Rund um den Monte Rosa
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Rund um den Monte Rosa

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Aus einem Bericht einer Ferienwanderung im Regensommer 1939.

Mit 3 Bildern.Von Andreas Winterberger

( Thun, Sektion Blümlisalp ).

Eigentlich ist es unklug, eine Ferienwanderung mit der Bahnfahrt von Thun nach Zermatt zu beginnen, bietet doch der Blick von dem Eisenbahnwagen aus so viel Schönes, Grosses, aber auch viele kleine reizende Einzelheiten an Landschaftsbildern, so dass man eine Steigerung kaum mehr erwarten darf. Die Stimmung wird auf der Strecke Zermatt-Roter Boden eine fast feierliche, wenn die grössten Berggestalten, mit denen die Namen der Führer und Herren aus der klassischen Bergsteigerzeit für immer verbunden sind, immer mehr emporwachsen. Auf der vierstündigen Wanderung über Gorner- und Theodulgletscher zum Theodulpass und dem Rifugio Albergo di Piemonte, 3322 m, wechselt das Landschaftsbild im Sonnenschein, im Nebeltreiben, im leichten Schneeriesel und im Schatten des schweren, aus dem Süden ziehenden Wolkengewoges. An das stille Zeichen des Friedens, an den Regenbogen über dem Gornergletscher werden wir uns noch lange und gerne erinnern. In der stark besetzten Hütte überwiegen die italienischen Touristen und Soldaten, und im Vorraum nehmen neben den vielen Pickeln die Skis und Skistöcke den breitesten Raum ein. In der Nacht braust ein Sturmwind um die Hütte auf dem Grat, und ein Hagelschauer prasselt auf das Blechdach.

1. August.

Bei klarstem Sternenhimmel beginnen wir mit schweren Säcken den Aufstieg auf das Breithorn, 4171 m, auf der gewöhnlichen Route einer der leichtesten Viertausender der Alpen, bekannt als Skiberg, umlärmt, seit von Breuil auf Punkt 3500, Testa Grigia, eine Luftseilbahn führt. Im Westen erblasst langsam der Mond, als die ersten Anzeichen des werdenden Tages am Weisshoin, an der Dent Blanche und am Matterhorn sichtbar werden. Oft wenden wir uns westwärts, wo immer wieder neue Berggestalten in den Grajischen Alpen an unsere letztjährige Westalpenfahrt erinnern. Bei sehr guten Schneeverhältnissen erreichen wir den Gipfel und suchen vor dem kalten Südwind auf der Zermatter Seite Schutz. Uns alle packt die Aussicht auf die Zwillinge, den stolzen Lyskamm und auf die Viertausender des Monte-Rosa-Stockes. Ein überaus strahlendes Bild in Silberweiss, ein Leuchten und Glänzen! Über die vielen farbenfrohen Täler gegen Italien schweift der Blick südwärts, und wir grüssen den aus dem Wolkengewoge ragenden Monte Viso, « in vornehmer Einsamkeit, der eleganteste aller Berge », wie Charles Simon so treffend sagt. Zwischen Paradiso und der kühnen Grivola erblicken wir die Gipfel der Levannagruppe, und Erinnerungen tauchen auf an das stille ruhige Bergland von Savoyen und an die wilden Gräte des Dauphiné. Im Programm hatten wir vorgesehen, vom Breithornplateau über Passo Ventina Nord direkt gegen Colle delle Cime Bianche abzusteigen, aber Pass-formalitäten zwingen uns, zu dem Grenzposten bei der Luftseilbahnstation Die Alpen — 1942 — Les Alpes.24 zurückzukehren, doch niemand empfindet den Umweg als Zwang bei dem Anblick des Matterhorns, dem der beste italienische Bergschriftsteller, Guido Rey, seine ganze Liebe geschenkt hat.

Wir steigen über den Val-Tournanche-Gletscher und folgen längere Zeit der markierten Skiabfahrtsstrecke gegen Breuil. Die gezackten Les Jumeaux, Les Murailles, die schwarze, abweisende Seite der Dent d' Hérens, Tête de Lion, Furggrat und italienischer Grat des Matterhorns über dem weiten obersten Talkessel von Val Tournanche vereinigen alles, was wir unter einem grossen Landschaftsbild verstehen. Während der Hauptharst nach dem Verlassen des Gletschers über Geröll und Schneefelder zum Colle delle Cime Bianche, 2980 m, wandert, folgen einige Kameraden dem Rücken links des Weges und bewundern den tiefblauen Gran Lago. Am Lago Perso, bei den ersten grünen Schafweiden, finden wir uns wieder zusammen, und gegenüber dem formen- und farbenreichen Bec Carré halten wir lange Rast, um dann gruppenweise oder einzeln dem in der Karte als guten Maultierpfad eingezeichneten Weg durch die Vallone di Gartoz nach Fiéry zu folgen. Man hüte sich, sich zu sehr auf Angaben der italienischen Karten zu verlassen, denn Alpwege, die auf unserer Karte nur als hie und da verschwindende Wegspur eingezeichnet sind, gelten hier als Maultierweg und heissen Strada. Man verlasse sich auch mehr auf eigene Abschätzung der Wegstrecken als auf die Angaben der Sennen und Grenzwächter. Interessante Talstufen, viele seltene Bergblumen, die wilden Gräte zur Rechten, der stolze Gran Turnalin und die glänzenden Hängegletscher des Breithorns machen die lange Wanderung mit dem schweren Sack äusserst kurzweilig und leicht. Wer wird je den reizenden Tiefblick von den Felsen über der Alp Ventina vergessen, und wer möchte nicht noch einmal durch die grossen Lärchenwälder und die Alpenrosenfelder über Fiéry streifen? Im Berghotel Bella Vista begrüssen uns die vorausgeeilten Freunde, und wir finden nach einiger Zeit ein mehr oder weniger einfaches Zimmer. Die übliche gute italienische Küche macht dem bärtigen Gastwirt alle Ehre. Nach dem Sprichwort: « Man muss die Feste feiern, wie sie fallen », feiern wir den Geburtstag zweier Klubkameraden mit feurigem Weine des Südens, und unserer Heimat gedenken wir still in der warmen Sommernacht: Im Mondenschein erglänzen Castor, Pollux, Lyskamm-Westgipfel und Verragletscher über dem dunkeln Bergwald, und die vielen rauschenden Bergbäche singen das ewige Lied vom Kreislauf aller Dinge.

2. August.

Der Übergang über Colle Bettaforca, 2676 m, ( Bettiner-Furka ) nach Gressoney la Trinité war im Tourenprogramm als Rasttag gedacht, und in der Erinnerung erscheint uns dieser Mittwoch als ein Sonntag hell und klar. Ein kräftiges Maultier trägt für die sechs ältesten Kameraden die Rucksäcke, und für den siebenten Mann schleppt der wackere Treiber den schwersten Sack am Rücken. Alles, was die Jüngeren wirklich beschwert, wie Steigeisen und Seil, steckt in den prallgefüllten Säcken der Senioren, und so ergibt sich von selbst ein beschwingtes Wandern durch prächtigen, lichten Lärchenwald voller Blumen und Düfte hinauf nach dem aussichtsreichen Alpdörfchen Resy. Ob dem Albergo des C. I. A. halten wir erste Rast, um den Photographen Zeit zu lassen, die Walliserspeicher zu photographieren. Wir schauen hinaus bis zu dem Kurort Champoluc, der im obersten Talgrund des waldreichen Val d' Ayas liegt. Hatten uns Mai und Juni die Florabummel in unsere heimatlichen Berge verregnet, so beschert uns hier der späte Sommer all das, was wir im Jahre leider nur einmal sehen: Alle unsere lieben Bergblumen, oft in seltenen Exemplaren, die bei uns nicht vorkommen. Es bleibt für den Wanderer immer das grösste Wunder, wie die Blumen im magersten Boden, in den winzigsten Gesteinsritzen ihre Nahrung finden, und wie diese zarten Kinder aus dem gleichen kargen Bergboden die so verschiedenen Farben, diesen Schmelz schaffen können. Wie wir durch das Läger vor der Alpe Forca wandern, hören wir die Glocken und die Treicheln einer ziehenden Herde. Hinter einer kleinen Bodenwelle liegt ein reizendes, stilles Bergseelein, das die dahinterliegende graue Geröllhalde klar spiegelt, so dass sie wirklich zur sagenhaften, überhängenden Geröllhalde wird. Und zwischen Seelein und grünem Läger zieht die Herde talaus an den nächsten Hang. Der Senne trägt schmutzstarrende Kleider und erklärt uns, er mache Fettkäse und könne uns keine Milch geben... An manchen grauen Wintertagen sind wir auf der Karte mit der Lupe den Aufstieg zur Bettaforca gefolgt und haben wTohl gewusst, dass sich hier bei der Passlücke ein Tor zu einer Wunderwelt auftun werde. Alle unsere Träume und Erwartungen werden aber von der Wirklichkeit übertroffen. Fragst du mich, wo das strahlendste Bild in den Alpen zu suchen sei, ich würde dir sagen: Lyskamm, Lysgletscher und Monte Rosa von der Bettaforca! Lys = Lilie heisst der Berg und heisst das grosse Tal, einst soll der Lyskamm den Namen Silberbast getragen haben— treffender erscheint uns bei all dem Licht und Glanz kein Bergname zu sein. Wir alle möchten wohl gerne noch einmal dort oben weilen und still hinabwandern über Alpe Sitter, hinaus auf die Kante zu der Kapelle St. Anna, 2170 m. Vielleicht erlaubt uns ein gütiges Geschick, einmal nach Jahren hinüber zu den Valsern im Val de Lys zu gehen und hinaufzusteigen — eine Wallfahrt würde es bedeuten für jeden, der die Liebe zu den Bergen in sich trägt.

Auf der Alpe Sitter haben wir unseren Spass an den praktischen Dung-methoden der Sennen. Sie treiben das Vieh am Abend in einen Färrich, der von starken Netzen umschlossen ist. Am andern Tag werden die Pfähle und das Netz verschoben — und die Düngung des Lägers besorgt so das liebe Vieh.

Einem einzigen der grossen Seitentäler des Val d' Aosta wollten wir bis an die Dora Baltea folgen, und nur sehr ungern wandern wir die letzte Stufe durch Wald und Weiden zwischen Granitfelsen mit prächtigen, weiss-doldigen Steinbrechblüten nach Biel. Auf dem Wege nach Orsia treffen wir eine schlanke Tochter in der reizenden Landestracht. Der Senior spinnt mit ihr ein Gespräch an und wandert mit ihr den schmalen Bsetziweg hinaus, den Oberkörper in typischer Stellung leicht zur Begleiterin geneigt. Der Berichterstatter freut sich an dem schönen Farbenbild: Wie leuchtet das warme Rot des Rockes an jeder Wegbiegung wieder auf, wie passt sie so gut, diese Farbe des Lebens und der Liebe zum schwarzen goldbortierten Mieder und dem kunstvoll geknoteten roten Kopftuch. Was mag der an Herz und Sinnen so jung gebliebene Senior der Schwester aus der Sprachinsel alles erzählen? Und während mein Wanderkamerad zur Rechten sich grämt und klagt: « Ich habe sie angesprochen, und jetzt geht er mit ihr, der Cheib », suche ich nach einem Reim für Sonne, Jugend und Wandern, und ich wehre mich gegen Hesses Lied:

Vor mir hergetrieben weht ein welkes Blatt. Wandern, Jungsein und Lieben, Seine Zeit und sein Ende hat.

Doch, was sie sprachen, die zwei, das vernahmen wir später. Für das Grüssgott unseres Wandergesellen hat sie, eine wackere Österreicherin, die ihre Heimat verloren, unserem Senior gedankt. Von dem Kurort Gressoney la Trinité folgen die Nachzügler den Tricounispuren der Vorhut auf der Asphaltstrasse zu dem in stillem Bergwalde gelegenen Hotel Miravalle.

Es ist urkundlich nachgewiesen, dass der Bischof von Sitten im 13. Jahrhundert eine Schar Lötschentaler zur Auswanderung über den Theodulpass nach dem Val d' Ayas veranlasst hat. Der Theodul war bis ins 15. Jahrhundert nicht vergletschert und konnte mit Viehherden überschritten werden. Vom Val d' Ayas drangen die deutschen Siedler über die Forca in das Val de Lys nach Gressoney la Trinité. Nach der Sage soll der Name von Kressen-Aue kommen. Die Talbewohner nennen Gressoney la Trinité Oberteil und Gressoney St-Jacques, den Talhauptort, Unterteil. Bis Issime, deutsch Eischimes, drangen die Walliser vor, und vom Haupttale von der Dora Baltea aus kamen die italienischen und französischen Pioniere. Wir treffen im Val de Lys unsere drei Hauptlandessprachen, und schon von weitem kann man nach der Bauart der Häuser auf die Sprache der Bewohner schliessen.

Wir fahren nachmittags in zwei Autos talab. Die 34 km lange Strecke sollte man eigentlich zu Fuss durchwandern, um alle die reizenden Einzelheiten in Dörfern, die kühnen Schwibbogenbrücken — namentlich in Ponte Trenta —, den Wechsel in der Vegetation vom Bergwald bis zur Kastanie und Rebe, vom kärglichsten Gemüsebau zum fruchtbaren, üppigen Gemüsegarten mit allen südlichen Pflanzen zu betrachten und um zu verweilen und mit den freundlichen Leuten zu sprechen. Bis in das Haupttal fesselt uns der wilde Lysbach mit seinen Kesseln, Wasserfällen, Schluchten und den riesigen, glattpolierten Granitblöcken. Gar zu gerne stiegen wir die schmalen Zickzackweglein zu einem der reizenden, an steilen Hängen klebenden Bergnester hinauf, wo stolze Campanile aus Kastanienhainen weit in das grosse Tal hinausschauen, und gar Wunder nähme es uns, in welche Seitentäler und Bergwälder die vielen grossen Luftseilbahnen führen. In weiten Kehren senkt sich die Strasse nach Ponte San Martino, das am Ausgang des Val de Lys an der Dora Baltea an der Autostrasse nach Aosta liegt. Nach kurzem Aufenthalt, den einige Kameraden zu einem Bummel durch alte Gassen und über die zweitausendjährige Römerbrücke benützen, während die meisten unter einer Pergola stilwidrig Bier trinken, geht es leider wieder in viel zu rascher Fahrt talauf. Wir suchen in uns alles aufzunehmen, was wir auf der Fahrt ins Tal nicht sehen konnten. In Issime besuchen wir die Kirche mit den schönen Fresken, die ein Walser, Kurta, gemalt hat, und betrachten den Richterstuhl am Rathaus. Der stolze Lyskamm schaut mit seinen Silber- gletschern weit ins Tal hinaus, was Wunder, dass das romantische und liebliche Lystal zum Lieblingsaufenthalt der Königin Margherita geworden ist. Als wackere Bergsteigerin hat sie die ihr geweihte Capanna Margherita auf Punta Gnifetti besucht, und die Freunde der alten Trachten sind ihr dankbar für die Erhaltung der farbenfrohen Gressoneyer Tracht.

Bei unserer Rückfahrt nach Mira valle sputen sich die Bauern mit Heuen, und von manchen Hängen leuchten die roten Röcke der Bäuerinnen. Gegen Abend treiben Wolken über die Gräte, und über den Lysgletscher f egt ein Gewittersturm.

3. August.

Um 5 Uhr wandern wir in der Morgenfrische gegen Gressoney la Trinité, wo uns unser Führer, ein schlanker, grosser, gebräunter, sehr sympathischer Bergler, erwartet. Er könnte ein Lötscher oder Gomser sein, und seine Sprache gleicht derjenigen der Walliser. Zwei Maultiere folgen uns mit unseren schweren Rucksäcken und vier Weintrageli für die Capanna Gnifetti. Die verschiedenen Weiler und Gehöfte liegen so schön am sonnigen Berghang, und man könnte lange verweilen, um die Häuser mit den grossen Lauben, die Scheunen mit den Wittri, die Walliserspeicher näher zu betrachten. Neben jedem Haus steht der Brunnenschärm, gleich wie bei unseren Bergheimetli im Oberland, ein Zeichen, dass es hier schneereiche Winter gibt. Der Aufstieg gleicht einem schönen Spaziergang durch blumiges Berggras, durch Vorsasslandschaft, durch die untersten Alpweiden mit reizenden Lärchenbeständen und Alpenrosenfeldern. Uns fällt das tiefdunkle Rot der Alpenrosen auf ( Studeblueme nennt sie unser Führer ). Er plaudert uns von den Lebens- und Arbeitsverhält-nissen im Tale, von Tabak, den 50 Gemsen und den 150 Jägern, von der Sprache, von Sitten und Gebräuchen. Seit sechs Jahren wird in der Schule von Gressoney la Trinité nur mehr italienisch unterrichtet, aber daheim spricht man deutsch wie früher, und um der Sprache willen werde niemand verfolgt. Es scheint, dass man diese Sprachinseln in Ruhe lasse, Rassen-fragen spielen hier keine Rolle, und es ist gut so, denn diese Bergler halten ihrer italienischen Heimat die Treue. Jahrhundertelang haben die Walliser, die über die Gräte herübergekommen sind und die obersten Talgebiete von Ayas, Lys, Sesia, Rima und Macugnaga besiedelten, ihre Sprache und ihre volkstümlichen Eigenarten bewahrt. In manchen Tälern dringt das italienische Element vor. Die Jungen wandern aus und suchen ihr Brot in der Fremde, manche obersten Weiler entvölkern sich wie bei uns, leerstehende Häuser und verfallene Scheunen und Sennhütten bekunden es. Wir könnten vielleicht die Verhältnisse mit dem Vordringen der französischen Sprache im Mittelwallis und am Jaunpass vergleichen.

In einem gut geführten heimeligen Wirtshäuschen auf Alp Gabiet, 2358 m, lassen wir uns Zeit zu einem zweiten Frühstück. Und dann geht unser baumlanger Führer mit uns im richtigen ruhigen Bergschritt weiter, und nach einer zweiten längeren Rast nehmen wir bei den Ruinen des Rifugio Linti auf einer Höhe von 3047 m die Rucksäcke auf, um nach 2%stündiger Wanderung über den Garsteletgletscher, 10 Stunden nach unserem Abmarsch in Miravalle, unser Tagesziel, die Capanna Gnifetti, 3647 m, zu erreichen. Wenn wir auf unser Bergsteigerleben zurückschauen, so taucht aus der Er- innerung mancher Hüttenanstieg auf, zu den längsten, aber schönsten, aussichtsreichsten, kurzweiligsten, aber auch lieblichsten gehört der Gang vom Val de Lys nach der hochgelegenen Gnifettihütte. Die Aussicht von der Gnifettihütte gehört neben derjenigen der Sellahütte unter dem Felikjoch nach dem Urteil erfahrener Bergkameraden zu den schönsten der ganzen Alpen: Zu Füssen liegen unterhalb der Gletscher die grossen Seitentäler des Val d' Aosta mit den grünen Weiden, den dunkeln Wäldern, den grossen Talböden und den gezackten Seitengräten, und darüber geht der Blick hinaus über die Grajischen Alpen zu den Westalpen und über die weite Lombardei zu den Apenninen. Punta Tresiva und Mont Aemilius, die grössten östlichsten Gipfel der Paradisogruppe, locken für neue Fahrten und neue Pläne. Wir werden in der geräumigen Hütte von dem sympathischen Hüttenwart, auch er ist Walser, freundlich empfangen und finden in den anwesenden Bergsteigern gute Freunde.

4. August.

Dieser Tag sollte für uns ältere Wanderer zu einem Höhepunkt unseres Bergsteigerlebens werden, bedeutet doch die Wanderung über die Viertausender des Monte Rosa das Schönste, was man in alpiner Hinsicht sehen kann. Aber: da der Wecker rasselt, da wir uns zu froher, stolzer Fahrt rüsten wollen, da umbraust ein Schneesturm unser hochgelegenes Bergheim, und bei Tagesanbruch schauen wir in die noch dunklen Täler, in die daherreitenden, grauen, brodelnden Wolkenmassen, auf die Neuschneedecke, die bis zu den obersten Schafweiden reicht, und in wirbelnden Schneestaub auf dem Garsteletgletscher. Wohl sagt unser Führer, dass wir noch im Nachmittag zu der Capanna Margherita aufsteigen können, doch alle Wetterzeichen sprechen dagegen, und unsere Höhenbarometer verkünden einen grossen Wettersturz — aber das Verzichten auf unsere Bergfahrten ist bitterer als je. Wir seilen uns in der Hütte an, und vermummt wie mitten im kältesten Winter gehen wir hinaus in den Schneesturm, der uns oft fast aus den Tritten wirft und mit stechenden Schneewirbeln wie mit Peitschenhieben in das Gesicht haut. Fort, abwärts, rascher, dort um den Grat in den Windschatten!

Doch siehe: Die Sonne bricht durch das wilde Gewölk, der Lyskamm schaut durch eine Lücke und zeigt eine waagrechte Sturmfahne von einer Länge von Hunderten von Metern. Höhnend, in hohen Tönen, jauchzt der Sturmwind in den Lüften, während der tiefe Bodenwind donnernd und grollend um die Kante braust, die sich von der Vincentpyramide herunterzieht. Über den Indrengletscher erreichen wir den Colle delle Pisser, 3161 m, entledigen uns dort, weil wir aus der Sturmzone heraus sind, der schützenden Hüllen und steigen über den verzuckerten Stolemberg zum Colle delle Salati, 3038 m. Hier verlässt uns Arnold Wolf, um über Colle d' Olen und Gabiet nach Hause zurückzukehren. Wir sagen dem lieben Freunde auf Wiedersehen und steigen über wüstes Geröll und Lawinenreste hinab in den obersten Kessel des Valle delle Pisser. Noch lange sehen wir die hochragende Gestalt im Hohlicht — dann verschwindet sie, als wir wohlgeborgen die obersten, mageren Schafweiden erreichen. Im milden Sonnenlicht rasten wir am Ausgang des wilden Kessels am rauschenden, klaren Bergbach, und wie zum Hohn schauen durch Nebellöcher hie und da die Ausläufer der Vincent- pyramide und der Punta Giordani. An den Ruinen der Goldminen vorbei steigen wir talab, oft die verschwindende Wegspur suchend, vorbei am donnernden Pisserfall, hinunter in den Talboden der Alpe Bors, wo der Hauptharst bei den freundlichen Sennen und Sennerinnen Labung und allerlei Kurzweil findet, während drei Kameraden in der elenden Steinhütte von La Balma mit den zwei Freunden, die einen vergessenen Apparat holen gingen, einen schweren Gewitterregen à 1a Pisser vorübergehen lassen und unter Gesang, Spass und viel Galgenhumor ein trauffreies Plätzchen suchen. Zwischen schwarzen Gräten, über Alpweiden und schwarzen Schieferbördern sehen wir unser nächstes Tagesziel, den Col del Turlo — das Türli, das sich uns für Macugnaga öffnen soll.

Nach unserem Programm wollten wir auf einer der schönen Alpen im gewaltigen Sesiakessel übernachten, und wir hätten nach Kartenbild und Photos mit dem reizvollsten Erlebnis unserer Wanderung gerechnet. Der späte Frühling, der Regensommer haben zu späten Alpfahrten geführt, und auf keiner der vielen Alpen mit den deutschen Namen ist Heu und Platz für ein Nachtlager für uns. Wie oft haben wir von dem Hüttenabend im Sesiakessel geträumt! Im Mondenschein werden die vielen silbernen Hängegletscher der Monte-Rosa-Südwand aufleuchten, die Viertausender des Monte-Rosa-Stockes werden sich vom Sternenhimmel abheben, das Licht der Capanna Margherita auf der Punta Gnifetti wird sichtbar sein, und in das Rauschen der vielen Gletscherbäche werden die Herdenglocken tönen — und bis spät in alle Nacht hinein werden wir schauen — und nun müssen wir hinauswandern den weiten Weg bis Alagna. Die donnernden, milchig schäumenden Bergbäche, der überaus reizvolle Abstieg, die grossen Lärchenwälder, die blühenden Alpenrosenfelder, die grünen Weiden, die sich bis an die steilen Moränen der Hängegletscher ziehen, und hie und da hoch oben in den Wolken ein Stück Grat, Parrotspitze und Punta Gnifetti mit wirbelnden Schneefahnen, sie zeigen uns nur, wie gross, wie einzigartig das Gesamtbild hätte sein können. Bei der verlassenen, mit Stachelraht umgebenen Goldmine von Kreas treffen wir das erste Auto. Goldträume der Menschen, verlorene Aktien — wenig ist übrig geblieben —, an der Fabrikfront noch einige ganze Fensterscheiben für Zielübungen temperamentvoller Bergbuben. Im Hotel Des Alpes finden wir im ersten Stock vornehmes Quartier mit allen modernen Bequemlichkeiten — ein Zeichen schlechter Saison. Als Optimisten geben wir wenig auf alle Schlechtwetterzeichen, auf den tiefen Barometerstand: Colle del Turlo heisst die Parole!

5. August.

So zäh haben wir wohl noch nie gegen den Abbruch einer Bergfahrt angekämpft wie in den Vormittagsstunden in Alagna, dem berühmten Bergsteigerort mit den grossen Granitblöcken. Gegen 11 Uhr fahren wir in zwei Autos eingepfercht, mit den schweren Rucksäcken auf den Knien, das romantische Sesiatal abwärts. Wolkenbruch um Wolkenbruch rauscht das Tal herauf, das ist nicht mehr Regen, das strömt und brätscht — in Thun wären längst alle Unterführungen und Kellerräume überschwemmt. Wo Brücken fehlen und sich die Strasse langsam in das Bachbett der vielen Seitenbäche senkt, staut sich das Wasser neben dem Auto und spritzt viele Meter hoch auf. Aus dem Rimatal braust die « hochgetürmte Rimaflut, wie bist Du so trüb ». Aber wir haben nicht Zeit, Brahms ungarische Tänze zu singen und schätzen uns sehr glücklich, dass wir nicht zwischen den Dörfern zwischen zwei Wildbächen gefangen werden.

Müde gerüttelt, wie durchgeprügelt, zum Teil noch durchnässt, verlassen wir im interessanten Städtchen Varallo die Marterkasten, und ein Blauer Pfeil führt uns der trüben, wilden Sesia entlang, vorbei an zerhackten und verwüsteten Maisfeldern, überschwemmten Äckern und Wiesen, an umgerissenen Obstbäumen zum Bahnkreuzungspunkt Romagnano an der Turiner Linie. Im Bahnhofbuffet zeigt uns der freundliche Wirt zum letztenmal, was italienische Küche kann und was der fruchtbare Lombardeiboden alles hervorbringt. Neue Gewitter donnern aus dem Flachlande heran — es wird Nacht, und um 13 Uhr werden die Lichter angezündet, und wieder verwüstet ein Sturmwind die grossen Kulturen. Im Schnellzug sind sämtliche Plätze besetzt — wir finden im Güterwagen Platz und schauen durch die vergitterten Fenster in das zerstörte Land. In Arona, am Lago Maggiore, werden viele Reisende unter lautem Gerede und Gestikulationen aus dem Zuge komplimentiert, und wir finden in einem schönen Lötschbergwagen im II.Klass-Abteil bequemen Platz. Der Zug fährt rückwärts und folgt von Borgomanero der Ortaroute. Erinnerungen tauchen auf an die so schönen Schilderungen dieser Gegend von J. V. Widmann in « Spaziergänge in den Alpen ». Doch heute ist der See trübe, und laute Donnerschläge hallen über die liebliche Landschaft, und wilde Wassermassen verwüsten Pflanzungen und die vielen prächtigen Parkanlagen. Die Zerstörungen erreichen ihren Höhepunkt im Flussgebiet der Toce, das ganze Tal ist überschwemmt, und in den Obstgärten reicht das Wasser bis zu den ersten Ästen. Von allen Gräben und Tälchen, durch alle Buschwälder und Weiden rauscht und poltern trübe Wassermassen. Bei Vogagno grüssen wir die schmutzigen Wogen der wilden Anza, die aus dem Kessel von Macugnaga kommt. Wie wäre es uns wohl am Turlo ergangen? Nach dem üblichen langen Halt in Domo fahren wir endlich langsam dem Simplon zu, immer in strömendem Regen, immer durch die Schrecken der Verwüstungen. Wir verstehen mehr als je die Angst und den Aberglauben der Völker vor den Schrecken des Gebirges, wenn wir die donnernden, schmutzigen Wogen der Wildbäche, Verderben und Zerstörung bringend, aus den Bergtälern hervorbrechen sehen. Gespannt reissen wir nach dem Simplontunnel die Fenster auf: « Trostloses Regenwetter, hochgehende Rhone » heisst auch hier die Losung. Und als uns auch in Kandersteg die Heimat mit Gewittern empfängt, fangen einige Kameraden den Rückzug von Romagnano an zu preisen, und die Lieben in Thun begrüssen uns, da wir mit zweistündiger Verspätung eintreffen, mit den üblichen Worten nach abgebrochenen Fahrten: « Gottlob sit ihr da! » In der Nacht zum Sonntag fällt der Neuschnee bis fast in die obersten Bergweiden, und von allen Seiten kommen Hiobsbotschaften von Überschwemmungen, namentlich vom Südfusse der Alpen.

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