Ode an den Piz Palü
Christine Schaffner Ode an den Piz Palü Herausgeber Redaktion Schweizer Alpen-Club, Zentralkomitee; Helvetiaplatz 4, 3005 Bern, Telefon 031/433611, Telex 912388.
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Erscheinungsweise Monatsbulletin in der zweiten Monatshälfte, Quartalsheft in der zweiten Hälfte des letzten Quartalsmonats.
Tibetischer Mönch beim Herstellen von Kultgegen-ständen aus Mehl und Butter Photo: Ch. und J.P. Schuppisser 100 Jean-Paul Schuppisser Wanderung durch Tibet 109 Alain Fénart Mein Traum - die Besteigung eines Achttausenders 119 Annelise Rigo Vor Tagesanbruch Preis Abonnementspreise ( Nichtmitglieder ) für Monatsbulletin und Quartalsheft zusammen ( separates Abonnement nicht möglich ): Schweiz, jährlich Fr. 42., Ausland, jährlich Fr. 58..
Quartalsheft einzeln für SAC-Mit-glieder Fr. 7., für Nichtmitglieder Fr. 10.; Monatsbulletin Fr. 2..
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Beglaubigte Auflage: 71 176 Exemplare.
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^3 HI UT OSTDer Wunsch nach einer Erstbesteigung
hatte mich schon lange beschäftigt. Doch erst nach zahlreichen Rückfragen und Erkundigun- Tgen entwickelten sich konkrete Pläne. Und ing, Leiennaschliesslich begann sich aus diesem Informa- tionspuzzle allmählich ein Bild herauszukristallisieren: Pakistan - Karakorum - Hispar-Mustagh-Gebiet- Kanjut Sar I ( 7760 m ), durch dessen Südwand noch keine Route führt -und Kanjut Sar II ( 6831 m ), ein noch unbestiegener Gipfel.
Im Februar 1985 dann endlich ein erster Erfolg: Die Bewilligung aus Pakistan. Mit dieser in der Tasche fliegen wir bereits Anfang Juni nach Islamabad. Wir sind zu fünft: Daria Vezzoli, Ueli Stahel, Richi Ott, Hans-Peter Achtnich und ich als Expeditionsleiter. Ein Team mit unterschiedlichen Vorstellungen und Erfahrungen auf einer Expedition ins Unbekannte.
Die Hitze am Ankunftsort ist beinahe unerträglich. Nach nur vier Tagen mit Behörden-gängen, Einkäufen und Vorbereitungen im Staub, Dreck und Lärm von Rawalpindi fahren wir mit dem uns zugeteilten Verbindungsoffizier im gemieteten Kleinbus ins Hunza-Gebiet. Die Strassen werden rasch schlechter, aber dank einem geländegängigen Traktor erreichen wir schliesslich den kleinen Ort Nagar-noch 11 Tagesmärsche vom vorgesehenen Basislager entfernt.
Aufbruch aus der Zivilisation Wir benötigen Träger - ohne ihre Hilfe lässt sich eine Expedition nicht durchführen. Es sind jedoch Menschen mit eigenem Willen, eigenen Vorstellungen. Sie würden nie von sich aus zum Khani-Basa-Gletscher gehen, in jene unwirtliche und lebensfeindliche Welt aus Schnee, Eis und Fels. Für Geld sind sie aber bereit, die Strapazen auf sich zu nehmen und die 25 kg schweren Lasten durch die unwegsame Gebirgswelt zu transportieren. Nebst Bargeld bekommen sie von uns auch eine zweckmässige Ausrüstung und die Verpflegung. Dennoch geben sie sich damit nicht zufrieden, sie wollen mehr, mehr als die Beamten im Ministerium für Tourismus im Reglement festgesetzt haben. Erst nach zähen Diskussionen können wir endlich mit 26 Trägern starten. Für uns ist es ein Aufbruch von den künstlichen Vorschriften der Zivilisation zu 62 den natürlichen und ehrlichen Gesetzen einer unbewohnten Landschaft - in eine Freiheit ohne Vorschriften und Regelungen.
In drei Tagen gelangen wir durch eine Wüste aus steilen Geröllhängen und über wackelige Brücken nach Hispar, dem letzten Dorf auf unserem Anmarschweg. Hier bleibt unser Verbindungsoffizier zurück. Er fühlt sich nicht wohl in diesen Bergen und deren Einsamkeit. Er wird nie begreifen, warum wir uns so verlassene Orte für unsere Abenteuer aussuchen.
Abendlicht auf einem namenlosen Sechstausender der Baldish-Bergkette Nach dem Dorf queren wir den mächtigen Hispar-Gletscher und folgen ihm bis zum Khani-Basa-Gletscher. Wiederum endloses Geröll, Sand und Steine in jeder Grosse. Eine Welt fast ohne Vegetation. Sogar das Eis des gewaltigen Gletschers - ein Überbleibsel der Eiszeiten - liegt leblos begraben unter dem Schutt der Berge. Auf dem Khani-Basa-Glet-scher richten wir auf 4650 Metern, inmitten einer einzigartigen Arena von unbestiegenen und vergletscherten Bergen, unser Basislager ein. Zum ersten Mal sehen wir unsere Expeditionsziele mit eigenen Augen. Beeindruckt von deren Grosse und Steilheit, beginnen wir sogleich die Aufstiegsmöglichkeiten zu erkunden.
Aufstiege ohne Gipfel Das erste Mal am Berg. Voller Tatendrang steigen wir in der Westflanke des Kanjut Sar II auf. Schwere Rucksäcke, alpiner Stil, Wühlarbeit in bodenlosem Neuschnee. Nach drei anstrengenden Tagen funken wir am Abend von 6300 Metern optimistisch ins Basislager: Morgen wollen wir zum Gipfel. Doch am nächsten Tag empfängt uns erneut starker Schneefall, begleitet von stürmischen Winden. Unser Versuch endet im Nichts. Alles ist weiss: Der Boden, der Himmel, auch meine Kameraden Richi und Ueli.
Im Basislager holen wir neue Vorräte. Dann versuchen wir zwei Anstiege durch die steile Gipfelwand. Doch leider ohne den ersehnten Erfolg. Die unergründlichen, weichen Schneemassen und die Schwierigkeiten am Felspfeiler lassen uns keine Chance. Wieder müssen wir absteigen.
Der Alptraum in der Südwand Um Mitternacht bin ich mit Ueli und Richi zur Wand aufgebrochen. Erst an deren Fuss wird es hell. Jetzt sehen wir die Wand aus nächster Nähe, gewaltig und steil. Unter einer dünnen Schneeauflage liegt blankes Eis, wir schätzen die Steilheit auf 70 Grad. Dies bei einer Höhendifferenz von 2700 Metern, die uns vom Gipfel des Kanjut Sar I trennen. Wollen wir da wirklich mit unseren überschweren Rucksäcken hinauf?
Ich will es wenigstens versuchen. Auf den Frontzacken der Steigeisen beginne ich vorzusteigen. Die erste Eisschraube sitzt bomben-sicher. Sie vermittelt mir ein gutes Gefühl und ich steige weiter. Meine Kameraden folgen am Seil.
Bergkinder im kargen Hispar-Tal Allmählich wird die Wand weniger steil, und wir können gleichmässig und damit kräftesparender höhersteigen. Da tauchen die ersten Sonnenstrahlen die Wand in gleissendes Licht. Es wird wärmer - zu warm. Über die Spalte vor mir führt eine unzuverlässige Schneebrücke. Soll ich? Oder soll ich den kräfteraubenden Umweg machen? Ich zögere noch und wage es dann doch. Da, ein dumpfes Krachen und schon falle ich haltlos in die düstere Tiefe. Nach einem unsanften Ruck bleibe ich 5 Meter tiefer hängen - wie eine Spinne am Seil, ringsum nichts als gähnende Leere. Uelis Kopf erscheint am Spaltenrand. Ja, ich bin o.k ., und schon bald kann ich am fixierten Seil aus der nasskalten Gruft aussteigen.
Allmählich wird der Schnee zum bodenlosen Sumpf. Wir keuchen, ringen gierig nach der dünnen Atemluft und bewegen uns im Schneckentempo aufwärts. Unser Biwakplatz auf 5700 Metern ist daher ein Kompromiss aus Müdigkeit, Erfahrung und Vorsicht. Mir selber ist nicht so wohl dabei. Doch zwei Wochen lang haben wir die Wand im Auge behalten und nichts ist passiert. Wieso soll ausgerechnet heute eine Lawine niedergehen? Wir legen unsere Ausrüstung zum Trocknen aus und 66 Schwierige Kletterei bei stürmischem Wind in der Westwand des Kanjut Sar II
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67 Im Abstieg über die steile Eisrinne, nach der geglückten Erstbesteigung des 6831 m hohen Kanjut Sar II Letzter Blick vom Gipfel des Kanjut Sar II gegen den Kanjut Sar I ( 7760 m ) schlürfen das warme Getränk, das Richi aus mühsam geschmolzenem Schnee zubereitet hat.
Plötzlich vernehmen wir über uns ein gewaltiges Rauschen und ein Windstoss wirbelt den Schnee an der Kante über uns auf - eine Lawine. Uns packt der Schrecken. Fast gleichzeitig springen wir seitlich in Deckung, darauf gefasst, von den entgegenstürzenden Schneemassen mitgerissen zu werden. Jetzt bin ich dran. Wie bereits viele meiner Kameraden vor mir. Mit diesem Gedanken kommen die Angst, die Ohnmacht. Doch wo bleibt der Film, der bekanntlich in solchen Momenten von höchster Gefahr abläuft? Kein Lebensfilm, nur das Rauschen von tonnenschwerem Schnee vorerst über und dann neben uns.
Ungläubig wage ich erst nach einer Weile aufzuschauen. Erleichtert sehe ich meine beiden Kameraden wieder, auch sie stehen barfuss im Schnee. Alles andere ist weg, vom weissen Tod erbarmungslos mitgerissen. Es ist wie ein böser Traum. Es gibt jedoch kein Erwachen in einer anderen, heileren Welt. Hier werden wir mit der harten Wirklichkeit konfrontiert.
Noch sind wir benommen, und erst langsam erkennen wir, wieviel Glück wir eben hatten. Nur zwei Meter neben uns wüteten die Schneemassen, gnadenlos alles mitreissend. Wenig hat gefehlt, und auch wir wären weg gewesen, so wie unsere Ausrüstung. Niemand hätte gewusst, wohin wir gestürzt wären. Nur eine kleine Notiz in den Zeitungen: Drei Bergsteiger im Karakorum vermisst. Aus - fertig -Amen.
Die Lawine hat unsere Situation mit einem Schlag verändert. Wir sind k. o. Der Traum von der Wand, von der Erstbesteigung der Südwand am 7760 m hohen Kanjut Sar I ist ausgeträumt. Die Diskrepanz zwischen Wille und Erreichbarem ist zur tiefen Kluft geworden. Unsere verwegenen Wünsche und die zarten Hoffnungen sind in sie hineingefallen. Erst fühle ich mich verraten und betrogen. Doch der Verfluchung unserer Unvorsichtigkeit folgt alsbald die Besinnung. Es wird mir klar, dass wir vom Höchsten ein grosses Geschenk erhalten haben. Wir dürfen leben, weiterleben. Doch wir werden nun hart darum ringen müssen.
In Gedanken die Scherben unserer zerschlagenen Träume zusammenkehrend, suchen wir emsig nach der verschütteten Ausrüstung.
68 Wir finden ein Seil und die Eisschrauben. Das muss genügen. Wir improvisieren. Ueli und Richi binden sich die Steigeisen auf die losen Innenschuhe und beginnen dann eilig die Wand hinabzusteigen. Es bleibt noch drei Stunden hell. Genau so lange haben wir auch Zeit, um 600 Höhenmeter hinter uns zu bringen. Das tönt recht einfach, doch die Hänge, die nach unten immer steiler werden, scheinen im Nichts zu verschwinden. Die Zeit drängt. So verwenden wir nur das Minimum an Zwischensicherungen. Eine Eisschraube am Standplatz muss jeweils genügen. Zu dritt hängen wir daran, während ich meine Kameraden am Seil in die Tiefe gleiten lasse. Wir müssen voll auf diese einzige Sicherung vertrauen - ein Biwak in der Wand wäre zu gefährlich. Theoretisch hält die Eisschraube die Belastung aus, aber ob sich das Eis ebenfalls an die Theorie hält? Könnte unter dieser Belastung nicht plötzlich eine Eisscholle ausbrechen? Solche Gedanken am Standplatz strapazieren meine Nerven, und mit aufkommender Verzweiflung verfolge ich das Eindunkeln. Am Wandfuss angekommen, ist es Nacht. Geschafft. Zeit zum Aufatmen. In sicherer Entfernung von der Wand biwakieren wir auf dem Gletscher. Wir sind nachdenklich geworden, aber auch glücklich darüber, noch einmal davongekommen zu sein.
Die Erstbesteigung Die Zahl der Tage wird knapp. Bald schon werden vier Träger hier sein, um uns beim Rücktransport zu helfen. Die Zeit reicht gerade noch für einen letzten Versuch am 6831 m hohen Kanjut Sar II.
Diesmal läuft alles glatt. Nach zwei Tagen bauen wir unser Zelt in 6400 Meter Höhe auf. Aber noch steht uns eine wilde Nacht bevor, es beginnt zu stürmen. Wohl befindet sich unser Zelt in einer Art Schneeloch und ist damit vor den gnadenlosen Böen geschützt. Zugleich aber hat dieser Standort zur Folge, dass die Zwischenräume rund um unsere kleine Behausung sich mit Schnee füllen. Der Druck auf die Zeltwände nimmt zu, und unser Raum wird immer kleiner. Ohnehin liegen wir schon zu dritt in einem Zweierzelt. Doch es gibt keinen Ausweg aus dieser beengenden Situation, und sehnsüchtig warten wir den Morgen ab. Kochen ist in dieser Lage praktisch unmöglich. Der Wind hat etwas nachgelassen; trotzdem bläst er noch so stark, dass es uns grosse Überwindung kostet, ins Freie zu kriechen.
Alles scheint ewig lange zu dauern. Die Finger bleiben an den Steigeisen kleben. Die Hände werden sofort gefühllos. Alle Verrichtungen können nur mit Handschuhen gemacht werden. Für die eisige Temperatur entschädigt uns wenigstens das schöne Wetter. Während wir durch den tiefen Schnee stapfen, fühlen wir, wie die Kälte unsere Zehen hochkriecht. Wir frieren, obwohl wir dicke Daunenjacken tragen. Wenn bloss der ewige Wind endlich aufhörte!
Richi spurt bis an den Beginn der steilen Eisflanke, worauf Ueli die Spitze übernimmt. Die Verhältnisse werden zunehmend schwieriger, und schliesslich stehen wir auf glasklarem Eis. Ueli meistert diese Probleme, und nach drei zügigen Seillängen hängen wir an Eisschrauben unter dem steilsten Abschnitt. Hier hat sich zwischen überhängenden Felsen und dem ebenfalls überhängenden Gletscherabbruch eine fast senkrechte Eisrinne gebildet. Da führt unser Weg durch.
Während Ueli vorklettert, löst er Eisstücke, die auf unsere Köpfe niederprasseln. Die Kapuzen unserer Daunenjacken vermögen uns dabei nur wenig zu schützen. Die Eisschollen stürzen die Steilwand hinab und verschwinden in grossen Sprüngen unter uns. Erst 1500 Meter tiefer, auf dem Khani-Basa-Gletscher, werden sie zur Ruhe kommen. Der Eindruck ist berauschend, zugleich aber auch furchtein-flössend. Hier darf es keine Fehler geben, kein menschliches Versagen. Hier muss alles stimmen.
Ueli macht keine Fehler. Endlich hat er die heikle Passage überwunden, so dass wir nachklettern können. Ich übernehme die Führung. Vor mir liegt nun frisch verschneiter Fels - ein schwieriges Gelände. Mit einer Querung versuche ich festen Fels zu erreichen. Der Schnee aber droht hier jeden Moment abzurutschen und als Lawine im Abgrund zu verschwinden. So entscheiden wir uns für den direkten, steilen, aber weniger gefährlichen Schneehang. Bis zu den Hüften versinkend 69 wühle ich mich im leichten Pulverschnee voran. Nur langsam gewinne ich an Höhe. Der Hang stellt höchste Anforderungen an unsere Kondition und unseren Durchhaltewillen. Doch es ist die letzte Hürde, die uns der Berg auf dem Weg zum Gipfel stellt. Auch sie vermag uns nicht mehr aufzuhalten. Keuchend erreichen wir gegen 14.00 Uhr den höchsten Punkt. Als erste Menschen dürfen wir am 10. Juli 1985 auf dem Gipfel des Kanjut Sar II stehen. Wir sind glücklich. Staunend nehmen unsere Augen die gewaltige Aussicht über die Blick zurück auf unsere Spur am Kanjut Sar II Einfacher Bazar im Norden von Pakistan unzähligen Gipfel zwischen Nanga Parbat und K2 auf. Nicht eine Wolke verdeckt uns die Sicht auf das fast unglaubliche Gipfelpanorama.
Unsere kleine und mit bescheidenen Mitteln finanzierte Expedition findet damit ihren krönenden Abschluss. Die aufopfernde und hervorragende Kameradschaft hat so doch noch zu einem guten Ende und sogar zum Erfolg geführt.
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rde an den Piz Palü
Christine Schaffner, Basel Piz Palü! Palü, ein Name, der wohl jedem Engadinfreund mehr als nur ein Begriff ist. Palü, eine majestätische Berggestalt aus Eis und Fels, die sich hier wie hingegossen erhebt und deren blosse Existenz bei etlichen Menschen ein Gefühl der Herausforderung weckt. Er steht da, in seiner ganzen Pracht; allein inmitten einer Kette von Gipfeln. Ein harmonisches Bild, eine geschwungene Linie, wie sie nie von Menschenhand zu erschaffen wäre!
Lange schon wandert der Blick vom Tal em- por zu dieser himmelwärts strebenden Stätte unseres Traumzieles. Vor allem zum elegant geformten Ostpfeiler, der sich aus dem ihm zu Füssen liegenden Gletscher zum Gipfel hochschwingt. Wie herrlich muss es sein, diese Linie zu begehen, diesen Berg einmal von vorn, auf direktem Weg bezwingen zu können. Ein Traum aber auch, der trotz seiner Schönheit bald zum Alptraum, zum wird; denn erst nach dessen Erfüllung wird es dir wieder gelingen, seine edle Form ohne Herzklopfen in dich aufzunehmen.
Frühmorgens machst du dich auf den Weg. Dieser Tag kann eigentlich gar nicht schlecht werden; hast du doch schon - trotz unruhigem Schlaf und Nervosität - den ersten wichtigen Schritt getan, indem es dir gelungen ist, dich selbst, deine innere Trägheit zu überwinden. Und bereits siehst du dich eingereiht in der Kolonne der Gipfelstürmer, ähnlich einem Pilger, der sich zu eben jenem Ort begibt, an dem er Erfüllung und völlige Zufriedenheit erwartet.
Allmählich kündet die zunehmende Helligkeit am Horizont den nahenden Tag an. Und Piz-Palü-Ostgipfel da, endlich, taucht er wieder auf, der Palü, schon etwas näher und beeindruckender. Ein verteidigungsbereites Bollwerk, fast als wolle er die alltägliche Last nicht mehr erdulden. Einem gewaltigen Tierkörper vergleichbar, dessen Anblick dir kalte Schauer über den Rücken jagt. Doch es gibt in diesem Moment nur eines: überwinden! Jene Angst zurückzudrängen, die dir die Beine lähmt, dir den Atem nimmt, dich zu erdrücken droht.
Im Osten lassen die Strahlen der aufgehenden Sonne den Himmel in fast unwirklichen Farben aufleuchten - doch wer achtet jetzt noch darauf. Ein schneller Blick: Ja, schön! wunderbar! herrlich! prächtig! Nur kurz wird die Aufmerksamkeit abgelenkt, nur kurz währt die Flucht aus dem Bann des Berges, der unser wartet und sofort die gespannte Aufmerk- Aussicht vom Piz Palü gegen Südosten samkeit wieder auf sich zu lenken vermag. Einige Schritte weiter, und er fängt an zu glühen, beginnt sich mit rosigem Licht zu überziehen. Sanfter erscheint er dir jetzt, offener, zum Empfang bereiter, und langsam, ganz langsam wirst du ruhiger und ruhiger.
Bevor du weisst wie dir geschieht, befindest du dich im Fels, an eben jener harmonischen Linie, die unter deinen Füssen ihre Steilheit, ihre abschreckende Wirkung verliert. Schritt um Schritt, Griff um Griff erklimmst du die Himmelsleiter, von der Sonne begleitet, die mit ihrem sanften Morgenlicht den Berg lieblicher erscheinen lässt. Durch sie werden die Felsen erwärmt, die du mit deinen Händen be-rührst, womit sich auch jene direkte Verbindung einstellt, die deinen Körper durchströmt und dich bis in die kleinste und hinterste Ecke erfüllt.
Weiter, immer weiter steigst du der Linie entlang himmelwärts bis zu dem Punkt, an dem der Fels im Eis verschwindet. Ein messerscharfer Grat führt dich zu den letzten Metern vor dem Gipfel. Da stehst du nun in schwindelerregender Höhe, fast so frei wie ein Vogel; verschwunden all jene Gedanken, die deinen Fuss noch lähmen könnten. Zu deiner Rechten, zwischen Ostgrat und Wächte, erscheint plötzlich und unerwartet würdevoll die Disgrazia, ganz allein, umhüllt von Eis und dem wunderbaren Blau des Engadiner Himmels.
Die Spannung, die beim Klettern nachgelassen hat, breitet sich wieder aus, denn erst jetzt wird dir bewusst, wo du dich eigentlich befindest: Kurz unterhalb des Ostgipfels, auf einem beidseits von gewaltigen Wächten gekrönten Kamm, über den ein schmaler Einschnitt den Weg zum Ziel, zur Erfüllung freigibt. Du kannst Berge sehen, rings um dich nichts als Berge, Formen, Ketten, Linien, doch du siehst nur noch das eine: Die Kante, die in den Himmel führt - in dein grösstes Glück.
Du tauchst ein, durcheilst diese Schranke, klimmst empor aus dem Meer der Ängste, der Alpträume, hinauf in die Sonne, ins Paradies. Du bist ganz oben, deine Gefühle übermannen dich und du fühlst dich klein und gross zugleich. Du hast es geschafft, dein Ziel liegt in deinen Händen und der Berg dir zu Füssen...