Skifahren als Gratwanderung
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Skifahren als Gratwanderung Jérémie Heitz: Steilwandfahren neu definiert

Mit den Ski unter den Füssen hebelt Jérémie Heitz die Gesetze der Schwerkraft aus. Im Dokumentarfilm La Liste befährt er 15 legendäre Steilwände, und dies auf seine Art: überaus schnell, flüssig und solide.

Was suchst du in Hängen, die 50 Grad steil sind?

Lange bin ich Skirennen gefahren, danach wechselte ich zum Freeriden. Mit der Zeit erreicht man ein bestimmtes Niveau, das Tempo wird immer höher, die Hänge werden immer steiler und die Höhe extremer.

Deine Spezialität ist es, schneller als die anderen zu fahren. Wie erklärt sich das?

Diese Fähigkeit verdanke ich meiner Zeit als Rennfahrer. In meinem Dorf Les Marécottes waren alle Jungs im Ski-club, das gehörte sich einfach so. Aber ich war so angefressen, dass ich zwei Saisons lang FIS-Rennen fuhr. Heute ist mir klar: Das Rennskifahren hat mir technisch sehr viel Sicherheit gebracht. Ich fühle mich auf Ski rundum wohl und kann mich deshalb mehr auf meinen Stil konzentrieren. Die Rennen waren die beste Schule, die ich durchlaufen konnte.

Warum der Wechsel zum Freeriden?

Im alpinen Skifahren war ich beim Training immer sehr gut, konnte aber in den Rennen nie einen Podestplatz erreichen. Meine Motivation sank. Das Freeriden schien mir immer wie eine Erholung. Da gab es keine Regeln, und das einzige Ziel war es, Spass zu haben!

Und dann hattest du mit 16 eine entscheidende Begegnung ...

Ja, und zwar mit den Falquet-Brüdern. Die Gegend um Les Marécottes war so etwas wie ihr Fotostudio. Sie hatten schon einige Filme gedreht und nahmen mich unter ihre Fittiche. Im ersten Jahr habe ich ihnen bei Nachtdrehs assistiert. Das war hart, aber ich begriff, dass es genau das war, was ich machen wollte. Im folgenden Jahr wechselte ich vor die Kamera. Und schliesslich stand ich auf dem Gipfel des Bec des Rosses, um das Xtreme von Verbier zu eröffnen. Dabei hatte ich noch nicht einmal das Teilnehmeralter erreicht.

Man hat dich den «kleinen Bengel» genannt. Wie hast du es geschafft, dir einen Platz in der Szene zu erobern?

Ich habe im Freeride-Wettkampf rasch gemerkt, dass ich schneller fahre als die anderen. Das war meine Trumpfkarte, die ich ausspielen konnte. Auch heute setze ich bei meinen Runs immer noch mehr auf Schnelligkeit als auf das Free­style­-Fahren. Meine Technik erlaubt es mir, gewagte Schwünge zu machen.

La Liste ist gerade fertig geworden. Was war der Ansporn für diesen Film?

Ich liebe die hohen Berge. Mir gefällt das Gefühl von Demut, das sich dort einstellt. Die Idee für La ­Liste hatte ich schon länger im Kopf. Mich haben die Vorläufer des Extremsports beeindruckt. Viele Jungs vollführten wahre Heldentaten ohne Filmequipe und Medienrummel. Einer davon, Sylvain Saudan, ist Mitte der 1960er-Jahre das Spencer-Couloir und das Gervasutti-Couloir auf zwei Meter langen Holzski hinuntergefahren! Im Film sieht man mich am gleichen Ort, 50 Jahre später. Da, wo Saudan 50 Mal wenden musste, reichen mir ein paar Schwünge. Im Prinzip wollte ich genau das: zeigen, wie sich das Steilwandfahren entwickelt hat. Der Film richtet sich nicht nur an Extrem­sport­fans, sondern auch an alle anderen Bergfans.

15 Gipfel hast du befahren. Wie hast du sie ausgewählt?

Das Obergabelhorn war so in etwa das Mass aller Dinge: eine majestätische Pyramide mit einer schönen Nordseite, die inmitten der Alpengiganten thront. Die anderen Wände habe ich nach folgenden Kriterien ausgewählt: Steilheit, Schönheit und Geschichte. Wir haben die Auswahl mehrmals angepasst. Man muss wissen, dass manche Wände nur einige Stunden in der Saison gute Fahrbedingungen bieten. Dann sollte man genau am Tag X zur Stunde Y dort sein. Am Ende entscheidet immer der Berg, ob es geht.

Du kannst in so einem Moment auch verzichten?

Natürlich. Alle Karten, Markierungen und Beobachtungen mit dem Feldstecher genügen nicht. Die einzige Möglichkeit, die Schneeverhältnisse wirklich einzuschätzen, ist, den Schnee zu berühren. Man muss zu Fuss in die Wand einsteigen. Erst dann merkt man, wie abschüssig es ist, und kann feststellen, wo es eisige oder steinige Passagen gibt. Beim Aufstieg wähle ich meine Linie aus, um möglichen Fallen zu entgehen. Und es ist wichtig, mit einem freien Kopf zu starten. Wenn ich auch nur den leisesten Zweifel hätte, würde ich nicht losfahren.

Wie reagierst du auf Leute, die dich als leichtfertig abstempeln?

Sie täuschen sich. Ich verbringe einen grossen Teil des Jahres mit Beobachtungen, aber auch mit physischer und psychischer Vorbereitung ... Meine Projekte erfordern viel Arbeit und Organisation. Dazu kommt, dass ich von erfahrenen Fachleuten umgeben bin. Wir gehen kalkuliert, beherrscht und professionell an die Sache heran.

Und die Lawinen?

Die Lawinen fürchte ich am allermeisten. Es gibt immer Unsicherheitsfaktoren beim Freeriden. Auch wenn alle Voraussetzungen ideal erscheinen – es ist nie 100% sicher. Jeden Winter passieren Dinge, die uns daran erinnern. Der Unfall von ­Estelle Balet hätte jedem von uns zustossen können. Die Steilheit der Wand und die Schnelligkeit des Fahrers können das Risiko, in eine Lawine zu geraten, reduzieren, auch wenn dadurch das Sturzrisiko wächst. Trotzdem fühle ich mich sicherer, wenn ich schnell unterwegs bin: Ich sage mir, wenn ich jetzt auf den Beinen bleibe, schaffe ich es noch vor der Lawine nach unten ...

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