Sonnentage am Weisshorn
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Sonnentage am Weisshorn

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Albert Schmidt, Engi ( GL )

Abend im Schalijoch 22. Juli 1985, 16 Uhr, auf 3750 Metern. Allmählich legt sich wieder eine wohltuende Ruhe über Gletscher und Gipfelhöhen. Denn noch vor einer Viertelstunde schraubte sich ein roter Heli aus der versteckten Tiefe des Mattertals empor, kurvte knatternd übers Joch zur Spitze des Weisshorns, schwebte dort eine Zeitlang bewegungslos, um schliesslich zur gleichnamigen Hütte hinabzustechen. Als er danach nicht mehr zurückkehrte, wussten wir, dass sich unsere Befürchtungen über einen Unfall am Gipfel als grundlos erwiesen hatten. Nun stieg unsere Stimmung wieder — und dies auch in Anbetracht des von unserer hohen Warte in einmalig klarer Reinheit sich darbietenden Hochsommertages.

Ich sitze wenige Meter über dem Schali-biwak auf einer sonnenheissen Felsplatte, buchstäblich in einer Theaterloge der Natur, inmitten der Walliser Viertausender, während Carlo Meier, mein Bergkamerad, hinter dem Biwak auf einer Wolldecke liegt und schläft -die Müdigkeit vergangener Tourenwochen in den Knochen. Er ist Bündner, Skilehrer und Bergführeraspirant, hat aber seine Kindheit in Basel und die Jugendzeit auf dem Urnerboden verbracht. Ergebnis: eine exklusive Sprachmischung, die mir sympathisch in den Ohren klingt, aus Baseldytsch, Urnerisch und Bündnerdialekt.

Meine Gedanken schweifen zurück zu unserem letzten Versuch vor Jahresfrist, als uns Pulverschnee und Nebel vom Weisshorn vertrieben hatten. Die Sehnsucht nach dem grossen Gipfel im Alpenkranz überdauerte diese Zeitspanne jedoch mühelos; und nun sind wir bei einem Sommerwetter, wie man schöner es sich kaum vorstellen kann, wiedergekommen.

Still ist es geworden. Nur oben in den ersten, zerborstenen Türmen des Schaligrates hört man den Wind rauschen und drüben im Gesteinsschutt das leise Rinnen des Schmelzwassers. So kann ich die Ruhe geniessen, um ungestört zu beobachten, zu hören und zu fühlen - eine Stunde der Besinnung, wie sie auf grossen Touren sonst schwierig zu verwirklichen ist.

Schneeweiss und wie mit Beilhieben zerhackt stürzt sich ostwärts des Jochs der Schaligletscher in die Tiefe, und nochmals weiter unten streckt der Hohlichtgletscher seine mächtige Schuttzunge als graue Pranke in den Hohlichtkessel hinab. Seine südliche Moräne windet sich schwungvoll und säge-zahnartig wie der Echsenschwanz eines Drachen um den Fuss des Mettelhorns, wo sie die riesigen, graubraunen Geröllhalden seiner 7'-.

Weisshom-Westflanke im Abendlicht.

Von der Cabane d' Ar Pitetta Aussicht vom Schalijoch gegen die Dent Blanche Tausendmeterflanke abriegelt. Ihr gegenüber, auf der Nordseite dieser Eis- und Blockwüste, eine grüne Insel: , lese ich auf der Karte. Der Gletscherbach, der an ihrem Fuss zu Tale stürzt, lässt gedämpft seine Was-sermelodie hören.

Wenn ich mich bergwärts - zum Weisshorn - wende, wandert der Blick prüfend über die zerrissenen, silbergrauen Felsen seiner Ostflanke empor zum Schaligrat mit seinen ockergelb und rot angewitterten Türmen. Oben um den Gipfel tanzen weisse Wolkenwirbel einen festlichen Reigen im tiefdunklen Blau, fahren vereinzelt auch auf unserer Höhe nach Südosten, um sich schliesslich über der Zermatter Gletscherrunde aufzulösen. Im Osten, jenseits des mächtigen Mattertal-Einschnit-tes: Dom und Täschhorn. Ein Zweigespann, das mich an ein in die Jahre gekommenes 15 Abendstimmung am Weisshornjoch Ehepaar erinnert; er, der Dom, mit einem über den Rücken des Festigrates hinabziehenden, schütteren Mantel, sie, etwas vornübergeneigt, eine elegante schneeweisse Robe von den schmalen Schultern herabhängend. Erinnerungen an erste Viertausender-Erfahrungen aus der Jugendzeit fliegen hinüber zum geschwungenen Gipfelkamm der Mischabel...

Je später der Tag wird, um so öfter fährt der Wind mit heftigen Böen über den Grat am Biwak vorbei. Die steile Ostflanke des Schali-horns mit ihrem gebänderten, grauschwarzen Fels liegt jetzt in dunklen Schatten, begrenzt vom schartig zerklüfteten Grat, der sich zum Nordgipfel emporzieht. Wie mit dem Radier-stichel gezogen eine feine Linie dort, wo unsere Spur im Firn zurückblieb.

Mächtig, eine kühne Herrscherin mit scharf gezeichneten Umrissen, dunklen Graten und einem gleissend hellen Brustschild, ragt im Westen die Dent Blanche über den weissen Gletschergrat des Morning. Daneben die breit ausladenden Felsarme des Grand Cornier, der trotz seiner wuchtigen Gestalt die Königin des Val d' Hérens nicht zu erreichen vermag. Schliesslich weit im Westen eine hohe Eiskuppe über bläulich-verschwimmenden Abgründen - der Mont Blanc; und wie ein wild wogender Wellenkamm an ihn anbrandend die Zackenreihe der Argentières-Gipfel.

Plötzliche Dohlenschreie, und schon segeln zwei schwarze Flieger pfeilschnell daher, kurven übers Joch und landen in den Felsen unweit des Biwaks. Eine kurze Inspektion, die ihnen verrät, dass hier nichts Fressbares zu finden ist, veranlasst sie aber alsbald, wieder ab-zutauchen in die schattige Tiefe des Schaligletschers. Im harten Gegenlicht der knapp über dem Horizont stehenden Sonne glänzt das Firnplateau des Glacier de Moiry unterhalb des Grand Cornier. Bereits verliert das Tagesgestirn an wärmender Kraft, und aus schattigen Gletscherschründen steigt langsam ein Hauch abendlicher Kühle.

Carlo kommt lächelnd und mit knurrendem Magen herangetappt. Zeit zum Nachtessen! Bald surren die Kocher, und der Wind oben in den Schaligrattürmen faucht sein aufrütteln-des Lied über ferne Länder und Gegenden dazu.

Im Granit'der Schaligrattürme Mit einem letzten Aufleuchten ist gestern die Sonne um Viertel nach neun untergegangen - einen weiten, klaren Abendhimmel zurücklassend. Heute morgen kündet sie um halb sechs mit einem hellen, transparenten Lichtschein einen ebenso schönen neuen Tag an. Ich stehe oben an einem Standplatz am ersten, massiven Gratrücken des Schaligrates und warte darauf, dass die Strahlen die höchsten Gipfel erfassen. Sechs Uhr. Plötzlich liegt 1 Die geologischen Verhältnisse gemäss Geologischem Atlas der Schweiz, 1:25000, Blatt Randa: Schalijoch bis Pt 4055 des Schaligrates: Gabbro ( seltene Diorite ); Pt 4055 bis Weisshorngipfel: Granitgneise und Augengneise.

ein kleiner roter Funke auf den bis anhin dunklen Felsspitzen des Matterhorns und der Dent Blanche, dann leuchtet die Mont Blanc-Kette unter einem rosigen Lichtschleier auf. Ein Gipfel nach dem anderen entzündet sich, und auf einmal berührt orangerotes Feuerlicht die steile Ostwand des Zinalrothorns, wandert hinab, um alsbald die verwitterte Flanke der Schalihörner zu erreichen. Noch liegen die Gletscher im Schatten - mit gedämpften Farb-abstufungen von Marmorweiss zu Blauviolett. Unter ihren stumpfgrauen Stirnfronten öffnen sich die noch dämmerdunklen Furchen des Mattertales und des Val de Zinal. Aber schon hält Carlo oben am nächsten Stand das Seil gestrafft, das vom Wind immer wieder in weitem Bogen über die Südostflanke hinausgetragen wird. Ich klappe den Fotoapparat zu und steige nach.

Am Grat ist es zu kalt, um ohne Handschuhe zu klettern. Deshalb freuen wir uns stets, wenn die Felsstruktur uns dazu zwingt, auf die Ostseite der Kante auszuweichen. Als wir uns etwa auf 4000 Metern befinden, erreicht uns endlich das über den Grat hinabfliessende Sonnenlicht. Unter seiner wärmespendenden Wirkung wird das Klettern im rauhen, griffigen Fels zum lustvollen Emporklimmen. Wir gehen zügig Seillänge um Seillänge in eingespieltem Rhythmus, aber ohne Hast. Einige Steilaufschwünge bieten herrliche Kletterei, verlocken zum fotografieren, vor allem wenn Carlo unter ausladenden, ockerfarbenen Granitdächern hinausquert, um nachher zur firngekrönten Gratkante emporzuturnen.

Unbemerkt vergeht jetzt die Zeit, und irgendwann im Verlauf des Vormittages rasten wir auf einem Band, wo ein eisiges Couloir in die Tiefe von Ar Pitetta hinabfällt. Von hier an steilt der Grat sich auf. Prüfend blicken wir in die Höhe zu einer Parade zerbrochener, ausgesetzter Gratzacken, die uns wohl noch einige Überraschungen bieten könnten.

Nun, zuerst müssen wir uns über eine brüchige Flanke emporkämpfen, in der uns schlechtes Eis und nasser Firn zu vorsichtigem Steigen zwingen. Carlo erklettert deshalb kurz entschlossen eine senkrechte, aber gut gestufte Wand, so dass er den Grat oberhalb des untersten Turmes erreicht. Ausgesetzt geht es anschliessend der Kante entlang aufwärts. Ein heikler Gendarm, der sich nur unter grossem Zeitaufwand überschreiten liesse, drängt uns nochmals in die Südostflanke hinaus. Der Routenverlauf erweist sich damit plötzlich als viel weniger eindeutig und , als dies vom Schalihorn noch den Anschein gemacht hatte. Wie schon im unteren Wandteil sind auch hier oben kaum Begehungsspuren zu entdecken, und nur ganz selten steckt ein Haken. So sichern wir unsere Seillängen sorgfältig mit Friends und Klemmkeilen. Endlich ragt der letzte Turm kühn wie eine flammende Pfeilspitze über uns ins dunkle Kobaltblau des Himmels.

Die erste Seillänge am kompakten Pfeiler bereitet mir etwelche Mühe - nur zu gern hätte ich adhäsionsfreudige Kletterschuhe anstatt der sperrigen Kunststoffstiefel an den Füssen! Doch es gelingt, und schwer atmend kann ich mich in einer schattigen Felsspalte am Standplatz etwas ausruhen, während Carlo mit Elan die letzte Kaminverschneidung, die den Gendarm teilt, hinaufklettert. Dabei fällt mein Blick auf ein lanzettförmiges Insekt, das vor mir eilig über den gelben Granit hin und her huscht. Ob ihm die Wissenschaft schon einen Namen gegeben hat?

Eine letzte, kleine Scharte öffnet sich, und vor uns liegt die einsame Spitze des Weisshorns. Freudig reichen wir uns die vom scharfen Fels des Schaligrates aufgerauhten Hände. Eine trockene, sonnenwarme Platte knapp unter dem Gipfelkreuz bietet sich uns für die leicht verspätete, aber doch verdiente Mittagsrast an. Selten habe ich einen Aufenthalt auf einem hohen Viertausender so sehr geniessen können wie heute: Ich spüre die Höhe nicht und bin kaum müde. Der Tag ist von strahlender Schönheit, mit einem Himmel von makelloser Bläue über dem Walliser Gipfelkranz. Kaum ein Lufthauch und eine schier unendliche Weite über den sommerlich-dun-stigen Tälern. Nirgends eine Gewitterfront -was mir fast das grösste Geschenk auf Hochtouren zu sein scheint, verleiht es uns doch eine ruhige, gelassene Zufriedenheit. Und dieser Zustand innerer Ruhe erfüllt sich alsbald zur Harmonie einer zeitlosen Gipfelstunde im atmend, weiten Raum.

Der Nordgrat: Abstieg über einen Götterthron Auch der Weg hinab über den schmalen Firnkamm des Nordgrates ist ein Gang voller Harmonie auf einer Schneide, begrenzt von der schattenkalten Eisflanke der Nordostwand einerseits und den zerfurchten, in der Sonne glühenden Felsen der Westwand anderseits. Doch unten im Firnsattel endet das Vergnügen, und der Aufstieg zum Grossen Gendarm, durch weichen Schnee, dann lose Felsen, gleicht einem Erwachen aus beglückendem Folgende Doppelseite: Tiefblick auf den Glacier de Morning. Rechts die Dent Blanche Traum. Über die sich allmählich senkende Gratkante steigen wir hinunter, bis plötzlich der Berg links und rechts in bodenlose Tiefe abfällt. Uns in eine beengende Spalte zwängend, richten wir die Abseilstelle ein. Durch die lotrecht abfallende Wand schweben wir hinab in eine düstere, kalte Gruft. Und gerne queren wir anschliessend hinüber in die Scharte direkt unter dem Grossen Gendarm, von wo es in schöner, luftiger Kletterei der Gratkante entlang weitergeht. Unvermittelt stehen wir exponiert auf einem plattig abfallenden Turm. Ohne lange nach einer möglichen Umgehung zu suchen, seilen wir nochmals ab, und auf gleiche Weise bringen wir auch den folgenden, vereisten Gratrücken hinter uns. Trotzdem ist die Kletterei zeitraubend, und der Tag eilt jetzt sehr rasch dem Abend entgegen.

Endlich stehen wir in der letzten Scharte -vor uns ein senkrechter Aufschwung, der den Weiterweg versperrt. Ich bin froh, dass Carlo die athletische Fünfer-Seillänge als erster in Angriff nimmt. Noch ein Gratzacken, der uns in schöner, ausgesetzter Kletterei zuerst in die besonnte Westflanke, dann über griffige Platten hinauf zu seiner Spitze leitet. Damit enden die Schwierigkeiten, und mit einem leichten Block- und Firngrat entlässt uns das Weisshorn aus seinem hohen Reich.

In der beglückenden Atmosphäre dieses zauberhaft schönen Sommerabends steigen wir über das Weisshornjoch der Gletscherkuppe des Bishorns entgegen. Weit im Nordwesten versinkt die Sonne in einem gelbrot aufglühenden Himmel hinter dem Diablerets-Massiv. Bis zu diesem letzten Augenblick verwandeln ihre wärmenden Strahlen das Schmelzwasser, das über einige Felsplatten in der Firnflanke hinabfliesst, in flüssiges, glitzerndes Gold. Violett und purpurfarben leuchtet die Gletschermulde unterhalb der Tête de Milon über dem schon nachtschwarzen Val de Zinal. Ganz langsam nur verlöscht dieser für uns unvergessliche Hochsommertag, geht in die Nacht über, aus der das Weisshorn hoch und rein dem aufflackernden Sternenhimmel entgegenwächst - ein vollendetes Denkmal, Sinnbild von Traum und Wirklichkeit für Bergsteiger und Höhenwanderer.

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