung von Interesse, 1 ) daß die Lücken zwischen der Vorderen ( Punkt 2922 ) und Mittleren ( cirka 2920 m ) Scheibe und zwischen der Mittleren und Großen Scheibe oder Piz Sardona schwer zu begehen und jedenfalls selten als Pässe benutzt worden sind, 2 ) daß der Übergang zwischen Piz Sardona und Piz Segnes ( nach Coolidge „ Saurenjoch " genannt ) nach Falzüberalp bei günstigen Schneeverhältnissen leicht auszuführen ist und man, nach Überwindung der Westwand des Gebirges, auch zum Segnespaß gelangen kann, 3 ) daß auch unmittelbar westlich vom Piz Segnesgipfel ein Abstieg an dessen Westwand und damit zum Segnespaß möglich ist.

Meine Mitteilungen über den Scheibepaß, Sardonapaß und Saurenjoch im XXXI. Jahrbuch des S.A.C. waren den Angaben in Tschudi's Reisehandbuch, XXX. Jahrgang, entnommen. Daß Herr W. A. B. Coolidge auch in diese Verhältnisse etwas Licht brachte, soll damit dankend anerkannt werden.

3. Die Mittlere Scheibe ( cirka 2920 m, erste Besteigung ).

Während die Große Scheibe ( jetzt Piz Sardona oder „ Saurenstock " genannt ), sowie die Vordere Scheibe ( Punkt 2922 ) bereits in den sechziger Jahren oder schon früher bestiegen wurden, blieb der zwischendrin stehende namenlose Gipfel ( man kann denselben am besten Mittlere Scheibe nennen ) ganz vergessen. Es ist auch eigentümlich, daß dieses kühn aufragende Horn gerade von den zunächst gelegenen Bergen am wenigsten auffällt, während es doch von Vättis aus sehr gut bemerkbar ist. Ich hatte jedoch schon seit langem ein Auge auf dasselbe geworfen.

Nachdem ich am 19. August 1895 einen vergeblichen Versuch gemacht hatte, von der Vorderen Scheibe dorthin zu gelangen, studierte ich die Sachlage immer eingehender. Eine Besteigung von Westen schien mir auf alle Fälle schwierig. Vom Piz Sardona aus schien die Begehung infolge eines senkrechten Absturzes der Mittleren Scheibe nach jener Seite noch zweifelhafter. So blieb mir schließlich nur die Ostwand zum Versuche übrig. Dort hatte ich längst zwei schief aufsteigende Terrassenbänder entdeckt, welche direkt in den Nordgrat einmündeten. Auf diese setzte ich meine Hoffnung.

Am Morgen des 17. September 1898 stieg ich von der neuen Sardonaclubhütte aus zum kleinen Gletscher empor, dessen greuliches Spaltengewirr bedeutende Vorsicht erheischte. Eine steile Firnhalde führte mich Jahrbach des Schweizer Alpenclub. 34. Jahrg.22 zum Couloir zwischen dem Piz Sardona und der Mittleren Scheibe. Der weite Bergschrund wies mich links in die terrassierten Verrukanofelsen des Piz Sardona, aus welchen ich nach kurzer Kletterei wieder ins Couloir zurückgelange. Ich benütze das von hier unter cirka 45° ansteigende untere Terrassenband, um ohne Schwierigkeiten den Nordgrat zu erreichen. Über diesen schreite ich dem Gipfel zu, wo mir erst das größte Hindernis in Gestalt eines cirka 20 Fuß hohen senkrechten Wändchens entgegentritt. Beiderseits habe ich unwegsame Abstürze. Der Verrukanofelsen ist zudem stark verwittert und geschiefert; die Lage der Schiefer jedoch günstig. Spalten und Fugen im Gestein gestatten mir, meine Hände und Füße darin festzubohren, um auf diese Weise vorsichtig und geschmeidig Stufe für Stufe zu gewinnen. Das Wändchen wird bezwungen. Dann kommt noch das kleine, doch weithin sichtbare Türmchen des obersten Gipfels. Direkt auf dasselbe zu gelangen, ist unmöglich; ich muß statt dessen auf gefährlichem, abschüssigem Terrain angesichts des jähen Absturzes um dasselbe herumsteuern, um ans Ziel zu gelangen. Denn neben dem genannten Türmchen steht ein zweiter Gipfel, den ich für höher halte. Auf diesem errichte ich mein Steinmännchen, um darin die Karte zurückzulassen. Ich verzichte auf die Erkletterung des kleinen Gendarms daneben, da er hierfür zu wenig solid zu sein scheint.

Nach einer Stunde Rast trete ich den schwierigen Rückweg an, der bei nötiger Vorsicht ohne Unfall verlief. Eine genaue Untersuchung belehrte mich, daß es bei aperem Zustande des Berges möglich ist, den schwieligen Nordgrat zu vermeiden und, um dessen Westseite herum, den Gipfel von der Südseite zu erreichen. Die Aussicht ist natürlich durch die Lage des Berges sehr beschränkt, weshalb eine Besteigung desselben mehr sportlichen Reiz besitzt. Mich selber hat die Besteigung sehr befriedigt; und wenn es möglich ist, von der Mittleren Scheibe auf den Piz Sardona zu gelangen, dann kann ich mir für einen Klettertechniker nichts Amüsanteres denken, als die Begehung der auf der Siegfriedkarte 8 Millimeter betragenden Strecke zwischen der Vorderen Scheibe ( Punkt 2922 ) und Piz Sardona ( Punkt 3054 ), welches Problem ich damit der einschlägigen Species unter den Besuchern der herrlichen Sardonahütte empfehlen möchte.

Erwähnt sei noch, daß am 11. August 1898 Herr E. Schenkel aus St. Gallen und ich den wahrscheinlich auch von Touristen schon früher gemachten Abstieg vom Tristelhorn ( Piz da Sterls ) über den Trislelfirn zum GlasergletscJier ausführten und dabei an dem steil abfallenden Abhänge die Bemerkung machten, daß die obere Schneeschicht den unteren Eismassen nur lose auflag und bei unvorsichtigem Betreten große Gefahr hätte bringen können. Passierte es mir doch gerade, daß derselbe unter meinen Füßen wegglitt und als Lawine zu Thal stürzte, währenddem ich selber, ob seiner Treulosigkeit verblüfft, stehend nachrutschte, aber noch zur rechten Zeit seitwärts in die Felsen lenken konnte. Dieser Vorfall möge andern zur Warnung dienen.

Ein anderes Problem, das ich schon längst nachzuholen beabsichtigte, nämlich der Übergang vorA Ringel zum Glaserhorn, wurde unterdessen von andern, bewährten Alpinisten, den Herren R. Helbling und G. B. Litscher von der Sektion Piz Sol, am Tage nach meiner Besteigung der Mittleren Scheibe glücklich ausgeführt und von ersterem in der Alpina ( VII, pag. 1 ) beschrieben. Die berechtigte Siegesfreude, die aus jenem Berichte spricht, zeugt auch von den Schwierigkeiten, welche jene kurze Strecke Weges geboten hat.

F. W. Sprecher ( Sektionen Uto und Piz Sol ).

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