Skiglück unter Dolomitenwänden
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Skiglück unter Dolomitenwänden

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Albert Schmidt, EngiBilder 4 bis g

Unterwegs auf der Dolomiten-Haute-Route Sonntag, 13. März 1977. Durch eine tiefverschneite Winterlandschaft fahren wir, zwei Glarner und ein Berner, am frühen Morgen vom kleinen Hoteldörflein Bellamonte hinauf zum Passo di Rolle. Hochwinterliche Verhältnisse herrschen sogar noch auf der Strasse, aber wir haben die Ketten montiert und kurven nun mühelos an all den steckengebliebenen und gestikulierenden Italienern vorbei in die Höhe. Das Schlechtwetter der letzten zwei Tage hat mehr als einen Meter Neuschnee gebracht und die weiten Wälder ringsum in ein märchenhaftes Wunderland verwandelt. Die letzten Wolkcnbänke und Nebelfetzen verziehen sich, und oben auf dem Pass wölbt sich ein strahlend blauer Himmel über den dunklen Zacken und Türmen der Pala. Zu ihren Füssen breitet sich weithin ein glitzernder Schneeteppich über die hügelige Passlandschaft aus, die sich jetzt zusehends mit fröhlichem Skivolk belebt.

Von einem solchen Tag hätten wir gestern nicht zu träumen gewagt, als wir bei nasskaltem Sudelwetter durch die düsteren Täler am Arlberg und Reschenpass ins Südtirol hinuntergefahren sind. Noch im Etschtal fielen riesige Flocken, « es hat platzet », wie der Glarner sagt; dessenungeachtet waren wir bei Pizza und Rotwein bald in Ferienstimmung.

Nun deponieren wir unser Auto in einer Tiefga-rage, da die nächste Etappe, San Martino di Castrozza, mit den Ski zu erreichen ist. Es reizt uns jedoch gar nicht, einfach der Passstrasse zu folgen; also sehen wir uns nach einer standesge-mässeren Möglichkeit um. Skilifte führen auf die Anhöhe über dem Pass, die sich klangvoll Paradiso nennt. Von dort aus gäbe es sicher eine zünftige Abfahrt? « Non c'è una pista » lautet 8Unter dem Torre di Valgrande. Hinten im Schatten: Val dei Strut 9Am Gipfelgrat der Marmolada di Rocca; im Mittelgrund: Cime dell'Aula; hinten: Monte Agner Photos Albori Schmidt. Engi zwar die Auskunft, die aber nur mit einem nachsichtigen Lächeln unsererseits quittiert wird. « Pericolo di valanghe », fügt man hinzu...

Schon etwas ernstere Gesichter und kurze Beratung. Aber wir wollen uns doch lieber selber ein Urteil darüber bilden, schultern optimistisch die Rucksäcke, und bald daraufhangen wir am Lift im steilen Nordhang. Durch die tiefverschneiten Tannen blitzen Sonnenstrahlen über das kalte Blau der Schatten. Unberührte Hänge ringsum in lockerem Pulverschnee, der einfach traumhaft ist, erst von wenigen Spuren durchzogen und somit für uns eine Verlockung, der wir nicht widerstehen können. Nach einer stiebenden Fahrt nehmen wir, wieder oben angelangt, die Rucksäcke auf und fahren südseitig durch einen steilen Hang hinab in unberührtes Gelände. Unten, im dichten Wald, geraten wir auf einen von oben nicht sichtbaren Felsriegel hinaus; aber mit etwas Glück und Spürsinn finden wir bald seine schwache Stelle, ein enges, lawinendurchfurchtes Couloir.

Am späten Vormittag marschieren wir durch San Martino, das den Eindruck eines verschlafenen Villen- und Hotelstädtchens macht, und löschen in einem Strassencafé den ersten Durst. Dann fahren wir über die Mittagszeit mit der Seilbahn 1200 Höhenmeter hinauf auf den kühnen Gipfel der Rosetta ( 2609 m ), zwischen der Cimone della Pala und der Pale San Martino. Wir quartieren uns im nahegelegenen Rifugio Rosetta ein und machen uns bald danach aufzur FRADUSTA, 293O METER.

Auch hier oben ist der Schnee tief, locker und nicht, wie erwartet, windverblasen. Über den sich aufstellenden Xordostgrat nähern wir uns dein Gipfel; nach Süden öffnet sich ein grossartiger Tiefblick, während aus der Weite im Norden ein kühler Wind bläst. Hans spurt in neugieriger Erwartung seines ersten Dolomitengipfels in scharfem Tempo hinaufzum Gratkamm. André hingegen, nach anderthalb Jahren Äquatorialafrika an eine « Tropen-Gangart » gewöhnt, hat offensicht- lieh noch mit der Höhe und der frischen Kaltluft zu kämpfen. Doch die Freude, wieder in der sehnlichst erwarteten Welt aus Schnee und Fels unterwegs zu sein, überwiegt wohl bei weitem die geforderte Anstrengung.

Auf der Südseite des Gipfels geniessen wir eine ausgedehnte, sonnenwarme Rast. Vor uns fällt der Berg ab in ein enges Tal, das von wilden Felsgipfeln umgeben ist, während nach Norden der Blick über die wellige Pala-Hochfläche zu all den bekannten Berggruppen der Dolomiten, zur Marmolada, der Sella-, Tofana-, Cristallo- und weit oben der Zinnengruppe hinwegschweift. In erster Linie aber interessiert uns das benachbarte Massiv der Cima della Vezzana, in das wir von hier aus gleichsam « einen Blick durch die Hintertür » erhaschen. Welch ein Labyrinth aus Felswänden, Türmen, Graten, Tälern und Canaletti!

Die Durchquerung der nördlichen Pala gehört zur ersten Etappe der Dolomiten-Ski-Haute-Route, die Toni Hiebeier erst vor zehn Jahren im « Alpinismus » propagiert hat, nicht ohne den hochalpinen Charakter und die Schwierigkeiten dieser ungewöhnlichen Skifahrt zu betonen. Es macht denn auch ganz den Eindruck, als ob die meisten Haute-Route-Anwärtcr die Westva-riante über den Passo del Mulaz oder die Ostvariante über die Fradusta wählen würden. In der Tat werden wir denn auch morgen zur Ansicht gelangen, dass die Traversierung der Vezzana für die individuelle, starke Gruppe geeigneter ist als für eine grössere Gruppe mit unterschiedlichem Training und Können, da doch die Voraussetzungen zum Gelingen dieser Tour Schnelligkeit, Hochgebirgserfahrung und sichere Skitechnik sind — neben den notwendigen guten Wetter- und Schneeverhältnissen.

Ob wir es bei dem vielen Neuschnee wagen können? Wir beschliessen, den Verhältnissen etwas auf den Zahn zu fühlen. Von einer Gratschulter aus fahren wir unter den schönen, nach Norden überhängenden Gipfelwächten durch und hinein in ein kurzes, aber extrem steiles Hangstück. Der viele Schnee hält trotz der Steil- heit gut, und die Belohnung für das Wagnis steht uns erst noch bevor: Wir können nun den ebenmässigen Nordhang des kleinen Gletschers in der Fallirne durchfahren. Im Nu sind wir unten und schauen beglückt zurück auf den breiten Pulverschneehang, den nun drei geschwungene Spurli-nien zieren. Die Weiterfahrt wäre ein ständiges Auf und Ab ohne nennenswerte Abfahrt; so ziehen wir nochmals die Felle auf und steigen über blaue Schattenhänge hinauf auf eine Schneeschulter unterhalb der Pale San Martino.

Im Schein der Abendsonne führt uns eine beschwingte Fahrt hinab zur Hütte, wo zu unserem Erstaunen trotz des schönen Wetters keine weiteren Skitouristen eingetroffen sind. So verbringen wir mit dem alten Hüttenwart und seinem Gehilfen einen gemütlichen Abend, der uns gleichzeitig dazu dient, unsere Italienischkenntnisse aufzufrischen. Wir erhalten einige instruktive Auskünfte über unsere morgige Tour; doch damit nicht genug: Der Hüttenwart geht hinter seine Theke und vertieft sich ins Zeichnen...

Das Ergebnis: eine sehr originelle, plastische Routenskizze des ganzen Massivs, alles fein säuberlich beschriftet. Dieses Werklein kommt später in mein Tourenbuch, « prego, signor, la vostra in-scrizione ». Fast etwas verlegen setzt er darunter: Gaudenz Michele.

val dei cantoni - Cima della Vezzana,ßigi Meter -val dei strut - val grande - PASSO DI VALGRANDE - VALLE VENEGIA Am andern Morgen, wir wollen eben aufbrechen, hält uns der Hüttenwart auf: « Aspetta ancora! » Bedächtig füllt er vier Gläser mit Ver-mouth: « Salute! » Haben wir das schon jemals erlebt, auf einer Hütte einen Abschiedstrunk spendiert zu bekommen? Dabei erzählt uns Michele, wo er aufgewachsen ist, dass er immer hier in der Pala am Klettern war und 87 Erstbegehungen gemacht hat; er berichtet von Hermann Buhl, den er gut kannte und dessen Route an der Cima Canali er als erster wiederholte. Der Fels sei sein Element, « la neve mi piace meno ». Ob er viel geführt hat? « Solo amici e conoscente », und mit Würde fügt er hinzu: « Ma mai per soldi. » Dann schreibt er noch seine Adresse auf eine Karte und bittet uns, diese in Falcade einzuwerfen und ihm mitzuteilen, wie es uns auf der Tour ergangen ist. Gerührt über die spontane Herzlichkeit dieser Gastfreundschaft, verabschieden wir uns ohne Bedauern über die halbstündige Verspätung.

In der Dämmerung des anbrechenden Tages fahren wir über einen immer steiler werdenden Hang hinunter in den tiefen Talkessel von Pian dei Cantoni. Nur der herrliche Pulverschnee tröstet uns über die 300 verlorenen Höhenmeter hinweg. Nun gilt es die mehr als 500 Meter Höhendifferenz durch den riesigen Schneeschlauch des Val dei Cantoni zum Passo Travignolo zu überwinden. Schon rötet die aufgehende Sonne die massigen, graugelben Felswände, die links und rechts des Tales in den blassen Morgenhimmel ragen.

Ich gehe voran, und einmal richtig angelaufen, empfinde ich plötzlich ein tiefes Gefühl der Freude und des Geborgenseins in dieser winterlichen Bergwelt. Unterwegs zu neuen Zielen sind wir heute allein, in völliger Stille, können unsere Spur selbst anlegen und, auf uns gestellt, die richtige Route suchen. Die Befriedigung wäre nicht so vollkommen, wenn vor uns eine geführte Gruppe gehen oder auch nur eine schlechte Spur bestehen würde. Im übrigen schreibt Toni Hiebeier, dass sich durch das Val dei Cantoni keine vernünftige Spur anlegen lasse. Unsere Fährte aber zieht sich wie ein weites Gewinde von Wand zu Wand in die Höhe; doch das kommt wohl daher, dass die Glarner Alpen gute Lehrmeister zum Spurenlegen ins Steilgelände sind. Trotz der Steilstufe in der Mitte, in der wir die Ski tragen müssen, sind wir bald oben in der Passschartc.

Ein sehr steiler Leehang trennt uns noch von der über uns liegenden Südostschulter der Vezzana. Wir trauen ihm nicht ganz und gehen ihn mit gespannter Vorsicht an. Ein Schneebrett würde uns in Minutenfrist wieder das ganze Schneekar hinunterbefördern. Oben am Grat an- 1gelangt, schnallen wir die Ski auf die Rucksäcke und klettern über Felsen und Hartschnee dem Gipfel der Cima della Vezzana zu. Grate und Flanken vereinigen sich zu einer kühn geformten weissen Pyramide über dunklen Felsabgründen. Den grossartigen Tiefblick hinab zum Rollepass können wir nicht in Ruhe geniessen, denn von Westen her zieht mit rasender Schnelligkeit eine drohende, zerfahrene Wolkenwand auf. Bei Nebel und Schneefall wären wir, unten im Val dei Strut, in einer Mausefalle, während uns die Aufstiegsspur sicher zur Hütte zurückleiten würde. So warten wir vorerst eine halbe Stunde ab, und da sich die Lage etwas stabilisiert, entschliessen wir uns zum Weitermachen.

Wir fahren zu einer Kuppe im Ostgrat ab, auf der eine Eisenstange auf zweimaliges Abseilen hinweist. Wir folgen aber dem nun felsig abbrechenden Grat weiter und queren auf der Originalroute durch einen abschüssigen, mit rutschigem Schnee bedeckten Hang auf ein Plateau über dem Val dei Strut. Felswände verhindern den Zugang, und so heisst es nochmals aufsteigen und ein markiertes Kamin hinabklettern. Zur sicheren Passscharte hinab führt ein in den Felsen hangender Steilhang mit windverblasenem Schnee. Er ist genau das Gegenstück zum Hang über dem Passo Travignolo und noch gefährlicher als dieser. Mein blinkendes « Barryvox » gibt mir den nötigen Mut, in ihn hineinzufahren. Der Hang hält; aufatmend verzichten wir auf eine Rast in der von kühnen Felsnadeln umstellten Scharte und schwingen befreit hinein in den unbekannten Canaletto des Val dei Strut. Enger als das Val Cantoni, in völliger Abgeschiedenheit und tief eingebettet in ein Felsenlabyrinth, öffnet er sich unter uns. Das Grösste aber: anderthalb Meter stiebender Pulver und noch keine einzige Spur darin!

In einem Taumel der Begeisterung ziehen wir unsere Schwünge in die Tiefe. Wie in einem Film gleiten immer neue Pfeiler, Wände und Türme an uns vorbei, voller Farbigkeit in der besonnten Südflanke, blau, schwarz und mit schillernden Eisrinnen in der schattigen Nordkette. Wir spüren es: diese Fahrt wird zu einem Höhepunkt aller bisherigen Skierlebnisse! Die Traverse hinüber ins Val Grande auf einer Höhe von 2500 Metern kann nicht stimmen; nochmals geht es ein Stockwerk tiefer. Doch da drüben der schlanke Felsturm, das muss der Torre Valgrande sein! Wir fahren genau an seinen Fuss, wo man direkt aus den Ski in den senkrechten Fels einsteigen könnte, finden den von Michele beschriebenen Felshaken, ohne indessen eine Sicherung einzuhängen, da wir auf den Ski sicher genug sind. Doch die Querung ist sehr steil und ausgesetzt. Vorbei ist das schnelle Spiel mit Ski und Pulverschnee, denn das Val Grande ist gegen Osten orientiert und liegt schon lange in der Sonne. Bereits ist es halb 12 Uhr. Sofort weg!

Innert fünf Minuten sind André und ich bereit zum Aufstieg, aber Hans wühlt immer noch im Rucksack. Mit einer Seelenruhe sondergleichen teilt er uns mit, dass er seine Felle verloren habe. Einen schlimmeren Ort dazu hätte er sich wirklich nicht aussuchen können, und dazu weiss der Unglückliche nicht einmal, ob sie auf der Vezzana liegen oder beim Photographieren aus dem Rucksack gefallen sind... Ein Zurück ist ausgeschlossen. Wir überlassen ihn seinem Schicksal, denn dieser Aufstieg verlangt unsere ganze Konzentration. Der Neuschnee ist nun schwer und feucht, und wie ich auch die Spur lege, man kommt nicht aus diesem abschüssigen Schräghang hinaus, der, an sich schon sehr steil, in noch zunehmender Neigung in Felswände abbricht und zu einem tief unten liegenden Talkessel. Jeder, der hier nicht bei Hartschnee aufsteigen kann, braucht entschieden mindestens so gute Nerven wie physische Kondition. Die Lawinengeräte könnten wir ebensogut abstellen...

Wieschon oft, erleben wir eine Situation, in wel-cherder Mensch mit seiner ausgeklügelten Technik wehrlos der Natur ausgeliefert ist; es bleibt ihm nur die Hoffnung, dass der Zustand des Gleichgewichts erhalten bleibe und nichts das Zünglein an der Waage zu seinem Unheil verschieben möge.

Endlich gestattet eine kleine Geländekuppe ein kurzes Verschnaufen von der anstrengenden Spurarbeit in scharfem Tempo. André macht weiter; ich warte auf Hans, damit er nicht noch den « Moralischen » einfängt, und lösche den Durst mit zwei Orangen. Mühsam durch den Schnee stapfend, kommt er daher. Ich nehme ihm die Ski ab und montiere meine Steigeisen unter die Bindung. Tatsächlich geht es so ganz ordentlich im pulverigen Schnee; im Pappschnee aber werden die Eisen zu wahren Marterinstrumen-ten. Auch an unsern Ski klebt der Schnee, und mühsam krampfen wir weiter dem Passo di Valgrande zu, um den eine gezackte gelbe Felsmauer in den nun tiefblauen Himmel sticht. Sehnsüchtig streifen unsere Blicke das trockene, rissig-rauhe Gestein. Die letzten steilsten Meter die Ski durch ein pickelhartes Couloir tragend, sind wir endlich um halb drei auf dem « Pass », der eher eine enge Felsscharte ist zwischen dem Campanile del Foco-bon und dem Torre delle quattro Dita.

In gleichem Stil geht es drüben hinunter, nun aber wieder im Pulverschnee, so dass das anstrengende Val Grande schnell vergessen ist. Die Route führt unten in einen sonnigen Hang; aber wir entdecken linker Hand ein schattiges, langes Steilcouloir. Kurzentschlossen fahren wir hinein, obwohl wir nicht wissen, ob unten eine Ausfahrt möglich ist. Tiefer und tiefer geht die tolle Fahrt, und wie wir schon glauben, das Schönste sei vorbei, da öffnet sich unter uns nochmals ein breites Steilkar. Es ist nur von einer einzigen Spur gezeichnet, der Aufstiegsspur zum Passo del Mulaz. Nach einer kaum endenwollenden Schwungreihe im stiebenden Tiefschnee erreichen wir den weiten Talboden des hinteren Valle Venegia. Ein herrlicher Ort für eine Rast! Dabei kommen wir auf die schlaue Idee, das unbekannt vor uns liegende Tal hinauszufahren, um Hans den für ihn mühevollen Anstieg zur Costazzahöhe zu ersparen. Die Karte der Palagruppe besitzen wir zwar leider nicht; aber wir vermuten, dass das Tal in den Passo di Vallès münde, der seinerseits zur Rollepass-Strasse führt.

Also zieht André allein los, einerseits, um oben vom Rollepass das Auto herunterzuholen, andrerseits, weil er überzeugt ist, das bessere Los zu ziehen und vor uns in einem Ristorante einzutreffen...

Hans und ich haben unsern Entschluss in der Folge nicht zu bereuen. Der Weg das sanft abfallende Valle Venegia hinaus, durch Lärchen-und Föhrenbestände, einsame Alpen und Lichtungen, wird zu einem friedlichen Ausklang dieser abenteuerlichen Skifahrt. Die glutvolle Helligkeit des Tages ist jetzt gemildert; über der weiten, vor uns liegenden Waldlandschaft steht die Abendsonne und streut ihr goldenes Licht auf die Baumkronen. Es ist warm und duftet nach Harz und Föhrennadeln.

Wir wandern dem Bach entlang, der sich, zwar noch eingebettet in hohe Schneemauern, von seinem eisernen Panzer befreit hat, und sein leises Murmeln ist das Lied vom nahenden Frühling. Immer wieder schauen wir zurück zur Pala. Die ungebändigte Wildheit ihrer Wände und Türme scheint sich von hier aus, also aus der Weite gesehen, zu einer gewaltigen Kette geordnet zu haben, die als hoch aufragende Zackenkrone über leuchtenden Schneeflanken und dunklen Wäldern das Tal umschliesst.

André findet uns, und wir kehren wieder in Bellamonte bei den freundlichen Wirtsleuten ein, die uns wie verlorene Söhne begrüssen.

MARMOLADA DI ROCCA, 330g METER Verwundert schauen wir frühmorgens aus dem Fenster; still und heimlich ist in der Nacht wieder neuer Schnee gefallen. Also hatte Hans doch recht, als er spätabends etwas von einem Schneesturm erzählte, was ich ohne zu zögern der Doppelwirkung von Chianti und Grappa zuschrieb... Auf eisglatter Strasse fahren wir vorsichtig hinab nach Predazzo und das Fassatal hinauf nach Canazei, wo Hans 20000 Lire loswird und dafür ein Fell mit einer veralteten Befestigungsvorrich-tung einhandelt. « Pelle di foca » wird zeitlebens nicht mehr aus seinem italienischen Wortschatz verschwinden...

Bald nach Alba meldet eine Tafel in der Stras-senmitte: Fahrverbot und Lawinengefahr. Da haben wir die Bescherung! Doch frische Fahrspuren in der logischerweise nicht gepflügten Strasse geben uns den Mumm zum Weiterfahren. Mühsam brummt der Wagen durch die Galerien in die Höhe; die Schneehöhe nimmt zu, und oben am Fedaiasee, auf 2000 Meter Höhe, liegt schon ein halber Meter Neuschnee. In gleissendem Licht liegt das Hochtal unter der Marmolada vor uns; über sein östliches Ende hinein grüsst die dunkle Wand der Civetta. Bereits während der Auffahrt im Sessellift nach Pian Fiacconi wird uns klar, dass wir unsere Hoffnung, die Punta Penia besteigen zu können, begraben müssen. Ein steifer Nordwind hat den Himmel blankgeputzt, treibt oben am weissen First der Penia eine riesige Schneefahne hinaus und lagert den Schnee in der steilen Südostflanke ab, über die die Route hinaufführen muss.

Also auf zur Rocca! Als die einzigen Tourenfahrer weit und breit machen wir uns inmitten des Pistenvolkes bereit zum Aufstieg. Neben hübschen Skihäschen sich hier in einem Liegestuhl an der Sonne zu reklen, ein kühles Bier vor sich, wäre ja schon angenehmer; aber eben, so sind wir nun halt einmal: der Drang in die Höhe ist trotz den Gelüsten in die umgekehrte Richtung noch etwas stärker...

In fast grundlosem Pulverschnee spuren wir hinauf in die weite, unberührte Gletscherfläche. Jede Viertelstunde muss der Vorderste abgelöst werden, aber wir strengen uns tüchtig an und gewinnen zusehends an Höhe. Die Sonne brennt ins Gesicht, von der Seite bläst der kalte Wind feinen Schneestaub und kühlt uns ab. Wir haben uns schon gewundert, dass nie eine Bahn von der Punta Serauta hinauffährt, und wie wir hinein-biegen ins oberste Gletscherkar unter dem gezackten Felsgrat der Rocca, sehen wir das Unerwartete: keine Piste, kein Raupenfahrzeug, kein einziger Skifahrer!

Sogleich wird uns die Einmaligkeit der Lage bewusst: trotz herrlichem Winterwetter sind wir heute die einzigen am höchsten Dolomitenberg! Mit neuem Elan spuren wir die letzte Strecke steil hinauf zur Bergstation, die offenbar eingeschneit ist. Eine gewaltige Tiefe öffnet sich nach Süden ins Val Ombretta.

Die Kameraden wollen es sich zuerst hier gemütlich machen, während ich es als Unterlassungssünde ansehe, an diesem Tag nicht die oberste Spitze zu besteigen. Erst vor dem letzten Aufschwung vertauschen wir die Ski mit Pickel und Steigeisen. Zum Glück haben wir eine Reepschnur dabei und können uns so die exponierte Seillänge hinauf zum Gipfel sichern. Der Wind wirbelt eisigen Schnee um uns und weit hinaus in die Südwand. Welch grossartige Gipfelschau! Wind und Kälte laden aber nicht ein zu ausgedehnter Rast, und so seilen wir uns bald wieder über den tiefverschneiten Fels ab und steigen hinunter zu den Ski.

Zu gerne würden wir drüben bei der Bergstation an einem windgeschützten Platz noch eine Stunde Rast einlegen, aber wir befürchten, der Wind könnte unterdessen den Pulverschnee zu sehr malträtieren - oder die Bahn könnte plötzlich zu laufen beginnen, Skifahrer heranbeför-dern und uns so um die Früchte unserer Spurarbeit bringen.

Und so wird aus der Abfahrt ein einmaliges Tiefschneegleiten über die weisse, verlassene Weite, und es fehlen die Worte, um das Erlebnis dieser Stunde zu beschreiben. In direkter Linie schwingen wir durch den anderthalb Meter tiefen und zum Glück immer noch lockeren Schnee hinab über die ebenmässige Gletscherfläche, von der erst eine Sommeraufnahme einen Begriff von ihrer Zerrissenheit geben kann. Mit schnellen Schwüngen schiessen wir steiler hinab ins ebenfalls unberührte Kar zwischen den langen Felskämmen des Sass de Mez und des Sasso d' Undici. Ein beinahe vollkommenes Skiglück!

Unten am See platzt man wieder hinein in den ganzen Pistenrummel; wir löschen unsern Durst und versäumen es nicht, mit der Seggiovia nochmals hinaufzufahren zu unserm Startpunkt. Befreit vom Rucksack, lasse ich meinen Ski die Zügel nochmals locker... Plötzlich kommt von links André und von rechts eine Signora in meine Fahrli-nie! Blitzgedanke: in vollem Tempo zwischen beiden durch, um den Zusammenstoss zu vermeiden! Verfolgt von entsetzten Madonnarufen, suchen wir unser Heil wieder neben der Piste.

Im Skibeizlein ruhen wir endlich etwas aus. Ein kleines, blondes Mädchen springt umher, setzt sich zu uns auf die Eckbank und beginnt mit mir zu plaudern, als wäre ich hier Stammgast. Amanda heisst die Schöne! Im Schaufenster hinter uns liegen Spielsachen und Kristalle kunterbunt durcheinander. Sie erklärt mir eifrig, welche Spielsachen sie gerne hätte; ich nicke ebenso eifrig und schiele mit dem andern Auge auf die Kristalle. Da liegt nämlich eine hübsche Calcit-Sand-rose.

4000 Lire? Könnte ich mir eigentlich leisten. Stolz bringt die Kleine die Noten zu ihrer Mutter. In gut zehn Jahren wird auch sie vielleicht ein kleines Rädchen im allgegenwärtigen Fremden-industriegetriebe Südtirols sein. Ob sie dann noch daran denken wird, dass Freundlichkeit und ein charmantes Lächeln dazu beitragen, den Umsatz zu steigern?

Im Rifugio Ettore Castiglioni, einem CAI-Berghotel, das schmuck und einladend unter Arven am andern Ende des Staudamms steht, würde es uns sehr gefallen, zumal die originale Haute Route von hier aus weitergeht; doch werden wir uns hier einmal für einige gemütliche Ferientage einquartieren, wenn wir mehr Zeit haben. So fahren wir gegen Abend wieder talwärts, im Blickfeld die leuchtenden Felsfluchten des Gran Vernel, die als gewaltiges Monument in den hellen Himmel stechen.

Hans als Fahrer schwärmt einmal mehr von den überhöhten Kurven der Dolomitenstrassen — da schleudert uns am Pordoipass aus ebensolcher ein Mercedes quergestellt entgegen. Wir fahren aus den Sitzen hoch! Im letzten Moment geht der fremde Fahrer von der Bremse; beide machen blitzschnell die richtige Lenkbewegung, und um Zentimeter entgehen wir dem Zusammenprall!

Nach diesem ereignisreichen Tag gönnen wir uns in Canazei ein gutes Nachtessen mit einer Flasche rotem Südtiroler...

PIZ BOÈ, 3152 METER - VAL DE MESDÌ Zeitig am Morgen fahren wir von Canazei hinauf ins ausgedehnte Skigebiet des Belvedere, das mit seinen breiten Pisten zum Bleiben und Befahren einlädt. Wieder herrliches Wetter!

Unten am Pordoipass besteigen wir die Seilbahn, die in kühnem Schwung hinaufführt auf den Felskopf der Pordoispitze. Nach der Abfahrt zur Pordoischarte und einem leichten Anstieg an den Fuss der Gipfelkalotte des Piz Boè nehmen wir nach kurzer Diskussion die Ski mit hinauf, da eine gelbe Route auf der Skikarte eine Fahrt direkt hinab zum Rifugio Boè verspricht. Eine leichte Kletterei über Felsen und Hartschnee bringt uns auf den Gipfel, der von der geschlossenen Capanna Fassa und einer Madonna gekrönt ist. Sonne, Wärme und Windstille veranlassen uns zu einer ausgedehnten Rast, die hier im Herzen der Dolomiten bei der heutigen klaren Sicht zu einem besonderen Genuss wird.

Endlich entschliessen wir uns zur Abfahrt, verfolgt von den Blicken einer Gruppe Franzosen, die wie wir die Ski mitgetragen haben. Die Fahrt ist aber kein eitel Vergnügen, denn oben zerkratzen Steine den Skibelag, dann müssen wir die Ski abschnallen, um eine vom Wind freigeblasene Rinne hinunterklettern zu können.

Für einmal sind wir heute nicht die ersten - das schöne Wetter der vergangenen Tage hat auch zahlreiche Pistenfahrer von der Pordoispitze verlockt, einen Abstecher ins Reich der Tourenfahrer zu unternehmen. Das Val de Mesdi hat ja auch weitherum den Ruf einer berühmten Abfahrt.

So ist bereits eine Piste entstanden, auf der es gleich zu Beginn eng und steil hinabgeht in das riesige Schneekar, das mit 1200 Meter Höhe und vier Kilometer Länge in nördlicher Richtung hinabführt ins Corvaratal. Lange, hohe Felsfluchten, die spitzen Türme des Bergerturms und der Dent de Mesdì überragen als mächtige Szenerie das Tal. Dennoch, ein Naturerlebnis wie in der Einsamkeit und stillen Grosse eines Val dei Strut stellt sich nicht mehr ein...

Bleibt das Abenteuer einer tollen Skifahrt! Bald einmal beginnen wir von der Talmitte aus in die noch im Schatten liegenden Flanken hineinzuqueren, womit wir jedesmal noch wenig berührte Hänge gewinnen, die in der Fallirne befahren werden können. Gesetzter, aber lockerer Pulverschnee und ein leichter Rucksack animieren uns zu rasanten Schwüngen. Noch spannender wird es, als wir uns auf einen friedlichen Wettstreit in der Kunst des Tiefschneefahrens mit einem filmenden Skiclub aus Cortina einlassen. Der einzige von ihnen, der perfekt fährt, ist ironischer-weise der Kameramann! Und so gewinnen wir überlegen die Show, würden uns aber ganz gerne auf der Seite der Verlierer sehen, da die Kerle von hübschen Filmgirls begleitet sind... Zum Schluss verengt sich das Tal zu einer tiefeingeschnittenen Felsenschlucht, in der nur noch eine Fahrt mit beherrschten Kurzschwüngen möglich ist, und dann, aus der schattigen Enge herausjagend, stehen wir plötzlich in der gleissenden Helle des Hochtals bei Colfuschg, das sich zwischen Wald und bunten Dolomitenwänden ausbreitet.

Mittags sitzen wir dort hinter schäumenden Masskrügen in einer Skibar, in der von pelz- und schmuckbehängten Damen und Herren ein Hauch Jet-Set den verschwitzten Haute-Route-Fahrer abkühlt. Später lassen wir uns, unter einer vorübergehenden Orientierungslosigkeit leidend, mit diversen Liften aufs Grödnerjoch transportieren. Immerhin erhalten wir dabei Einblick in eine weitere sehr steile Skiroute, die geheimnisvoll von der Sellahochfläche durch den felsigen Nordabsturz zum Pass hinabführt. Für ein andermal!

Ernsthafte Sitzung oben am Joch angesichts des ungeheuren Felskolosses des Langkofels. Ich bin für die einsame Puezgruppe, Hans lockt das Langkofelkar, aber André plädiert energisch für Abbruch unseres « Verhauers » und Rückkehr auf die Haute Route. Die Karte in der Hand, steht er auf einem Schneehaufen und zeigt mit ausgestrecktem Arm gen Osten... Schon drei Uhr. Also los, wenn wir heute noch drüben im Tal von St. Kassian anlangen wollen.

In der Hocke sausen wir die mit etlichen Lire-scheinen errungenen Pisten wieder hinunter, spurten durch Corvara, erwischen einen Bus, der uns ein Stück gegen den Passo Campolongo hinaufführt, und mit weiteren technischen Anlagen sind wir in Kürze oben auf der herrlichen, freien Anhöhe von Pralongià. Nach einer beschwingten Fahrt durch Wald und Lichtungen stehen wir gegen Abend unten in Armentarola.

Das Hotel Armentarola scheint aber für den Skialpinisten doch eine Spur zu nobel, und so sind wir gar nicht unglücklich, dass es besetzt ist. Draussen fragen wir einen Taxifahrer um Rat.

« Jo mei, machts de Hiebelertour? » fragt er uns, verschmitzt lächelnd, durchs Autofenster. Mit dieser Benennung wird deutlich, dass Toni Hiebeier mit der Einführung einer Dolomiten-Haute-Route einen bemerkenswerten Beitrag an die wirtschaftliche Prosperität Südtirols geleistet hat, denn der Skifahrer lässt nun einiges mehr an Devisen liegen als der Kletterer mit Zelt und Auto.

In der kleinen Pension einer freundlichen ladi-nischenrätoromanische Südtiroler ) Familie finden wir schliesslich gerade noch drei Plätze neben einer eben eingetroffenen Gruppe Berner, und ein gemütlicher Abend lässt den Tag ausklingen.

MONTE CASTELLO, 2817 METER - MONTE CAVALLO, 2912 METER - ALPE FANES GRANDE - CORTINA Heute steht uns eine lange Etappe durchs Hinterland der Tofanagruppe bevor, und so haben wir mit dem Führer der Berner einen Transport organisiert, um den flachen Anmarsch durchs hintere Valle Cassiano zu erleichtern. Wir starten schon um halb sechs in einem vollbesetzten Landrover. Bei der Capanna Alpina, die romantisch in einem verlorenen Talkessel zwischen senkrecht sich auftürmenden Felswänden steht, ist das Strässchen zu Ende. Es folgen einige hundert flache Meter durch Jungwuchs, gerade richtig zum Einlaufen, worauf wir zügig die Steilstufe zum Col Loggia angehen. Durch urwüchsigen Wald gewinnen wir schnell Höhe; das Tal wird immer steiler und enger, und die grauschwarzen Felsfluchten rücken immer näher zusammen, bis man gezwungen ist, die letzte Strecke zum Col durch einen in die Felsen gehauenen Steig hinaufzuklimmen. Gegenüber und hoch oben röten sich die massigen Wände und Pfeiler der Dente delle Conturines in der aufgehenden Sonne. Hinter dem Col öffnet sich ein weites, flaches Hochtal, durch das wir in schnellem Lauf dem Passo Tadega zustreben. Die letzten Arven und Baumstrünke säumen unsern Weg, und hoch oben in den Flanken sind überall Gemsen bei ihrer Morgenäsung zu sehen. Auf der weiträumigen Passhöhe lassen wir uns zu einer ersten Rast nieder.

Während André und ich, an einen Felsblock gelehnt, die wärmenden Sonnenstrahlen geniessen, kauert Hans im Schnee und flickt seine neuen Felle. Er ist wieder einmal ein Pechvogel! Nicht genug damit, dass er erneut Ausrüstungssorgen hat; er leidet auch noch an einer etwas merkwürdigen Unpässlichkeit, für die er, sicher unberechtigt, seinen Tourenproviant verantwortlich macht und denselben alsbald zornig den nicht vorhandenen Dohlen entgegenschleudert. Vorhin, im schlimmsten « Stutz » unter dem Col Loggia, hat er zudem die wichtigste Schraube am Fer-senstrammer verloren, worauf sich die ganze tolle Bindung in ihre Einzelteile auflöste. Wir suchten zusammen, was noch übriggeblieben war, und nur Andres ( des Ingenieurs ) Improvisationskunst rettete für Hans die Tour. Zum Ausgleich für das Unheil, das unsern Kameraden immer heimtückisch überfällt, darf er wenigstens im Sinne einer höheren Gerechtigkeit eine gewisse Unvergänglichkeit für sich beanspruchen. Denn während unsere Spuren schon nach dem nächsten Schneefall verschwunden sein dürften, wird man Hans'Weg durch die Dolomiten auch noch nach der Schneeschmelze anhand von Fellen, Harscheisen, Bindungsteilen und unverdaulichem Proviant mühelos verfolgen können...

Vom Passo Tadega aus wird normalerweise auf dieser Durchquerung noch die La Varella ( 3034 m ) bestiegen, aber zu diesem sicher schönen Skigipfel führt die Route über Süd- und Osthänge. Wir wissen jedoch, dass nur noch die Nordhänge guten Schnee haben, die Südhänge nun ab Mittag tiefen und gefährlichen Nassschnee aufweisen, und so haben wir gestern abend noch auf der Karte nach einer Alternative gesucht. Da war das Vallone Bianco, das wie ein Gletschertal aussieht und in genau südlicher Richtung hinaufführt zum zentralen Gipfel des Monte Cavallo. Obschon keine Skiroute eingezeichnet ist, scheint es doch ideales Skigelände zu sein, und vielleicht ist auch der Cavallo besteigbar ( man sieht das auf den italienischen Karten nicht so genau, und so wird es in unbekanntem Gebiet noch etwas abenteuerlicher !). Versuchen wir es!

Wieder ziehen wir unsere Spur allein hinaus in den unberührten Pulverschnee; er hat sich gut gesetzt, und das Spuren ist ein Vergnügen. Über einen breiten Bergrücken, den Ausläufer der tafelförmigen, stark nach Nordosten abfallenden Cime di Campestrin ( wie alle Gipfel dieser Gruppe ), queren wir hinüber in das weite, sanft ansteigende Tal, dessen weisse Einsamkeit man genau Valle Bianco nennen würde, hiesse sie nicht bereits so. Die Hänge ziehen sich in die Weite, etwas Wind kommt auf, treibt Schnee über Kuppen und Grate, und erst zuletzt geht 's steiler hinauf zum markanten Felsklotz des Castello. Auf seine militärisch-strategische Bedeutung machen an seiner Nordseite alte, aber sauber aufgeräumte Kriegsstellungen aufmerksam. Oben am Grat öffnet sich tatsächlich ein Blick wie aus einem Adlerhorst hinunter ins abgelegene Val Travenanzes und zum gegenüberliegenden mächtigen Massiv der drei Tofanen.

12 I Auf der Südseite finden wir einen sonnigen Rastplatz vor einer in den Grat gehauenen Fels-kaverne, deren Schiessscharte auf die Tofana di Rozes und die Forcella Fontana Negra gerichtet ist. Fragen - Nachdenklichkeit; die Erinnerung an die Tofana-Südwand wird verdrängt... An wie manchem lichterfüllten Wintertag mochten die Tiroler Soldaten und ihre Verbündeten hier oben in diesem Felsenschloss verschanzt gewesen sein, hinüberspähend und schiessend zu den Tofana-Stellungen, die die Italiener von Cortina her besetzt hielten? Wie oft mochten Geschütze Tod und Grauen in diese beherrschende Verteidigungslinie gedonnert haben, die sich wohl über den ganzen Hauptkamm bis hinunter zum berüchtigten Col Alto über dem Falzaregopass hinzog! Wie viele mochten in den Gräben und Nestern dieser Bergruine ihr junges Leben unter dem mörderischen Geschosshagel ausgehaucht haben?

Travenanzes, Fanesturm, Grosser Lagazuoi, Falzarego - alles Namen, die einem seltsam bekannt vorkommen, wohl aus Luis Trenkers « Berge in Flammen », und ich nehme mir vor, das Buch wieder einmal zu lesen. Was hatte dieser furchtbare Gebirgskrieg, in dem Bergkameraden und Freunde gegeneinander kämpfen mussten, für einen Sinn gehabt? Hatte Krieg überhaupt jemals und würde er je einen Sinn haben? « Via della pace » heisst jetzt diese Kriegsfront und ist nun zu einem gesicherten Steig ausgebaut, der über den Grat weiterführt. Auch wir würden ihm gerne folgen bis hinauf zum Cavallo; doch das hiesse die Ski tragen und würde bei dem vielen Schnee zuviel Zeit beanspruchen.

Hans macht es sich hier bequem, und wir traversieren die steilen Hänge des obersten Talrunds in trügerisch brettigem Schnee. Drüben am Nordgrat deponieren wir die Ski und klettern über den verwächteten, felsigen Grat hinauf zum Gipfel des Monte Cavallo. Vor bald sechs Stunden sind wir heute morgen aufgebrochen. Eine grossartige Schau belohnt uns; über den Südgrat schweift der Blick hinüber zur düsteren Burg der Cima Cadin und der drei Travenanzes, und über ihrem wuchtigen Eckpfeiler, dem Torre Fanis, reckt sich hoch und beherrschend die blaue Civetta in den hellen Mittagshimmel.

Nach einer herrlichen Abfahrt lassen wir uns unten auf der Fanesalp zu einer langen Mittagsrast nieder. Heiss brennt jetzt die Sonne, und ringsum erstrahlt die Landschaft in gleissender Helle. Gegenüber, am Eingang zum Valle Bianco, liegt ein ausgedehnter, prächtiger Arvenwald, so dass uns die Gegend stark ans Val Scarl erinnert. Die Berner sind noch nicht zurück von der Varella, und sonst ist niemand mehr unterwegs. Kein Ton ist zu hören, kein Laut stört die tiefe Stille und Einsamkeit dieses sonnenhellen Winternachmittags.

Diese durchdringende Ruhe, diese Stille einer noch ganz unberührten Landschaft ist überhaupt das Merkmal der Etappe durch die Fanesgruppe und setzt den Tag in einen wohltuenden Gegensatz zum vorangegangenen Skizirkus der Pordoi-Corvara-Region.

Eine lange Fahrt das Fanestal hinaus, durch Wälder und Schneisen, über Lawinenkegel, Bachtobel und Waldwege, beschliesst nun diese schöne Tour. Wir haben nur noch einen Tag Zeit, den wir morgen am Pordoipass verbringen wollen, wo es uns die steilen Abfahrten der Pordoispitze, nach Süden hinab zum Pass, nach Norden hinunter ins Val Lasties, angetan haben. Und so fehlen uns zur Vollständigkeit der Haute Route die beiden letzten Etappen, die durch die Cri-stallo- und Zinnengruppe führen. Aber keiner von uns empfindet dies wirklich als Mangel, weil wir bald wieder die Dolomiten auf den Ski durchstreifen und dann die noch fehlenden Fahrten kennenlernen werden. Der im Gegensatz zur Höhe der Berge tiefe Kurs der Lira und die allem Skirummel zum Trotz immer noch traditionell gastfreundliche und liebenswerte Bevölkerung Südtirols machen es uns leicht, diesen Entschluss zu fassen.

EINIGE INFORMATIONEN ZUR DOLOMITEN-HAUTE-ROUTE 1. Etappe Pala-Gruppe: von San Martino di Castrozza nach Falcade, mit den im Text beschriebenen drei Möglichkeiten.

2. Etappe Marmolada-Gruppe: Passo San Pellegrino — Forca-rossa - Malga Ciapela - Marmolada di Rocca -Fedaiasee - Rifugio Marmolada ( E. Castiglioni ).

3. Etappe Sdla-Gruppe: Porta Vescovo - Arabba - Pordoipass - Piz Boè - Val de Mesdì - Corvara - Pralongià - Armentoralo/St. Kassian.

4. Etappe Fanes-Gruppe: Passo Tadega - La Varella oder Monte Cavallo - Alpe Fanes Grande - Fanestal -Cortina d' Ampezzo.

5. Etappe Cristallo-Gruppe: Passo Tre Croci - Passo del Cristallo - Val Fonda - Misurina.

6. Etappe Rinnen-Gruppe: Rifugio Auronzo - Paternsattel -Drei-Zinnen-Hütte - Fischleintal - Bad Moos/ Sexten ( evtl. noch Kreuzbergpass ).

Strossen/Pässe:

Fast alle sind auch im Winter geöffnet; sich nach Schneefällen im Talort erkundigen; teils offiziell geschlossen, aber auf eigenes Risiko befahrbar, Taxi- und Busdienst ( Sellapass und Grödner Joch auf der Val-Gardena-Seite geschlossen ).

Unterkunft:

Ausser im Rifugio Rosetta und im Rifugio Marmolada in den Talorten. Hier lassen sich immer preisgünstige Hotels oder Pensionen finden ( als rote Häuschen in der Skikarte in grosser Auswahl; einige sind aber im Winter geschlossen ), evtl. am Vorabend telefonisch bestellen.

Skijührer:

Es existieren Dutzende von Kletter-, Touren-und Wanderführern, aber offenbar kein einziger Skiführer, was wohl stimmt, da auch der Bergverlag Rother keinen in seiner Publikation aufführt. Ein Führer für die Dolomiten-Haute-Route ist in « Alpinismus » Heft 12/1966 erschienen. Ob in andern Zeitschriften noch solche veröffentlicht wurden, ist mir nicht bekannt.

Karten:

Palagruppe: TCI Touristenkarte San Martino 1:50 000.

Etappen 2-5: Dolomiten-Skikarte I:50000 ( Tabacco-Verlag; in den Fremdenverkehrsorten in vielen Geschäften für 1200 L. erhältlich ).

Zinnengruppe: Kompass-Karte Nr.58, Sextener Dolomiten 1:50000 ZUM ABSCHLUSS EIN « HEISSER TIP » Der Nachteil der Original-Haute-Route liegt darin, dass man am Ende der Woche in Sexten landet und das Fahrzeug noch in San Martino oder am Rollepass stationiert hat. Auch braucht man nicht für jede Etappe gleich viel Ausrüstung, und da man oft in Gasthäusern und Hotels logiert, ist es doch angenehmer, wenn man sich nach der Tour umziehen kann. Unsere Lösung mit dem gleichzeitigen Nachziehen des Autos ( und damit Verzicht auf die Originalstrecke ) sagt nun vielleicht nicht jedermann zu. Zweifellos wäre das Ideale eine Kombination von beidem! Wie aber Hesse sich dies bewerkstelligen? Wir haben eines Abends mit dem letzten Grappa das Ei des Kolumbus gefunden, und das Rezept dazu sei hiemit gerne verraten.

Also: man nehme skisportbegeisterte Damen ( Frauen, Freundinnen, gute Bekannte oder, je nachdem, gemischt ), lade sie ein zu einer Ferienwoche ins Südtirol, schwärme vom herrlichen Skigelände und den tollen Pisten der Dolomiten ( Tageskarten 5000 Lire, bitte sehr, oder zwei Skipässe nach Wahl ), erwähne nachdrücklich gutes Essen und Trinken in fröhlicher Gesellschaft in den gemütlichen Albergos und Rifugios ( abends Tanz, wenn noch gewünscht... ) und füge so nebenbei hinzu, dass sie doch dann, bitte, so gut sein möchten, nach dem Skifahren mit dem Auto von A nach B zu fahren, wo man sich wieder treffen werde.

Allfällig vorgebrachte Wünsche der also Eingeladenen auf die Haute Route kann man a ) entweder erfüllen, womit das Problem wieder das alte ist, oder b ) abschlagen mit in Falten gelegter Stirn, verbunden mit dem Hinweis auf die des öftern anzutreffenden sehr steilen Aufstiege und ebensolche Abfahrten, auf Marschzeiten und Höhenmeter...

Jedenfalls: bei einer Partie, die das Glück hat, Wetter- und Schneeverhältnisse wie wir anzutreffen, wird jeder Teil nach Abschluss der Woche überzeugt sein, das bessere Los gezogen zu haben, und man wird nicht heimzu fahren ohne den starken Wunsch, bald wieder einmal sonnige Skitage im wundervollen Dolomiten-Bergland erleben zu können. Skiheil wünschen dazu: Bert, Hans und André.

Hansruedi Faessler, Walchwil und Bulawayo Bilder ro bis 16

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