Schweizer Höhenforschung in den bolivianischen Anden. Leben mit dauerndem Sauerstoffmangel
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Schweizer Höhenforschung in den bolivianischen Anden. Leben mit dauerndem Sauerstoffmangel

Sicherheit, Medizin, Rettungswesen

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Leben mit dauerndem Sauerstoffmangel

Schweizer Höhenforschung in den bolivianischen Anden

Studien von Schweizer Höhenfor-schern haben gezeigt, dass vorübergehender Sauerstoffmangel nach der Geburt einen bleibenden Schaden hinterlässt und für krankhafte Reaktionen im Erwachsenenalter prädis-poniert. Diese Studien wurden von der Capanna Margherita ins bolivianische Hochland transferiert, in den Alltag von Millionen von Menschen, die dauernd mit Sauerstoffmangel leben.

Grosse Höhen bilden ein interessantes natürliches « Laboratorium » für die medizinische Forschung. Die ersten, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts der Höhenforschung annahmen, waren Physiologen, die sich für die Anpassungen des Atem- und Kreislaufsystems an den Sauerstoffmangel interessierten. Mit dem Aufkommen des Massentourismus in den Bergregionen der Welt haben Ärzte, die selber Bergsteiger sind, begonnen, neue Behandlungen höhenbedingter Krankheiten zu erproben. Alpinisten, die an solchen Studien mitmachen, leisten nicht nur einen Beitrag zum besseren Verständnis der Höhenkrankheiten, sie helfen auch mit, neue Erkenntnisse für die Behandlung von Krankheiten im Tiefland zu gewinnen. Eine von uns kürzlich in der Capanna Regina Margherita, 4559 m, durchgeführte Studie soll dies veranschaulichen.

Nachgeburtlicher Sauerstoffmangel Bei der Geburt erfordert die Umstellung vom Gasaustausch über die Plazenta zum Gasaustausch über die Lungen dramatische Änderungen in den Lungen-blutgefässen, die während dieser Zeit besonders anfällig für schädliche Einflüsse sind. Versuche haben gezeigt, dass bei Ratten ein vorübergehender Sauerstoffmangel während der ersten Lebenstage zu einer bleibenden Schädigung der Lungenblutgefässe führt. Die erwachsenen Tiere sind bei erneutem Sauerstoffmangel für eine krankhafte Verengung der Lungenblutgefässe prädisponiert. Um festzustellen, ob beim Menschen eine ähnliche Veranlagung vorliegt, verglichen wir in der Margheritahütte die Lungenarteriendruckwerte von jungen Erwachsenen, die nach der Geburt vorübergehend an Sauerstoffmangel litten, und solchen, die ihre ersten Lebenstage komplikationslos erlebten. Bei jenen Probanden, die unter frühkindlichem Sauerstoffmangel gelitten hatten, war der Anstieg des Blutdrucks in den Lun-genarterien signifikant grösser als in der Vergleichsgruppe. Die Bedeutung dieser Studie geht weit über das Fachgebiet der Höhenmedizin hinaus, zeigt sie doch, dass ein vorübergehender Sauerstoffmangel nach der Geburt einen bleibenden Schaden hinterlässt, der im Erwachsenenalter zu einer krankhaften Reaktion prädisponieren kann. Bolivien – Sauerstoffmangel alltäglich Forschungslaboratorien, wie die sozusagen vor der Schweizer Haustüre liegende Margheritahütte, eignen sich zum Studium der akuten Anpassung des menschlichen Organismus an grosse Höhen und der damit verbundenen Krankheiten. Ebenso bedeutsam ist die Langzeit-anpassung des menschlichen Organismus an das Leben in grosser Höhe und den damit verbundenen Sauerstoffmangel, gibt es doch auch im Tiefland meh-

Materialtransport zur Margheritahütte im Monte-Rosa-Massiv. Die Untersuchungen erfordern den An- und späteren Abtransport von jeweils mehreren Tonnen medizinischer Geräte und Material.

Die Millionenstadt La Paz hat sich auch an steilsten Talhängen ausgedehnt. Schwere Unwetter fordern immer wieder Todesopfer, wenn sich hier Schlamm-und Wassermassen lösen und auf ihrem Weg in die Tiefe Behausungen und Bewohner mitreissen und unter sich begraben.

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Gille s W eb er ,CE MC AC DIE ALPEN 6/2004

rere bedeutsame Krankheiten, die dieselben Symptome aufweisen. Die Durchführung solcher Studien bedeutet für den in der Schweiz tätigen Forscher den zeitweiligen Aufenthalt in fernen Regionen. Unsere Gruppe entschied sich für das Hochplateau der Anden. In der Umgebung der bolivianischen Hauptstadt La Paz leben Millionen von Menschen dauernd auf Höhen zwischen 3500 und 4500 m. Zusammen mit dem Instituto Boliviano de Biologia de Altura in La Paz haben wir im Verlaufe der letzten Jahre mehrere Studien in die Wege geleitet. Dabei haben wir bewusst den technologischen Einsatz auf Mittel beschränkt, die auch für Drittweltländer zugänglich sind.

« edema pulmonar de re-entrada » Einzelne Hochlandbewohner leiden an einer speziellen Form des Lungenödems, das auf Spanisch « edema pulmonar de re-entrada » genannt wird. Es tritt bei Hochlandbewohnern im Moment der Rückkehr von einem Aufenthalt im Tiefland auf. Die Ursache dieses Lungenödems, für das Kinder und Jugendliche viel anfälliger sind als Erwachsene, ist unbekannt. Auf Grund unserer Studien in der Margheritahütte wussten wir, dass die klassische, beim Bergsteiger auftretende Form des Höhenlungenödems mit einem übersteigerten Anstieg des Lungen-arteriendrucks einhergeht. Wir fragten uns deshalb, ob bei diesen lungenödem-anfälligen Hochlandbewohnern eine Überempfindlichkeit der Lungenarte-rien auf gefässverengende Stimuli vorliegen könnte. Um unsere Vermutung zu überprüfen, massen wir mittels Herz-ultraschall den Lungenarteriendruck bei ödemanfälligen und ödemresistenten Hochlandbewohnern in La Paz. Dabei waren die Lungenarteriendruckwerte bei Jugendlichen, die schon ein oder mehrere Male an einem Lungenödem erkrankt waren, fast doppelt so hoch wie jene der ödemresistenten Hochlandbewohner. Was bedeutet dies? Mit der Diagnose « edema pulmonar de re-entrada » kann einerseits relativ einfach eine Gruppe von Hochlandbewohnern bestimmt werden, die an chronischem – und möglicherweise behandlungsbedürftigem – Lungenarterienhochdruck leidet. Andrerseits vermuten wir, dass bei diesen ödemanfälligen Personen im Moment der Rückkehr aus dem Tiefland der Lun-genarteriendruck auf noch viel höhere Werte ansteigt und ähnlich wie beim klassischen Höhenlungenödem eine wichtige ursächliche Rolle beim Flüssig-keitsaustritt in die Lungenbläschen spielt. Falls dies zutrifft, sollte die vorbeugende Abgabe von Lungenarterien-druck-senkenden Medikamenten das Auftreten eines « edema pulmonar de re-entrada » verhindern. Für den Forscher geht es nun aber auch darum, herauszufinden, welche Faktoren einzelne Hochlandbewohner zum « edema pulmonar de re-entrada » prädisponieren könnten. Interessanterweise bestehen Hinweise, dass Sauerstoffmangel während der frühkindlichen Entwicklung einer dieser Faktoren sein könnte. Der Kreis zu unserer Studie in der Margheritahütte wäre damit möglicherweise geschlossen.

Einsatz gepaart mit « mañana » Die Durchführung solcher Studien bedingt eine enge Zusammenarbeit mit einheimischen Patienten und Forschern. Die spontane Bereitschaft der bolivianischen Mütter ist immer wieder bewundernswert: Oft müssen sie schon in aller Herrgottsfrühe von zuhause aufbrechen und mit ihren Kindern weite Strecken zu Fuss zurücklegen, um sie zur Untersuchung zu bringen. Andrerseits entspricht der bolivianische Pünktlichkeitsbegriff nicht unbedingt dem schweizerischen – das legendäre « mañana » ( morgen ) behält nach wie vor seine Gültigkeit, und nicht eingeplante Wartezeiten gehören zum bolivianischen Forscheralltag. Aber bietet dies für den gestressten Schweizer Forscher nicht auch eine wunderbare Gelegenheit zum Entschleunigen? a

Urs Scherrer und Claudio Sartori, Lausanne 1 1 Die Autoren arbeiten am Botnar Center for Clinical Research und am Departement für Innere Medizin des Universitätsspitals Lausanne ( Centre Hospitalier Universitaire Vaudois, CHUV ). Zusammen mit PD Dr. Yves Allemann vom Swiss Cardiovascular Center am Inselspital Bern leiteten sie zahlreiche höhenmedizinische Studien in der Margheritahütte. Seit drei Jahren untersuchen sie in enger Zusammenarbeit mit Forschern am Instituto Boliviano de Biologia de Altura in La Paz Langzeitwirkungen des chronischen Sauerstoffmangels auf den menschlichen Organismus. Diese Zusammenarbeit bezweckt auch die Förderung einer eigenständigen Forschungstätigkeit bolivia-nischer Kollegen. Die Studien wurden u.a. vom Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstützt.

Rund um den Flughafen von La Paz breitet sich auf dem auf 4000 m gelegenen Hochplateau die neue Millionenstadt El Alto aus. Der chronische Sauerstoffmangel ist ausgeprägter und das Klima sehr viel rauer als im geschützten Talkessel von La Paz, 3600 m. Im Hintergrund der vergletscherte Sechstausender Huayna Potosì Lungenarteriendruckmes-sung bei einem jungen Hochlandbewohner. Die schmerzlose, nicht inva-sive Messung mit Herz-ultraschall kann problemlos auch bei Kindern eingesetzt werden.

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