Streifereien im Clubgebiet
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Streifereien im Clubgebiet

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Ernst Buss, Pfarrer.

Streifereien im Clubgebiet Von Der Sommer 1877 war für Hochgebirgstouren ungünstig. Wer nicht im Juni schon flügg werden konnte, dem gelang es später bei der Unbeständigkeit der Witterung kaum mehr, auch nur ein bescheidenes clubistisches Programm mit Genuss durchzuführen. So sah auch ich mich genöthigt, die etwa ausgeheckten weitergehenden Pläne an blosse Streifereien im gemüthlichen Schlendermarsch des Spaziergängers zu vertauschen Man suche daher in diesen Zeilen keine Schilderung grossartiger Bergfahrten, sondern nur flüchtige Reiseskizzen, an sich unbedeutend und doch vielleicht hie und da zur Orientirung willkommen.

1. Linththal.

Mein erstes Wanderziel war Linththal, von wo aus ich dem Tödi einen Besuch abzustatten beabsichtigte, um dort womöglich das Panorama der Bündner Alpen zu skizziren, ein Plan, der freilich an der Ungunst des Himmels gänzlich zu Schanden wurde.

Die Fahrt durch das Glarner Grossthal war mir ein hoher Genuss. Diese imposante Gebirgseinrahmungj diese Gedeihlichkeit der Vegetation, die dem Weinstock bis nach Hätzingen und selbst Betschwanden ( 597 m ), der Buche bis an den Küchen- und den Kammerstock oberhalb Linththal vorzudringen gestattet, diese stolzen, schmucken, gewerbfleissigen Dörfer werden das Auge immer fesseln.

Das Linththal ist das Thal der Contraste: In das Rauschen der Wasserfälle mischt sich seltsam das Schnurren und Schwirren der Spinnereien, deren hohe Kamine neben den mächtigen Felsmauern der Thalwände fast verschwindend klein erscheinen, als wollten sie zeigen, wie kleinlich alles Gebilde von Menschenhand dem Schaffen der Mutter Natur gegenüber erscheint. Vor dem lärmenden Treiben der Fabriken hat, sich das friedlich stille Hirtenleben zu den Höhen hinauf geflüchtet. Mit der alten Landestracht und Landessitte ist auch manche Poesie und manche Sage verschwunden; die Bergmännchen sammt den übrigen verwandten Gestalten des alten Volksglaubens haben sich vor dem Hämmern und Pfeifen der Fabriken in unwirthliche Höhen zurückgezogen; nur auf der einsamen Nüschenalp, hoch über dem Limmerntobel, wird noch von Zeit zu Zeit das « Nüschenenmannli » von den Sennen gesehen. Im Thalgrunde ist die Königin Industrie eingezogen und duldet keine anderen Herrscher neben sich; droben aber baden die altehrwürdigen Fels- und Schneekuppen ihre Häupter in majestätischer Ruhe in Aether,'Wolken und Sonnenschein; nur gut, dass sie sich nicht stören lassen durch den erbitterten Ringkampf der Interessen, der in der dumpfen Tiefe unter dem kurzlebigen Ameisengeschlecht der Menschen gefochten und doch nie ausgefochten wird!

Linththal ist ein wunderhübscher Ort. Wie gewaltig erhebt sich der Ortstock zu seiner Rechten! wie männlich schützt der Kammerstock die wohlgebettete Dorfschaft gegen die Unbilden, die ihr sonst etwa von den Firnmassen der Clariden und des Tödi drohen möchten, und wie freundlich lässt dieser Letztere sich in der Ferne mit seinen Schildknappen zur Linken sehen! Lieblicher Friede scheint auch sonst auf dieser Gemeinde zu ruhen. Zwar erinnern die zwei verschiedenen Kirchen an Zeiten ernsten Streits, an die Kämpfe der Jahre 1523-1531, wo bald die eine, bald die andere Confession sich ihres Rechtes fast mit Gewalt erwehren musste, bis endlich die Landsgemeinde vom Dezember 1531 entgegen der Forderung der 5 Orte entschied, das Volk im Grossen und Ganzen bleibe zwar jetzt beim reformirten Glauben, doch solle es den Gemeinden Glarus, Näfels, Schwanden und Linththal gestattet sein, die Messe wieder abzuhalten. Auch steht heute noch die katholische Kirche mit ihrem melancholischen Gottesacker wie schmollend abseits an der Halde des Kilchenstocks. Allein nichtsdestoweniger leben die Angehörigen der beiden Confessionen in bester Eintracht miteinander. Und diese Eintracht scheint auch zwischen Schule und Kirche zu bestehen; denn das evangelische Pfarrhaus und das Schulhaus sind ein und dasselbe Gebäude. Der Pfarrer wohnt im Schulhaus und die Jugend geht im Pfarrhaus zur Schule.

Im Gasthaus zur Post traf ich 's zum Schluss einer Sitzung von Männern, die ich für Gemeindevorsteher ansah und die mit der anwesenden regierungsräthlichen Polizeicommission die Verbauung des wilden Durnagelbaches berathen hatten. Als ihre Leutseligkeit mich mit ihnen in 's Gespräch brachte ,'erinnerte ich mich, in Osenbrüggen's Wanderstudien gelesen zu haben, dass im Kanton Glarus bei der Unvergänglichkeit der einmal erlangten Titel jeder besser gekleidete Mann zuverlässig entweder ein Landrath oder ein Präsident -oder Richter sei. Ich begrüsste also den ersten der Gestrengen als Herrn Landrath, den zweiten als Präsidenten, und wie aus einem Munde kam mir die Antwort entgegen: « woher kennen Sie uns? » Die Osen-brüggen'sche Regel hatte sich als richtig erwiesen.

2. von Linththal nach Elm.

Da eine erfolgreiche Tödibesteigung zum Zweck des Zeichnens sich immer mehr als unthunlich erwies, die beiden Führer Zweifel auch bereits anderweitig engagirt waren, so brach ich am andern Morgen auf nach Elm. Die directe Verbindung zwischen Gross- und Kleinthal ist der Richetlipass ( 2263 m ), der durch das Durnachthal zwischen Kalkstöckli und Leiterberg hindurch und über die Wichlenmatt zum Panixerpassweg führt. Dieser Uebergang schien mir indessen denn doch zu wenig zu bieten. So entschloss ich mich für die ,Route Saasberg-Bützistock-Hahnenstock- Wichlenmatt, um wenigstens einigermassen auch in die Höhe zu kommen. Mein Führer war die Karte ( die sich, nebenbei bemerkt, als sehr zuverlässig erwies ), mein Begleiter ein braver, aber der Gegend wenig kundiger junger Mensch. "

Da die Durnagelbrücke fortgerissen war, konnten wir nicht den gewöhnlichen, auf der Karte gezeichneten Weg einschlagen, langten aber dennoch nach 3 Va stündigem Marsch durch Tannenwald und steile Weiden auf dem Saasberg an. Es ist dieser ein beliebtes Excursionsziel der Stachelberger Kurgäste. Die Aussicht muss nach seiner ganzen Lage wie nach dem von dort aufgenommenen lithographirten Panorama auch wirklich sehr lohnend. sein; leider aber war uns der schönste Theil derselben, der Blick in 's Hochgebirge, durch schwere Wolkenmassen fast ganz verhüllt. Die untern Partien der Hausstock- und Tödigruppe, der hell beleuchtete Urnerboden, Glärnisch, Oberblegisee, dazu das ganze Linththal mit seinen reizenden Ortschaften bis hinab nach Mitlödi und Ennenda, im Hintergrund die Kurfirsten, boten immerhin ein höchst sehenswerthes und anziehendes Bild dar. Die Sennhütte war verlassen. Da übrigens in Linththal nur einzelne Männer das Alpvieh besorgen, die Weiber und Kinder aber im Thale bleiben, so bietet das Äelpler-leben dort nicht den Reiz eines sommerlichen Bergaufenthaltes ganzer Familien, wie dies im Berner Oberland der Fall ist, und die vielbesungenen Sennerinnen würde man dort vergeblich suchen.

Auf der südöstlichen Fortsetzung des immer höher ansteigenden Saasberges erheben sich zwei ganz an-, sehnliche Felsenkegel, der Bützistock ( 2340 m ) und der Hahnenstock ( 2565 m ), der höchste Punkt zwischen Kärpfstock und Mättlenstock. Diese steilen und keineswegs ganz ungefährlichen Kuppen wurden nun erklommen, doch ohne mir einen andern Genuss zu verschaffen als den des Herumstreifens und Kletterns in den einsamen Regionen der frischen, enquickenden Alpenluft. Denn meist waren wir von dichtem Nebel- umgeben, der das Wandern à la découverte erschwerte, und wenn der Schleier sich etwa einmal hob, so war es nur, um uns weit unten in der Tiefe des Durnach-thales alte Gletschermoränen und weidende Kühe zu zeigen oder einen flüchtigen Durchblick auf den majestätisch über das Gewölk emporragenden Hausstock zu gestatten. Allein ein Genuss war diese Streiferei immerhin. In der Tiefe balzten die Birkhühner, aus der Kühthalmatt herauf drang das Pfeifen der Murmelthiere; Dohlen, Krähen und Bergfalken flatterten an den Gräten herum, Gemsspuren verriethen die Nähe dieses Edelwilds, unter dem Bützistock wetzte ein Wildheuer oder « Kütener » seine Sense, den Hut schmückten Bergaster und Edelweiss, dazu blies ein herrlich frischer Gletscherwind herüber vom Meer- und Haus-stockgletscher — kurz: ich war wieder in den Bergen! Der Abstieg vom Fuss der Hahnenstockkuppe schnurgerade auf die Wichlenmatt hinunter über ausserordentlich steile, stellenweise fast senkrechte Felsabhänge trieb meinem jungen Gefährten den hellen Angstschweiss auf die Stirne. Es war in der That ohne Seil und Führer ein ziemlich gewagtes Unterfangen, ging aber schliesslich doch ganz glücklich von Statten. Nachdem wir den Bergstock wenigstens in ein Dutzend Höhlen von Murmelthieren gestossen und von allen Seiten den gellenden Laut dieser friedlichen Alpenbewohner vernommen hatten, wurde uns schliesslich auf der Wichlenmatt die Freude zu Theil, in nächster Nähe drei dieser « Munggen>, wie der Glarner sie nennt, ^iuf Einen Schlag zu sehen und eine Weile « inbemerkt belauschen zu können. Das eine gefiel sich darin, regelrecht das Männchen zu stellen, das andere rannte pfeifend wie toll im Kreise herum, während das dritte ruhig vor seinem Loche sass. Ein Knirschen der Steine unter dem Fuss — und alle drei waren Verschwunden.

Die bärtigen Sennen der obern und untern Wichlenalp, wo Schafe, Schweine, Kühe und Kälber in friedlichem Durcheinander grasten, boten uns freundliche Aufnahme. Sie erzählten unter Anderm, dass kürzlich aus dem Lawinenschnee am Fuss des nahen Hausstock eine Gemse todt hervorgezogen worden sei, die offenbar von einer Lawine erfasst und fortgerissen worden war. Ueber Karrenfelder, steile Halden und saftige Weiden ging 's weiter dem Thale zu, wo in der Ferne bereits wieder bewohnte Häuser winkten, und Abends 45 Uhr waren wir im freundlichen Elm.

3. Elm.

Ein traulicheres, reizenderes Bergidyll als das stille, kleine Elm mit seinen prächtigen Ahornwäldern, seinen braunen, freundlichen Häusern und seiner fröhlichen Jugend ist mir noch kaum zu Gesicht gekommen. Da müsste ein Sommeraufenthalt bei günstigem Wetter ein wahrer Genuss sein. Ich nahm mir Zeit, wenigstens einen Tag dort zu bleiben, um planlos in der Gegend' herumzuschweifen und die Ruhe dieses echt alpinen und doch so wirthlichen Hochgeländes einigermassen zu kosten. Und so schlenderte ich denn am folgenden Morgen zurück nach Hinter-Steinibach, wo mich Tags'zuvor die winzigen Dörfchen von. Ziegenställen zum Zeichnen gereizt hatten, um sie nunmehr zu skizziren, schlenderte hinauf gegen die Bischofsalp, hinüber zur Embächlialp, über Eggberg, Speicher, Wald, kreuz und quer, wie 's die Fusswege und abgemähten Wiesen mit sich brachten, um gegen Abend durch das schattige Ahorn- gehölz oberhalb des Dorfes wieder hinunter zu steigen. Den ganzen lieben Tag streifte ich so in massiger Höhe über der Thalebene herum, freute mich all der Majestät " und Lieblichkeit, die der Schöpfer über dieses friedliche Thal ausgegossen hat, und prägte mir die imposanten. Bilder des Hochgehirgspanoramas ein, das hier ein so überaus reiches und mannigfaltiges ist, die Bilder der Hausstockkette, des Vorab mit dem zweizackigen Zwölfihorn, der phantastisch .ausgezackten Tschingelhörner, die auch Mannen, im Kanton Graubünden aber Jungfrauen genannt werden, von welchen das Martinsloch wie ein helles, offenes Fenster in 's Thal herabschaut,, des Sardona oder « Sauren », wie die Eimer ihn nennen, mit seinen Ausläufern, des zerrissenen Kärpfstockes'und seiner wilden Trabanten.

. Auf der Bischofsalp hatte ich über mir einen Felsenthurm, welcher den Namen Taufstein trägt, gegenüber das Mörderhorn und das Martinsloch. Jeder dieser Namen, wie auch die betreffenden Felsbildungen dazu gekommen sein mögen, sie zu erhalten, scheint der in den Alpenthälern sonst so fruchtbaren Sagenbildung hinlänglich Anlass zu bieten, an sie anzuknüpfen. Aber niemand wusste mir anzugeben, woher diese Namen stammen, noch eine Sage von einem Mord, einer Taufe, einem Bischof oder dem heiligen Martin zu nennen, die sich etwa um diese Berge angesetzt hätte. Selbst ein 75jähriger Greis, mit dem ich oben auf Eggberg mich längere Zeit unterhielt, wusste sich keiner bezüglichen Deutung zu erinnern. Während sich einzig aus den Sagen des Ober -Simmenthaies ein ordentliches Büchlein zusammenschreiben liesse, scheint im Glarnerlande der Strom der Sage in der That am Versiegen zu sein; und es ist ohne Zweifel hohe Zeit, dass sachverständige Forscher sammeln und zu retten suchen, was überhaupt noch zu retten ist, eine Aufgabe, die es wohl werth wäre, von der so rührigen Section Tödi mit Fleiss und Umsicht an die Hand genommen zu werden.

Jener Fünfundsiebziger, ein übrigens recht verständiger und treuherziger Mann, war noch ein interessantes Stück gute alte Zeit. Trotz der Last seiner Jahre immer noch eine grosse, breitschultrige, stattliche Gestalt, mit frischem Auge und festem Tritt, wie denn die Kleinthaler überhaupt ein schöner und kräftiger Menschenschlag sind, trug er gemslederne Hosen, die nur bis an die Knie reichten und unten geschlitzt und mit Seitenknöpfen versehen waren, dazu schwarze Strümpfe. Er sagte mir, diese Kniehosen habe er vor 50 Jahren an seinem Hochzeitstage zum ersten Mal getragen und er besitze nur solche.Vielleicht bestand damals noch die nun in Abgang gekommene Sitte, dass jeder Glarner, der zwischen Jakobi und Martini Hochzeit hielt, von Staates wegen ein Paar Gemslederhosen, wenn sein Hochzeitstag aber zwischen Martini und Jakobi fiel, durch den Wildhüter zwei Gemsen als Heirathsgabe erhielt.

Originell ist die Ziegenwirthschaft in Elm. Die Gemeinde besitzt bei kaum 1000 Seelen ausser einem sehr beträchtlichen Rindviehstand gegen 1000 Stück Ziegen. Diese sind in vier Heerden oder « Geisshirti » abgetheilt und werden zur Sommerszeit alltäglich auf vier verschiedene Allmenden in ziemlicher Höhe zur Weide getrieben. Früh am Morgen tönt das Horn des Hirten durch das Dorf, die Ziegen werden aus dem Stalle gelassen und folgen ihm lustig auf die Alp. Am Abend kehrt die Heerde zurück, und jedes Thier geht von selber zu seinem Stall, um nun gemolken zu werden. Wer nun nicht an der Strasse wohnt, baut sich an derselben ein besonderes Gemach für seine Ziegen. So haben sich an verschiedenen Stellen, unter Andern am Steinbach, ganze Colonien, kleine Dörfchen von Ziegenställen gebildet, die einen ganz allerliebsten Anblick gewähren. Welche Freude wurde unter der muntern Dorfjugend rege, als am Abend die gewohnte Heerde durch hundert verschiedene Schellen sich schon von weitem ankündigte! ' Wie lebte in mir die Erinnerung an die eigene, in Grindelwald verlebte erste Jugendzeit, wie an die einstigen Freuden meiner Kinder auf, als ich ein kleines Bübchen jauchzend mitten unter die Heerde hüpfen, eine weissgefleckte Ziege um den Hals fassen 116Ernst Buss.

und triumphirend mit ihr davontraben sah unter dem beständigen Ruf: das ist die meineDie Eimer trinken selbst fast ausschliesslich Ziegenmilch, um die Milch der Kühe für die Käsebereitung zu verwerthen, und an Käse haben sie reichen Vorrath, er bildet ihre Hauptnahrung.

Ich fand unter der blondlockigen Kinderwelt von Elm noch eine andere Jugenderinnerung wieder, das Knöchelspiel, das in den Hochthälern des Berner Oberlandes eine Hauptfreude der Kinder bildet, das auch im Alterthum bei Griechen und Römern bekannt war, in den tiefern Gegenden der Schweiz aber meines Wissens nirgends vorkommt.

Doch Elm fordert auch zu ernstern Betrachtungen auf. Dort war es ja, wo jener schreckliche Alpenübergang des russischen Heeres im October 1798 stattfand, bei welchem hunderte von Menschen und Pferden vor Hunger, Frost und Erschöpfung elendiglich dahin-schmachteten, in die schauerlichen Schluchten des Panixerpasses hinabstürzten oder von Lawinen zu Dutzenden hinweggerafft wurden. « Die bleichen Gebeine, die rostzerfressenen Hufeisen und die vermoderten Sattelstücke in den Abgründen dieses Passes sind noch heute die stummen Zeugen jener furchtbaren Tage und Nächte », die Suwarow mit den unglücklichen, an Hochgebirgsmärsche nicht gewöhnten Söhnen der russischen Ebenen hier verbrachte ( vgl. einen Feuilletonartikel der N. Z. Z. von 1877, von Senn-Barbieux ). Dieses schreckenvolle Schauspiel steht bei der Bevölkerung noch in lebendiger Erinnerung als das grösste Ereigniss, das sich je in diesem stillen Thale zugetragen.

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4. Durch das Martinsloch.

Da sich der Himmel einer grössern Bergtour wieder geneigter zu zeigen schien, so verabredete ich mit dem bekannten trefflichen Führer Heinrich Eimer auf den folgenden Tag einen Marsch quer über die ganze Sardonagruppe: Piz Segnes, Saurengletscher, Saurenstock, Scheibe, um von dort über den Sardonagletscher in 's Kalfieuserthal hinabzusteigen, für einen Alpenclubisten gerade kein sehr hochfliegender Plan, da der höchste Punkt der Gruppe, der Piz Segnes, nur 3102 m Höhe erreicht. Allein selbst dieses Geringe war mir nicht vergönnt. Eben in jener Nacht ( 30. Aug. ), die über die Ausführbarkeit meines Planes entscheiden sollte, entlud sich über die ganze Schweiz das schreckliche Gewitter, das in allen Kantonen zahlreiche Häuser eingeäschert und furchtbaren Schaden angerichtet hat. Trotz gänzlich ungünstiger Vorzeichen brachen wir um 4 Uhr immerhin auf, um wenigstens zu versuchen, was sich versuchen liess, da die Möglichkeit, es könnte auf die reinigende Gewitternacht vielleicht ein klarer Tag folgen, nicht ausgeschlossen war.

Wir schlugen den Segnespassweg ein. Was auf. diesem zuerst das Interesse in Anspruch nimmt, sind die Schiefersteinbrüche zu unterst im Tschingelwald. Erst Jahrhunderte nach denen -von Matt und Engi entdeckt, haben sie doch im Zeitraum von 10 bis 15 Jahren ihre altern Concurrentinnen bereits überflügelt, indem sie das beste Material für Tafeln und Griffel liefern, das bis zur Stunde bekannt ist. Bei Tage hört man auch alle Augenblicke die Sprengschüsse aus den- 118Ernst Buss.

selben hervordringen und den Knall in dem engen Thale an allen Felsen wiederhallen. Diese Brüche sind eine wahre Goldgrube für die Glarner Kleinthaler, und die damit verbundene Industrie bringt jahraus jahrein ein munteres Leben in das stille Alpenthal. Ueber die Bedeutung und Tragweite dieses Industriezweiges, über die Art und Weise der Ausbeutung des Schiefers, sowie über die darin vorkommenden Fischversteinerungen gibt Senn-Barbieux in dem oben erwähnten Feuilleton der N. Z. Z. eingehenden Aufschluss.

Der Aufstieg durch die Schlucht des Tschingelbaches mit ihren prächtigen Wasserfällen, über Tschingelalp und Brüschegg ist den Lesern des Jahrbuches aus dem B. und 10. Jahrgang ( VIII, p. 275 ff.; X, p. 579 ff. ) hinlänglich bekannt.

Als wir uns der Passhöhe näherten, trat die entscheidende Frage an uns heran, ob die beabsichtigte Besteigung des Segnesspitzes und seiner nördlichen Nachbarn rathsam sei oder nicht. Da der Südwind wehte und die Gipfel sämmtlich bis tief herab von Wolken umhüllt waren, so war mit Sicherheit vorauszusehen, dass wir nicht nur keinerlei Aussicht haben, sondern auch früher oder später durch Regen oder Schnee wieder heruntergetrieben würden. Um mir nun wenigstens etwelchen Ersatz für die wiederholten Enttäuschungen zu verschaffen, beschlossen wir den Durchgang durch 's Martinsloch.

Dieses interessante Felsenfenster wurde 1865 zum ersten Mal von der Section Tödi von der Glarnerseite erstiegen. Im Jahre 1877 war es noch nicht betreten worden. Es bietet von dieser Seite immerhin seine nicht zu verachtenden Schwierigkeiten dar, da auf der letzten Strecke theils beinahe, theils vollkommen senkrechte Felswände zu überwinden sind. Nicht ganz leicht ist ferner die Kletterei über eine zwischen Felsen eingeklemmte, mit Schiefersand leicht überdeckte und desshalb aus der Ferne unbemerkbare Eismasse, den Rest eines im Uebrigen verschwundenen Gletscherchens. Hier mussten senkrecht über einander Stufen gehauen werden. Der Felssatz, der gleichsam die Brüstung.zum Fenster bildet, und von welchem Hauser in seiner Beschreibung, Jahrbuch VIII, 277, sagt, er sei nur mit Hülfe des Seiles zu überwinden, machte uns ebenfalls zu schaffen, doch kamen wir auch ohne Seil ganz gut durch. Um 9 Uhr war das Ziel erreicht.

Was die Beschaffenheit dieser unter den Tschingelhörnern durchgehenden Felsenhöhle anbetrifft, so habe ich zu der Darstellung, welche Landrath Hauser von derselben gibt, nur Weniges beizufügen. Man würde sich vom Martinsloch eine irrige Vorstellung machen, wenn man sich dasselbe etwa cylindrisch verlaufend dächte. Die obere Wölbung hat allerdings vollständige Aehnlichkeit mit einem Tunnel, der Boden aber bietet keinerlei Fläche dar. Vielmehr zieht sich quer durch die Höhle ein nur schmales Grätchen, auf das man sich rittlings setzen muss, das eine Bein im Kanton Glarus, das andere in Graubünden, wenn man nicht Gefahr laufen will, bei der leisesten Bewegung auszugleiten und nach der einen oder andern Seite in die Tiefe zu stürzen. In der Höhle sich etwa lustwandelnd zu ergehen wäre also eine reine Unmöglichkeit. 10 bis 12 Schritte lassen sich auf dem Grätlein thun von einer Wand zur andern; nach vorwärts und rückwärts aber muss geklettert werden, da die Oeffnung nach beiden Seiten sofort steil abfällt. Es bedürfen demnach auch die Angaben des Herrn Hauser betreffend die Dimensionen etwelcher Berichtigung. Die Länge des Martinsloches von Nordwest nach Südost mag an der Decke in der That 46 Fuss betragen, die Breite, resp. die Richtung Nordost-Südwest in der Flucht der Tschingelhörner 20-30 Fuss; die vertikale Höhe aber ist sehr verschieden, je nachdem man sich an den Eingang oder in die Mitte versetzt. Am Eingang von der Glarnerseite beträgt sie reichlich 75 Fuss, wie Hauser angibt, am Ausgang nach der Bündnerseite aber kaum 50 Fuss und in der Mitte, d.h. vom Grätchen bis hinauf an 's Gewölbe, schwerlich mehr als 30 Fuss.

Der geneigte Leser möchte vielleicht versucht sein, sich den Aufenthalt in dieser Grotte höchst idyllisch vorzustellen, als sässe man da in der Höhe des ewigen Schnees an einem gegen die Unbilden der Witterung gänzlich geschützten, ruhigen Plätzchen. Ich kann ihn aber versichern, dass durch dieses Loch ein so abscheulicher, Mark und Bein durchdringender Zugwind saust, dass man unter Umständen ordentlich froh ist, wieder daraus wegzukommen, und wäre es auch nur, um nicht unaufhörlich den Fortbesitz von Hut und Plaid, von Opernglas und Karte dem raubgierigen Sausewind abringen zu müssen und in Ruhe eine Herzstärkung zu geniessen.

Aussicht hatten wir keine als auf das friedliche Elm tief unten zu Füssen und in ein unendliches Nebelmeer über uns. Der Abstieg auf der Bündner- seite bot keine besondern Schwierigkeiten dar. Auf'dem jenseitigen Ufer des unbedeutenden, von Hauser mit Namen Martinslochfirn belegten Gletschers trafen wir mit einem Zürchertouristen zusammen, der in Begleitung seines Führers den Flimser Waldhäusern zustrebte. Da Eimer Tags darauf als am 1. September zur Eröffnung der Gemsjagd rechtzeitig auf demJPosten zu sein wünschte, so entliess ich ihn hier und Schloss mich Herrn B. an, in dessen liebenswürdiger Gesellschaft der Weg nach Flims und den prächtigen Waldhäusern sich trotz stockdickem Nebel und zuletzt noch strömendem Regen zum angenehmen Spaziergang gestaltete. Eine lohnende Abschweifung nach dem.von einer Menge Bäche durchzogenen, an die Stirne des ansehnlichen Segnesgletschers sich anlehnenden Segnesboden ( Segnes sura ) führte uns zu einer Stelle, die Keiner, der den Pass überschreitet, unbesucht lassen sollte. »Es befinden sich nämlich am südlichen Ende des genannten Bodens, eines mit Geröll und Sand ausgefüllten Seebeckens, bei Punkt 2349 der Curvenkarte eine Menge Strudellöcher oder Gletschermühlen von einer. Schönheit und Vollendung, wie ich sie selten gesehen. Es fehlen dabei auch die Werkzeuge nicht, welche bei dem gewaltigen Aushöhlungswerke gedient, die am Rand dieser Riesentöpfe Jahrtausende lang in wirbelnder Bewegung gerieben und abgeschliffen und dabei ihre eigenen Ecken gründlich abgestossen haben, die Mahlsteine. Da hatte einst der Segnesgletscher mit seiner ganzen Wucht gearbeitet. Jetzt fliesst nur noch ein unbedeutendes Wässerchen durch, das nicht im Stande ist, die Mühle weiter in Bewegung und die in der Tiefe der Gletschertöpfe liegenden Steine von theilweise ganz beträchtlichem Umfang, wie glatt und rund sie auch sein mögen, fernerhin in Rotation zu setzen.

Die Natur hat überall ihre Wunder, und unser Bergland, diese Wahlstatt ungeheurer Schöpfungs-schlachten, ist, ob auch viel bereist, doch noch nie zu viel bewundert worden. Auch die bescheidene Nachlese, die sich auf kurzen, flüchtigen Streifereien machen lässt, ist reich genug, um Geist und Gemüth auf Wochen hinaus nachhaltig zu erquicken. Und mit dem Sinn für die Natur nimmt stets auch der Sinn für Natürlichkeit und geistige Schönheit zu. Möge das Gebirge daher noch immer mehr der geweihte Wallfahrtsort aller höherstrebenden Gemüther werden!

IL

Freie Fahrten.

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