Sonnentag und Sturmnacht auf Hollandia
Mit der Fafleralp hatten wir fast alle Zeichen zivilisierten Lebens hinter uns gelassen. Nur noch die Gletscherstafel beherbergte Menschen und Tiere. Dann umgab uns die wilde Einsamkeit des oberen Lötschentales. Der gefürchtete Aufstieg zur Hollandiahütte begann - gefürchtet weniger wegen der zu erwartenden Schwierigkeiten als vielmehr wegen der bleischweren Rucksäcke, die uns fünf Stunden oder noch länger knechten sollten. Verpflegung für eine Woche, sorgfältig abgemessen, winterliche Kleidung von nicht reduzierbarem Gewicht, bergsteigerische Notwendigkeiten vom Sturmstreichholz bis zum Perlonseil, und die unumgängliche Photoausrüstung mit drei Kameras nebst umfangreichem Zubehör - so sieht unser « Expeditionsgepäck » aus. Bald fangen die vorauszusehenden Verwünschungen an; denn es kostet allein schon Anstrengung, den Kopf zu heben, um die herben Schönheiten des urwüchsigen Lonza tales schauen zu können. Immerhin fesseln uns trotz aller Mühen die Gipfel des Petersgrates. Und als die Wolken, die uns beim Aufstehen noch verdächtig erschienen, mehr und mehr abziehen und das Bietschhorn in seiner vollen Grösse freigeben, da werden plötzlich auch die Rucksäcke leichter. Jedenfalls bilden wir es uns ein.
Einen freiwilligen Wasserguss nehme ich auf mich, indem ich in das gähnende Maul des Langgletschers steige. Hinter mir und über mir tönen schaurig gurgelnde Laute durch das Eis, das sich wenige Meter nach innen zu einer schwarzblauen, unheimlich drohenden Masse verdichtet. Der Gedanke an einen Eisabbruch treibt mich bald wieder ans Tageslicht.
Eigentlich wollten wir links vom Gletschertor aufwärts klettern. Doch die letzte Brücke über die Lonza liegt weit zurück, und hier ist das Wildwasser unpassierbar. Also geht 's gleich aufs Eis, vielmehr ins Geröll. Der Langgletscher führt grosse Mengen Schutt mit sich. Die gewaltigen Blöcke bilden mit dem Geröll ein Trümmergewirr, durch das wir unermüdlich unseren Weg suchen. Die ersten Spalten tauchen auf. Noch sind sie kein Hindernis. Aber bald geraten wir in einen Séracbruch, der uns den Zugang zu der greifbar nahen Felsrippe versperrt. Was nun? Sollen wir zurück, um das Spaltenlabyrinth zu umgehen? Nein! Wir haben ja Zeit. Also hinein in die blaugrün schimmernde, kalte und unnahbar sich darbietende Eiswelt! Wir tasten uns in Schluchten und Schrunde, ziehen uns hoch auf Türme und Kuppen, bis sich ein Ausweg öffnet. Wir rasten, wundern uns, die Hälfte der Tour bereits hinter uns zu haben, ohne dass das Gepäck unfreiwillig in irgendeinen Abgrund versenkt wurde.
Hindernisse gibt es jetzt nicht mehr. Die « Grosse Dole », der obere Teil des Gletschers, ist spaltenarm. Ausserdem grüsst die sichere Unterkunft verlockend von ihrem Sporn herab und verheisst Ruhe, Wärme und Geborgenheit. Wir verfolgen eine Spur, die sich oben an der Lötschenlücke im Neuschnee verliert. Kein Laut ringsum, selbst das vom Sattelhorn herabstürzende Wasser ist verstummt. Stille erfüllt die klare, kühl hauchende Hochgebirgsluft.
Wir stehen auf der Sattelhöhe. Die Lötschenlücke trennt und verbindet zwei Welten. Nach Westen zieht der Langgletscher, den wir in seiner ganzen Ausdehnung begangen haben. Er zerschmilzt im Tal, weicht der Sonne und der Wärme des Lebens. Nach Osten erstreckt sich der grosse Aletschfirn. Er weicht nicht. Er vereinigt sich mit vielen anderen Gletscherströmen zur mächtigsten Eismasse am Konkordiaplatz. Unheimlich könnte es uns werden, wüssten wir nicht, dass wir in einigen Minuten ein schützendes Dach über dem Kopf haben.
Vier Engländer begrüssen uns, als wir nach acht Stunden die Rucksäcke abladen. « There's 1Blick von Mürren aus; von links nach rechts: Gletscherhorn, Ebnefluh und Mittaghorn 2Hollandiahütte ( 3238 m ) mit Sattelhorn some tea for you. » Einer stellt eine Kanne und zwei Tassen vor uns auf. « We saw you coming », ist die einfache Begründung. Bergkameradschaft! Nun sind wir sechs Gäste in der Hütte, bald eifrig in ein Gespräch vertieft.« Mountaineering » ist das Thema - « Bergsteigen », wie könnte es anders sein! Der Ofen knistert, der liebenswürdige Hüttenwart raucht unentwegt seine Pfeife und hört stundenlang schweigend zu. Es ist gemütlich auf Hollandia...
Fast reut es uns, dass wir einen so strahlenden Sonnentag mit Nichtstun verbringen. Aber wir haben das Ausruhen nötig nach der Anstrengung vom Vortag. Ausserdem ist die Hütte mit ihren 3238 Metern eigentlich schon ein erstrangiger Gipfel. Deshalb kommt die Photoausrüstung zu ihrem Recht: In der Ferne reizt das breit ausladende Massiv des Mont Blanc, näher schon der lange, zackige Grat vom Bietschhorn über das Lötschentaler Breithorn zum Distlighorn, gleich gegenüber die steile Firnschneide, die sich zum Sattelhorn hinaufschwingt, daneben, das Panorama unumschränkt beherrschend, der wuchtige Klotz des Aletschhorns, drüben im Osten dann die Fiescherhörner, die Grünhörner... ich bin nur noch Geniesser und Photograph bei diesem Anblick.
Die Sonne wirft auch am nächsten Tag ihre Strahlen an einen tiefblauen Himmel. Wir steigen in festem Neuschnee über den Ebnefluhfirn. Kaum eine Spalte unterbricht den weiten, weissen, sanft geneigten Gletscher. Kaum ein Felssporn stört das ruhige Bild des ewigen Eises. Vor uns steigt aus der glitzernden Einöde erhaben das Mittaghorn empor, einer der vielen, oft wenig bekannten Berge, die nur wenig unter der Viertausendergrenze liegen. Auf seinem Gipfel wollen wir heute stehen. Der Bergschrund ist dick zugeschneit. Gerade deshalb sichern wir sehr sorgfältig über die kaum sichtbare Spalte. Nun wird der Anstieg abwechslungsreicher: wir haben den Grat erreicht. Doch der Wind bläst hier mit einer Heftigkeit, dass wir uns mit den Pickeln auf der Gegenseite abstützen müssen. Einige Felsen stellen sich in den Weg. Es sind die einzigen auf dieser Eistour. Schnell sind sie überstiegen, aber schon jetzt haben wir ein windgeschütztes Plätzchen für eine ausgiebige Rast auf dem Rückweg ausgesucht.
Schneefahnen wehen über die Wächten. Unermüdlich modelliert der Wind am Berg. Die alten Spuren hat er davongetragen. Die neuen, die wir hinterlassen, halten nur Sekunden stand. Fast sieht es so aus, als wären wir dem Gipfel schon nahe. Aber noch wartet eine lange Gratfortsetzung auf uns. Sie zieht, nur schwach ansteigend, zum höchsten Punkt. « Wie fühlst Du dich? » frage ich die Gefährtin. « Geh nur weiter », lautet die Antwort. Da weiss ich, dass der Berg unser wird.
Bei jedem Schritt stäubt es unter den Füssen. Schneewölkchen flattern hinaus, zergehen und verschwinden. Knirschend dringen die Steigeisen in den windgepressten Altfirn. Die Augen tränen vom eiskalten Luftzug unter der Gletscherbrille. Aber sie sehen verschwommen jene Kuppe, in die der Grat einmündet. Näher kommt sie, näher, bis es keine Nähe und Ferne mehr gibt, für einige Minuten...
Wir sind allein, ganz allein. Wie herrlich ist doch für den Bergsteiger das Gefühl, dass ihm der Berg allein gehört, wenigstens für einige Minuten, auch wenn es nur eine Einbildung ist! Wir sind allein, der Berg gehört uns, und er beschert uns eine kristallklare Aussicht. Unter uns liegt Mürren. Dort stand ich einmal vor Jahren und blickte gebannt nach oben, die mauerartigen Nordwände der Ebnefluhgruppe hinauf. Jetzt stürzt einer dieser furchterregenden Eiswälle vor uns in die Tiefe.
Wohl 200 Kilometer mag die Aussicht reichen. In einer Sekunde wandern wir mit den Augen zum Schwarzwald, in einer weiteren zur Bernina. Eine Unzahl von Gipfeln bildet um uns ein kaum erfassbares Halbrund. Für ein paar Sekunden vergessen wir den beissenden Wind, entdecken immer neue Kuppen und Zin- Blick vom Ebnefluhfirn auf Aletschhorn ( 4195 m)~Nordwand und Haslerrippe ( links ) Blick von der Hollandiahütte nach E: Grosser Aletschfirn, Konkordiaplatz, Fiescher-, Grünhörner und Finsteraarhorn Nebel über dem Aletschhorn. Links das Dreieckhorn ( 3811 in ), vorne der Jungfraufirn Photos Karl-Wilhelm Specht, D-Mülheim a.d. Ruhr nen, von denen wir eine bestiegen haben. Nur eine im Meer der erstarrten Wellen, doch welche Freude, auf ihr zu stehen...
Aneinandergekauert sitzen wir in den Felsen des Grates am Anenjoch. Mag der Wind nur pfeifen: hier ist es warm, sonnig und ruhig. Wir verzehren unseren Rucksackinhalt, strecken unsere müden Glieder und schauen zufrieden in die Runde. Die wenigen Gipfelminuten sind schon Vergangenheit — unvergessliche Vergangenheit.
Bei weiterhin strahlendem Wetter kehren wir zur Hütte zurück. Doch was ist hier geschehen? Der gemütliche Raum hat sich unversehens in ein Krankenlager verwandelt. Einer der Engländer ist schneeblind! Er hatte auf der gestrigen Tour unvorsichtigerweise längere Zeit die Brille abgelegt und irrt nun mit schmerzverzerrtem Gesicht im Raum umher. Zwei Schweizer Kameraden sind am Aletschhorn abgestürzt. Böse sieht der eine der beiden aus. Ein Eisen hatte sich im Strumpf verfangen, und schon hatte es den Jungen die Haslerrippe hinabgerissen. Den zweiten warf es auch aus dem Stand. Hätte sich das Seil nicht verfangen - wir hätten Tote bergen müssen. Zerfetzte Kleider, klaffende Wunden an den Beinen, zerschlagene Hand, blutüberströmtes Gesicht - ein Bild des Schreckens. Gemeinsam mit dem Hüttenwart verbinden wir den Unglücklichen, stillen die Wunden, betten ihn aufs Lager.
Gedrückte Stimmung herrscht auf Hollandia. Noch sind die drei anderen Engländer unterwegs. Um i Uhr sahen wir sie durchs Glas am Vorgipfel des Aletschhorns. Jetzt ist es schon später Nachmittag. Unvermittelt hat sich der Himmel grau bezogen. Von Westen her verschlucken Gewitterwolken das Tageslicht. Windstösse fegen über das Dach. Die Hüttenwände knarren. Ein Unwetter bahnt sich an. Der schneeblinde Schotte tastet sich durch die Stube...
Die ersten Flocken fallen; nein, sie werden bereits vor die Fenster gepeitscht! Im Handumdrehen ist es dunkel. Ich trete vor die Tür. Blitze zuk- ken über den Gletscher, erleuchten für Sekunden die Umrisse des Sattelhorns, hellen schemenhaft die Wolkenmassen auf, die sich in den Gletscherbecken stauen. Doch was ist das? Der Flaggenmast zischt und knistert. Kleine blaue Flammen züngeln an seiner Spitze. Elmsfeuer! Eine unheimliche Erscheinung! Wo mögen nur die drei Kameraden stecken? Längst müssten sie in Sichtweite sein. Der Hüttenwart wird unruhig: « Heut schlaf ich nicht gut. » Aber an Schlaf denkt ohnehin niemand. Wir kochen Tee in Mengen, verabreichen dem Schotten Augentropfen. Kaum ein Wort fällt. Gebannt lauschen wir den tobenden Geräuschen oder halten vor der Hütte Ausschau - nur für Sekunden.
Wütend braust der Schneesturm um das Haus. Auf — 3 Grad sinkt das Thermometer. Wir bangen um die drei. Zwar sind sie erfahrene Alpinisten, doch was heisst das schon bei diesem Unwetter? Die faszinierende Pracht des Gebirges, wie wir sie heute früh erlebten, ist jäh in ein grausiges, eisiges Inferno umgeschlagen.
Wieder stehe ich, dick eingehüllt, vor der Tür. Noch immer glüht das Elmsfeuer beklemmener-regend am Mast. Da reisst der Wind eine Lücke in die Wolkenwand über dem Aletschfirn und -ein Licht! Ein Licht! Tatsächlich: sie blinken, weit, weit unten. Ich stürze hinein: « Ein Licht... ». Alles drängt nach draussen. Wir antworten mit der Lampe. Doch schon hat sich der Nebelvorhang wieder zugezogen.
Etwas erleichtert trinken wir Tee und warten. Mit unverminderter Gewalt heult der Sturm. Zehn Zentimeter hoch liegt schon der Schnee. Es wird 10 Uhr, halb 11. Keine fünf Meter weit kann man sehen. Ich schwenke meine Laterne - nichts. Rufe werden vom Wind verschlungen - keine Antwort. Wir denken an die Spalten gleich unterhalb der Hütte. Wenn sie da hineingeraten...
Da schimmert es bleich durch das Wolkengebräu. Stimmen werden hörbar. Sie sind es! Gott sei Dank! Verschwommen stolpern drei Gestalten heran, nass, durchfroren, erschöpft, aber in Sicherheit! « Oh yes, we had a little crevasse jum- ping - wir mussten ein paar Spalten überspringen! » Noch völlig ausser Atem erzählt uns der Offizier von dem 20-Stunden-Abenteuer, während wir die Seilschlingen lösen und die Schuhe öffnen. Der Abstieg über die Haslerrippe war ihnen als nicht mehr zu verantworten erschienen. Die Vereisung war so stark, dass sie vorzogen, über den Mittelaletschgletscher auf den Grossen Aletschgletscher hinabzuklettern. Diesen verfolgten sie bis zum Konkordiaplatz, um schliesslich den ganzen Aletschfirn hinaufzuziehen, und das keineswegs langsam. Sie wollten für uns noch im Hellen sichtbar sein, damit wir keine Sorgen hatten, und verzichteten deshalb auf die nahe Konkordiahütte. Doch dann kam das Unwetter. Eine gewaltige Leistung!
Der Hüttenwart verschwindet in einem Raum, an dessen Tür « Notproviant » steht, und kommt mit einer Flasche Fendant zurück. Ein kräftiger Schluck spült alle Aufregung fort, und beruhigt kriechen wir unter unsere Decken - zu einer sturmdurchtosten Hüttennacht...