Rendez-vous auf dem Piz Bernina
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Rendez-vous auf dem Piz Bernina

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Ursula Reich-Gantner, St. Gallen

Es war 5 Uhr morgens, Ende Juli. Auf der Firnschneide des Fortezzagrates steckten drei einsame Eispickel, die heftig surrten. Drei Gestalten, die zu diesen Pickeln gehörten, standen unterkühlt und verdrossen in der Firnflanke und liessen sich missmutig vollgraupeln. Es blitzte und krachte pausenlos, und ausser einigen grauen hässlichen Gletscherbrüchen tief unten im « Loch » war nichts zu sehen. Für einige Augenblicke liess das Gewitter nach, und meine Mutter und ich eilten im Laufschritt hinter unserem Bergführer das letzte dem Gewitter ausgesetzte Gratstück hinunter. Erleichtert atmeten wir auf, als wir endlich in die relativ sicheren Hänge der « Gemsfreiheit » hinuntertauchen konnten. Dort begegneten wir fünf vergrämten Bergsteigern, die darüber berieten, ob sie wieder zurück in die nun sowieso schon abgekühlten Wolldecken oder hinauf ins Nebelgebräu steigen sollten. Ihr Ziel, der Piz Zupò ( der Versteckte ), machte seinem Namen alle Ehre und verhüllte sich in dicke schwarze Nebelschwaden. Aber damit schien er seine Anwärter gerade zu reizen, denn entschlossen stapften sie dem Grat entgegen. Wir drei machten uns auf den Weg nach Morteratsch und waren sehr enttäuscht darüber, dass unser vorgesehenes Rendez-vous ins Wasser gefallen war, hätten wir doch meinen Vater und seinen Führer, die ein Auge auf den Biancograt geworfen hatten, auf dem Gipfel des Piz Bernina treffen sollen!

Sechs Tage später, in der Diavolezzahütte:

Unser Morgenessen verlief eher schweigsam. Erstens verleitete uns die Tatsache, dass es erst zwei Stunden nach Mitternacht war, nicht gerade zu angeregter Unterhaltung, und zweitens bewahrten wir den Fortezzagrat in ausgesprochen übler Erinnerung. War es heute über- haupt schön? Unser Führer, welcher uns beim ersten Mal so sicher wieder aus dem Gewitter zurückgebracht hatte, kaute mit undurchdringlicher Miene sein Brot und liess uns zappeln. Endlich! Wir hielten den Atem an und schlichen voller Spannung in die Nacht hinaus. Nacht? Von Dunkelheit konnte nicht die Rede sein. Überwältigt staunten wir in die riesige Gletscherlandschaft hinüber, die vom hellen Mondlicht überflutet war. Wie ein Silber-schloss ragte der Palü mit seinen drei mächtigen Pfeilern in den sternenübersäten Himmel. Der Piz Cambrena leuchtete mit seiner runden Schneehaube zu uns herunter, und die vier Bellavistagipfel stachen zum Greifen nahe vom Himmel ab, während über den wilden Brüchen des « Buuchs » schweigsam und finster der Piz Bernina aufragte. Dort hinauf wollten wir heute! Es war so hell, dass uns das Schmunzeln unseres Führers nicht entgehen konnte. Wir machten uns auf den Weg. Der schattige Pfad hinter dem Piz Trovat bot uns einen Torkelgang über hinterhältige Blöcke; doch nach kurzer Zeit hatten wir « ausgekollert » und tauchten aus dem Dunkel wieder ins flutende Mondlicht auf dem Gletscher ein. Hier wurden wir von unserem Führer ans Seil genommen und wanderten schweigend los. Unser Weg führte um den Gletscherkessel unter den Pfeilern des Palüs durch. Der Schnee war pickelhart gefroren, und bald versuchten wir zwei Frauen, uns die Steigeisen einigermassen fachgerecht anzuschnallen. Geduldig wartete unser Bergführer das Ende dieser Prozedur ab, und sein Geduldsfaden riss nicht einmal, als ich im Hang zum Fortezzagrat hinauf kleinlaut die Bitte vorbrachte, die Steigeisen jetzt richtig befestigen zu dürfen. Bergführer haben es nicht immer leicht!

Etwas nach q Uhr betraten wir die Schneide des Fortezzagrates. Herrlich war es hier oben! Der Himmel im Osten hätte aus einem Seganti-nibild gestohlen sein können, und darunter reihte sich in unglaublicher Klarheit Bergspitze an Bergspitze. Überall leuchteten die höheren Schneegipfel in der ersten Morgensonne auf. Von « unserem » Grat, der sich aus dem Gletscherkessel erhebt und gegen den Bellavistasattel ansteigt, sahen wir hinunter in die wildzerklüfteten Brüche des « Buuchs ». Wie ein Faden schlängelte sich eine Spur zwischen den Schrunden des « Lochs » hindurch, und, von hier oben gesehen, schien es geradezu eine Unverschämtheit, dort hindurchzugehen.

Auch die Gipfel der Berninagruppe erstrahlten im Sonnenlicht; es kam uns entgegen, und nach einigen Schritten standen wir in der Sonne.Vor knapp zwei Stunden war es noch der Mond gewesen!

Gutgelaunt stiegen wir auf dem gefrorenen Firn höher, und schon bald näherten wir uns den Fortezzafelsen. Der vielsagende Blick, den uns unser Bergführer zuwarf, konnte einem gar nicht entgehen, war es doch genau an dieser Stelle gewesen, wo wir vor sechs Tagen von dem ungemütlichen Gewitter überrascht worden waren! Meine Mutter und ich hofften, uns damals nicht allzu ängstlich benommen zu haben, und freuten uns, dass es heute so viel schöner war.

Wir blickten hinüber zur Fuorcla Prievlusa, die zwischen dem steilen Felsgrat des Piz Prievlus und der wunderschönen Firnschneide des Biancogrates eingeschnitten ist. Zwei kleine Pünktchen bewegten sich von dem ersten Felsen des Biancogrates gegen den Beginn des Firngrates zu. Es sah fast unheimlich aus, wie sie über den wilden Abgründen, die zur Bovalseite hinunterstürzen, langsam aus der Flanke zur Gratschneide hinaufstiegen. Doch selbst mit dem Feldstecher konnten wir nicht erkennen, ob es mein Vater und sein Führer waren, die von der Tschiervahütte über den Bianco ebenfalls zum Berninagipfel aufsteigen wollten. « Los, wir wollen doch nicht zu spät zu unserem Rendez-vous kommen! » trieb unser Bergführer lachend zum Weitergehen an. Zügig kletterten wir mit ständig wachsender Freude durch die guten Felsen und später über den harten Firn weiter zur Bel- lavistaterrasse hinauf, die mit ihren überwältigenden Tief-, Nah- und Fernblicken ihrem Namen alle Ehre machte.

Wir begegneten den ersten Seilschaften. Sie hatten alle in der italienischen Marco-e-Rosa-Hütte übernachtet und wollten wahrscheinlich heute den Piz Palü überschreiten.

Von der Terrasse senkte sich der Hang hinunter zum Crast'-Agüzza-Sattel. Und der ganze Aufstieg zum Berninagipfel lag vor uns! Schon krabbelten einige Seilschaften von der Marco-e-Rosa-Hütte her den ersten, ziemlich steilen Firnhang, in dessen oberstem Teil es Eis zu haben schien, zum Grat hinauf. Einige Gestalten standen verloren umher und konnten sich mit ihrer glitschigen Unterlage gar nicht anfreunden; nur von Zeit zu Zeit machten sie einen hastigen Schritt, um sich gleich darauf wieder zu erholen. Ob man wohl genau dort hinauf musste? Ich hoffte es von ganzem Herzen nicht; aber einige Leute kletterten ja schon über die ersten Gratfelsen! Der weisse Saum des Spallagrates leuchtete verführerisch. Und da! Auf dem Gipfel bewegten sich zwei rote Punkte. Ob das schon unsere zwei waren?

« John Brown's Baby has a pimple an his nose! » Im Takt stapften wir zum Pfeifen unseres Führers den kalten, schattigen Hang hinunter und liessen uns von der Spur zwischen gewaltigen, gleissenden Eisbrüchen hindurchlot-sen. Hinter diesen riesigen Eiswülsten, die sich in bizarren Formen vom blauen, wolkenlosen Himmel abhoben, schoss der schwarze, spitzige Zahn der Crast'Agüzza aus dem Gletscher steil in die Höhe. Auf dem Grat des Piz Zupò kletterte bereits eine Seilschaft. Wir konnten ihre Zurufe hören. Die in grellen Farben angestrichene Marco-e-Rosa-Hütte stach wie eine Plakat-wand vom Plateau des Crast'-Agüzza-Sattels ab. Jenseits des Sattels tauchten die felsige rote Südwand des Piz Roseg und die Sellagruppe auf.

Bis jetzt war ja alles gut gegangen. Bei einem Halt warf unser Bergführer so ganz nebenbei hin, unsere beiden Männer seien sicher dem Gipfel schon bedenklich nahe. Damit erreichte er natürlich, was er wollte, nämlich dass wir zwei Minuten später voll des verwerflichsten Ehrgeizes den Hang hinaufstiegen.

Im Süden tauchten immer mehr Gipfel auf, und ich bekam immer weniger Atem. Die Viertausendergrenze rückte bedenklich näher, und ich gab mir insgeheim die grösste Mühe, möglichst geräuschlos nach Luft zu schnappen, da ich mich vor meiner Mutter genierte, die stillschweigend und ganz ohne zu keuchen bergan-stieg. Der Hang wurde immer steiler und länger, und schliesslich musste ich unseren Führer atemlos um eine Verschnaufpause bitten. Doch dann stiegen wir doch bald in den Gratfelsen, die von der Sonne bereits gewärmt waren, dem Gipfel zu. Aber o weh! Ein meiner Mutter und mir nur allzu bekannter Jauchzer ( er überschlägt sich immer in den höheren Tönen ) drang von dort oben zu uns herunter, und jemand stand in der uns ebenfalls nur zu vertrauten Feldstecherstellung dort und spähte ( sicher triumphierend ) zu uns hinüber. Wir trugen es mit Fassung und versuchten, möglichst würdevoll den letzten Teil des Spallagrates zum Gipfel hinter uns zu bringen. Es war ein herrliches Schreiten über das teilweise schmale Firngrätchen, und der Tiefblick in die schattige, wild zerrissene Flanke des Piz Scerscen war überwältigend. Vom Crast'-Agüzza-Sattel bis hieher waren wir der italienisch-schweizerischen Grenze gefolgt; jetzt machte sie eine scharfe Wendung nach links, um sich über Piz Scerscen, Piz Roseg und die Sellagruppe hinwegzu-ziehen. Der Berninagipfel ist also kein Grenzgipfel, sondern liegt ganz auf Schweizer Boden.

Genussvoll legten wir die letzten Meter zum Gipfel zurück - es war ein herrliches Gefühl, wie er Schritt für Schritt näher kam.

Ich gab mir Mühe, meinem Vater nicht mit einem allzu verdächtigen Gepuste zu begegnen; darum verlangsamten wir auch die letzten Schritte. Und hier waren wir, auf dem Piz Bernina! Ich empfand in diesem Moment ein Ge- fühl der Dankbarkeit und Zufriedenheit, wie es vielleicht nur in den Bergen möglich ist. Weit, weit unten lag die Diavolezza, und unsere ganze Aufstiegsroute konnten wir aus der Vogelperspektive betrachten. Aber bevor wir auch nur ein bisschen stolz werden konnten, sprangen mein Vater und sein Führer mit sichtlichem Schwung zu uns herauf, umarmten und beglückwünschten uns stürmisch, um nur so ganz nebenbei zu bemerken, dass sie schon 20 Minuten, also seit 8.40 Uhr, hier oben seien. Unvernünftige Gipfelstürmer!

Bei einem halben Liter Veltliner schwelgten wir, eingekuschelt in die warmen Gipfelfelsen, in unserer riesengrossen Freude, und wir staunten und staunten immer wieder über das unendliche Gipfelmeer und über die ungeheuren Tiefblicke, die einen unwillkürlich einen Schritt zurücktreten liessen, wenn man seine Nase zu weit vorstreckte. Mein Vater war überglücklich. Welcher Bergsteiger hätte keine Freude, wenn er mit 58 Jahren ohne übermässige Mühe in so kurzer Zeit über den Biancograt, den « schönsten Eisgrat der Westalpen », steigen dürfte! Meine Mutter eröffnete dem Vater, dass sie sich jetzt auch in Form fühle für den Bianco und dass sie ja wieder einmal ins Engadin kämen.

Aber mit unserem Führer hatten wir nicht gerechnet: « Schaut, der Palü, sieht er nicht prächtig aus? » Noch mehr sagte dabei der Blick, den er uns zuwarf. Und als wir dann alle den herrlichen Gipfel über den Spallagrat verliessen, liebäugelte meine Mutter immer wieder zum Palü hinüber. Dieser erstrahlte, und unser Führer lachte uns an.

Auf dem Spallagrat herrschte Hochbetrieb. Dass sich « die Bernina » nicht ärgerte! Rittlings kämpfte sich eine Seilschaft über die Firnschneide, alle guten Geister beschwörend, und in den Felsen beruhigte ein geduldiger Bergführer seine Klienten, die durchaus nicht mehr gut auf den wunderschönen Berg zu sprechen waren. Warum wollen solche Leute eigentlich immer unbedingt auf solche Berge?

Es war ziemlich warm geworden, und der Schnee bedeutend weicher, als wir im Crast'-Agüzza-Sattel ankamen. Die Hitze machte uns schweigsam, als wir wieder zur Bellavistaterrasse aufstiegen. Obwohl das Pärchen, dem wir dort oben begegneten, in Geldnöten steckte? Sie trug das rechte, er das linke Steigeisen. Ihre verbrannten Gesichter strahlten vor Zufriedenheit. Sie kamen vom Piz Palü.

Ja, ja... Die Spuren trennten sich. Die linke stach zum Fortezzagrat, unserem Aufstieg von heute morgen, und ins « Loch » hinunter, die rechte zog sich dem Hang nach zum Bellavistasattel zwischen Bellavista und Piz Palü hinüber. Mein Vater und sein Führer blinzelten durstig zur Bovalhütte hinunter und verabschiedeten sich mitleidig von uns, um dann ins « Loch » abzusteigen. Wer schuld war, dass wir drei eine Viertelstunde später im Bellavistasattel standen, weiss ich nicht mehr. Aber bereuen konnte es niemand. Beim Aufstieg über die trockenen Felsen des Spinagrates wussten wir wieder nicht, was schöner war: links der grausige Blick in die Nordflanke oder rechts die offene Sicht bis weit in den dunstigen Süden, wo sich riesige Wolkentürme bildeten. Sogar ein Gratbuch befand sich noch in den Felsen.

Die Beine wurden schwerer, das Steigen mühsamer, und im breiten Firnhang des Hauptgipfels beneidete ich unseren Bergführer, der so leicht und scheinbar mühelos zum Gipfel schlenderte. Aber auf dem Gipfel des Piz Palü vergass ich das wieder. Zum zweitenmal an diesem Tag durften wir es erleben, auf einem unvergesslichen Hochgebirgsgipfel zu stehen. Überall auf den Gletschern bewegten sich Seilschaften wie kleine schwarze Gletscherflöhe. Die meisten waren im Abstieg begriffen. Auf der Diavolezza wimmelte es von Leuten, man konnte das Summen der Luftseilbahn bis hier herauf hören. Wie schön war es da oben! Ein Sportflugzeug überflog den Gipfel; die Insassen winkten uns zu, und wir winkten lachend zurück.

Nach einem schmalen Gratübergang zum Ostgipfel ging es nun endgültig hinunter. Vorsichtig pirschten wir uns an den berüchtigten Wächten vorbei. Nach einem letzten steilen Hang nahm uns nun der « Pflutsch » in Beschlag. Wir torkelten schlecht und recht den Hang hinunter, was sicher nicht mehr auf den Veltliner zurückzuführen war. In den Cambre-nabrüchen galt es noch einmal sich zwischen riesigen Wächten, Eiszapfen und Spalten hin-durchzumogeln. Und dann hatten wir unsere Rundreise abgeschlossen. Wir kamen an die Stelle, wo wir vor etwa zwölf Stunden gegen den Fortezzagrat gezogen waren. Um jene Zeit waren wir unruhig, gespannt und voller Unternehmungslust gewesen. Jetzt hatten wir einen herrlichen Tag hinter uns und waren rechtschaffen müde und voller Zufriedenheit und... Aber wie könnte es bei diesen Menschen anders sein; immer denken sie ans selbe: Tee, Bier, Wein...

Der Auftakt des Morgens, der Piz Trovat, bildete auch den Abschluss der grossartigen Tour. Dann taten das ( zu ) grosse Bier und die Sonne auf der Diavolezza das Ihre. Wunschlos glücklich und müde ( böse Zungen sagen dem auch anders ) dösten wir auf den warmen Holzbänken der Diavolezza im Anblick der Berge...

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