Streifzüge durch Neuseelands Berge
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Streifzüge durch Neuseelands Berge

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Mit 5 Bildern.jVon Max Spoerri.

Es war von jeher ein überwältigendes Gefühl der Freude und ungeduldigen Erwartung in mir, wenn ich aus dem Tiefland den Bergen entgegenfuhr. Diesmal jedoch kann ich meine freudige Erregung kaum meistern: ich glaube heimzufahren — zurück zu Langvermisstem; und nach monatelangen Seereisen und Streifzügen durch Busch und Wüsten Australiens sehnt sich mein ganzes Ich nach frischer Bergluft, nach Eis und nach Schnee, wie sich nur die Seele eines Berglers nach seinen Gipfeln sehnen kann.

Die äusserst bequeme und willkommene Einrichtung zahlreicher öffentlicher Feiertage in diesem südlichsten Inselreich der Erde macht es mir möglich, einen Abstecher in Neuseelands Berge zu unternehmen. Wie soll es mir da nicht ums Jauchzen sein, trotz dem griesgrämigen Gesicht, das der Himmel zeigt!

Von Christchurch — der Hauptstadt der südlichen Insel von Neuseeland — führt eine sehr gut gehaltene Bahnlinie in direkter Richtung hinüber zur Westküste, immerhin eine Reise von ca. 7 Stunden. Doch unterwegs wird der Zug freundlicherweise speziell für mich irgendwo anhalten — längs einer grossen Ebene: und dort steht ein Kleinflugzeug bereit, das mich raschmöglichst an meinen Bestimmungsort bringen soll. Sie sind sehr fortschrittlich organisiert, die neuseeländischen Bahnen; und vom « Dienst am Kunden » könnte manche europäische Bahndirektion von ihnen lernen.

Die Landschaft, die unser Express mit ziemlicher Geschwindigkeit durcheilt, ist anfänglich nicht sehr interessant; es ist meistens « Schafland », d.h. mit spärlichem Graswuchs bedeckte Ebenen und Hügel, allerdings lange nicht so spärlich bewachsen wie stellenweise in Australien. Doch wie wir höher klimmen, ändert sich das Landschaftsbild — sanfte Höhenzüge, kurze, schmale Täler mit sattem Graswuchs —, und schon sieht man ab und zu einen kleineren Wasserfall. Gurgelnde Bäche und muntere Flüsse wechseln in bunter Reihenfolge; und endlich erscheint auch aus dem Gewölk heraus der erste schneebedeckte Gipfel. Mir hüpft das Herz im Leibe ob dieses langentbehrten Anblickes. Aber je höher wir gelangen, desto unfreundlicher schaut das Wetter aus. In Arthur's Pass, ca. 1000 m, regnet es dann richtig, und ein eiskalter Wind lässt uns bis in die Knochen erschauern.

Dann kommt eine Hiobsbotschaft für mich: der Zugführer übergibt mir ein Telegramm des von mir bestellten Piloten mit der kurzen Mitteilung, dass infolge unsichern und schlechten Wetters nicht geflogen werden könne. Das bedeutet für mich einen vollen Tag Verlust, denn auf dem Landwege dauert es eine Ewigkeit, bis man den Bergen nahekommt. Soll es sich bewahrheiten, was mir meine Freunde in Wellington gesagt haben: « Westküste? 7 Tage? Unmöglich — man rechnet einen Monat für diese Unternehmung! » Man redet der Westküste, d.h. dem prächtigen Berglande Neuseelands, nämlich nach, dass es dort durchschnittlich in der Woche 5—6 Tage regne oder sonst STREIFZÜGE DURCH NEUSEELANDS BERGE.

schlechtes Wetter sei. Meine Laune bessert sich nicht, als die Nebel immer tiefer fallen — und so passieren wir dann das Feld, wo das Flugzeug mich hätte in Empfang nehmen sollen. Aber nach einer weiteren Stunde schlüpft ein Sonnenstrahl durch das düstere Gewölk und langsam klart es auf. Wir sind inzwischen auch in Greymouth, d.h. an der Westküste angelangt. Bis Hokitika, der Endstation der Bahn, sind es weitere 100 km und von dort aus nochmals ungefähr gleichviel bis zum Hotel Franz Josef-Gletscher, wo ich erwartet werde. Kurz bevor der Zug die Station wieder verlässt, kommt ein Junge in die Halle gelaufen und schreit aus Leibeskräften einen undefinierbaren Namen und etwas von einem « Aeroplan » — und geistesgegenwärtig springe ich aus dem schon fahrenden Zug, denn da sich niemand anders meldet, muss das doch mich angehen. Richtig: da sich das Wetter sehr gebessert hat, kann nun doch der Flug gewagt werden, und der Pilot ist hierher gekommen, um mich in Empfang zu nehmen. Hurtig zum Flugplatz, und in 10 Minuten schweben wir schon über dem Zug vorbei den Bergen entgegen.

Wir fliegen in nur etwa 300 m Höhe der Küste entlang. Golden strahlt nun die Abendsonne durch das Gewölk, und der Gischt der unter uns majestätisch hereinrollenden Meereswellen leuchtet in allen Farben. Vor uns liegen immer noch Wolkenbänke, aber im allgemeinen sieht es nicht schlecht aus, wie der Pilot mir versichert. Wir bewegen uns ein wenig landein und überfliegen nun dichten Urwald. Es ist nicht dieselbe Art Urwald hier wie z.B. in den Tropen, obwohl die Vegetation mindestens ebenso dicht wächst und es auch hier beinahe unmöglich ist, durchzukommen. Aber es fehlt all das giftige und kriechende Getier, es fehlt die modernde Fieberhitze, doch es fehlen auch Pfade jeder Art. Neuseeland hat den richtigen, idealen Urwald, Neuseeland beherbergt keine Schlangen, überhaupt keine gefährlichen wilden Tiere. Seine riesigen Wälder aber sind voll prächtiger Hirsche und Rehe, so gut wie seine Berge noch die Heimat von unzähligen Gemsen sind. Und diese Strecken voll reichster und sattester Vegetation sind vollständig unbewohnt, ungerodet. Doch ab und zu können wir eine kleine Rodung sehen; eine armselige Hütte mag dort stehen, wo sich noch vor kurzem ein Goldsucher nach dem gelben Sande abgemüht haben mag.

Wir müssen unserem Ziele schon sehr nahe sein, denn es ist empfindlich kalt, was die Nähe des Gletschers vermuten lässt. Der Pilot lässt mich wissen, dass wir mit grossen Landungsschwierigkeiten zu rechnen haben, da der Wind sehr ungünstig stehe. Ob er wohl auf diesem winzigen Platz hier unten landen will? Richtig, so ist es. Ein kleines Feld, wo man notdürftig die Steine weggeräumt hat, von nur ca. 100 m Länge. Wir kreisen und kreisen, bis wir dann endlich etwas unsanft aufsetzen und doch heil und ganz dem kleinen Flugzeug entsteigen. Wir sind am Franz Josef-Gletscher, in der Waiho Gorge.

Peter Graham — einer der Besitzer des Hotels — kommt mich be- grüssen .Ich bin diesem sympathischen Mann, der übrigens namentlich in seinen jüngeren Jahren der berühmteste und bekannteste Führer in den neuseeländischen Bergen gewesen ist und noch heute einen guten Namen geniesst, seinerzeit auf seiner Europareise, die ihn auch in die Schweizerberge brachte, begegnet und habe damals seine Einladung, ihn einmal in seinem Reiche zu besuchen, lächelnd angenommen, nie ahnend, wie bald sich dies tatsächlich bewahrheiten sollte. Am Fusse des prächtigen und mächtigen Franz Josef-Gletschers, der eine Länge von ca. 13 km hat, haben die Gebrüder Graham seit einigen Jahren ein komfortables Hotel erbaut. Ferner sind in der nahen Umgebung Wege und Stege für prächtige Spaziergänge entstanden, und ein Stab von guten Bergführern steht zur Verfügung des Hochturisten. Die gesamte Bergausrüstung samt Schuhen kann dort gemietet werden, so dass man sich nicht um die halbe Welt herum mit viel Gepäck zu schleppen braucht. Auch haben die Grahams die sogenannte Almerhütte errichtet — die meisten Hütten und Gipfel in Neuseeland sind nach berühmten Bergpionieren oder andern historischen Persönlichkeiten benannt —, welche auf ca. 6000 Fuss Höhe am Kopf des Franz Josef-Gletschers auf einem Grat in prächtiger Lage thront. Hütten, die Clubbesitz sind, existieren in Neuseeland noch sehr selten: meistens sind es privat erstellte Unterkünfte, die von Hotels unterhalten werden. Eine Hüttentaxe besteht praktisch nicht, da man oben den gleichen Pensionspreis bezahlt wie unten im bequemen Hotel. Das Essen wird auch vom Hotel geliefert, d.h. der Führer schleppt es hinauf und kocht und besorgt alles für den Turisten. Leute ohne Führer kommen praktischerweise nie dort hinauf, da das Erreichen der Hütte und der umliegenden Gipfel von einer genauen Kenntnis der Gletscher abhängt, die sehr zerklüftet sind und einen Unbekannten Tage kosten können.

Nach dem Essen schaue ich mich sofort nach dem mir empfohlenen Führer um; ich will am andern Morgen um jeden Preis los. Es hat übrigens eine ganze Anzahl bekannter Turisten da im Hotel, die alle auf gutes Wetter warten. Man schaut mich als unerfahrenen Optimisten an, als ich erkläre, in sechs Tagen diesen und jenen Gipfel angehen zu wollen. Der Mensch wird durchaus nicht verwöhnt vom Wetter in diesem abgelegenen Stück Erde, und Wartezeiten von bis drei Monaten sind keine Seltenheit. Mein Führer ist ein sympathischer junger Mann, Jack Cox, und nach einem « Drink » besprechen wir eifrig unsere Pläne. Die Aussicht, Mount Cook und Mount Tasman zu besteigen — die beiden höchsten Gipfel Neuseelands —, ist bedenklich klein, da es kürzlich geschneit hat und der Übergang dann beinahe unmöglich sein soll. Aber wir werden das Beste aus unserer Zeit herausholen, wenn wir erst einmal droben sind in der Almerhütte.

Die Sonne und die freudige Erwartung wecken mich zeitig am andern Morgen, und ich suche mir meine Ausrüstung aus. Er ist ein komischer Kauz, der Alte, der sich mit dieser Sache beschäftigt, und er scheint eine unendlich schlechte Meinung zu haben von dem, was man hier Turisten nennt. So brummt er ständig vor sich hin; soviel ich verstehen kann, betrachtet er mich als hoffnungslosen Leichtsinnigen, denn heute aufzubrechen sei ein Blödsinn — jetzt sei der zweite Tag schönes Wetter, und da es nie mehr als zwei Tage schön sei, müsse man bestimmt mit einem Umschlag rechnen.

Dennoch machen wir uns gegen 10 Uhr auf den Weg. Blau ist der Himmel, und weiss leuchten die Gipfel hernieder. Der Pfad führt uns anfänglich durch dichten Urwald dem Gletscher entgegen. Welch eine Fülle von Vegetation! Die Farnwälder der Westküste Neuseelands sind etwas so Besonderes, dass Die Alpen — 1938 — Les Alpes.12 STREIFZÜGE DURCH NEUSEELANDS BERGE.

keiner, der sie gesehen, sie je vergessen kann. Da stehen sie — vollendete Kunstwerke der Natur — in ihrer grossartigen Schönheit, mit der sie den primitiven so gut wie den modernen Menschen einfach betören müssen. Diese unwahrscheinlichen Wälder scheinen aus einer längst vergangenen Zeit noch übriggeblieben zu sein. Man glaubt sich in ein Märchenreich versetzt. Der Pfad ist dunkel, der Busch steht so dicht, dass man den Himmel nicht erblicken kann: nur ab und zu öffnet sich eine kleine Lichtung, wo ein verträumter, kleiner Pfuhl oder Teich all diese Schönheiten in seinem klaren Wasser spiegelt. Wie durch ein Fenster erblickt man von Zeit zu Zeit den tiefer unten rauschenden Waihofluss Immer wieder bleibe ich stehen und bewundere und staune. Und dann erscheint durch eine Öffnung der blauweisse Eisstrom des mächtigen Franz Josef-Gletschers in unserem Blickfeld, seine Eismassen hier hereinzwängend in eine Fülle reichster und schönster Vegetation. Könnte man sich einen grösseren Gegensatz denken — und kann man sich etwas Schöneres vorstellen? Dabei ist eben Blütezeit des Ratabusches: seine feuerroten Blüten, die überall hervorleuchten und die den Moränen des Gletschers, welche dicht bewachsen sind, ein wunderbares Kleid geben, stehen in idealster Farbenharmonie mit dem tiefen, satten Grün des Ur-busches, dem Blau des imposanten Eisstromes, das sich weiter oben in das blendende Weiss der Firnfelder verliert — und dies alles überspannt von einem hellblauen, wolkenlosen Himmel! Das sanfte Gurgeln all der kleinen Bäche, das Rauschen des Waiho, begleitet vom dumpfen Dröhnen der Brandungswellen des nahen Meeres, geben diesem Stück Natur Vollkommenheit. Es ist unwahrscheinlich schön.

Und welch würzige, reine Luft! Immer wieder muss ich stehenbleiben und schauen und geniessen. Jack, mein Führer, beginnt sich schon zu wundern, was mit mir los sein mag. Er ist — wie viele seiner Profession — ein ganzer Realist: er kann es nicht verstehen, wie jemand aus Leidenschaft oder Liebe die Berge aufsuchen mag und Strapazen auf sich nimmt, oder wie jemand eine Natur, die doch etwas Selbstverständliches ist, so überschwenglich preisen kann Die Berge sind sein « Job », und für den Preis eines rassigen Rugbyspieles würde er die ganze Naturschönheit Neuseelands verschachern, wenn er könnte. Ich habe mich aber doch stets sehr gut mit ihm verstanden, denn auch im Kochen ist er Realist und stellt nur Speisen auf, die tatsächlich gut sind.

Wir schnallen unsere Steigeisen an und betreten den Gletscher. Das Knirschen des Eises unter meinen Füssen ist Musik in meinen Ohren. Langsam nur bewegen wir uns vorwärts, denn es sind viele Spalten zu queren hier am Bruch. Die Sonne brennt heiss auf unsere Köpfe — im Februar ist ja Sommer hier. Der mittlere Teil des Gletschers ist massig steil und leicht begehbar; weiter oben wird nochmals ein steiler Bruch — ein Knie — zu überwinden sein.

Nun, da wir uns über der Zone jeglicher Vegetation befinden, scheint es mir ganz unvorstellbar, dass zwischen dieser Berglandschaft und der europäischen 20,000 km liegen! Die gleiche erhabene Stille umgibt uns, in derselben majestätischen Ruhe und Grosse schauen die schneebedeckten Gipfel auf uns hernieder. Droben in den Bergen ist die Welt sich überall gleich — wir befinden uns stets über dem Pfuhl menschlichen Wirrsals. Ob in den Hochalpen Europas, ob in den eisgepanzerten Riesen des Kaukasus oder des gewaltigen Himalaya, ob in den einsamen Höhen der Kordilleren oder der afrikanischen Hochländer oder hier in den prächtigen Bergen Neuseelands: überall zeigt die Welt ihr gleiches Gesicht — überall herrscht Friede und Ruhe. Auch die Menschen sind sich überall gleich in den Bergen. Selten habe ich in den verschiedenen Kontinenten droben im Bergland schlechte oder unfreundliche Wesen angetroffen. Und nie hat der Unterschied an Nationalität oder an Auffassung eine Rolle gespielt, es ist ein festeres und idealeres Band, das die Menschen alle verbindet: die Liebe zur Natur.

Der Gletscherbruch gibt uns noch einige Arbeit, und da es meistens blankes, hartes Eis ist, sind viele Stufen zu hacken. Riesige Spalten von Ungewisser Tiefe sind zu umgehen und zu queren auf schmalen Brücken. Aber nach zwei Stunden ist auch dieser Teil hinter uns, und wir erblicken weit droben auf einem Felsgrat das Dach der kleinen Almerhütte, unser heutiges Ziel. Wie gewöhnlich kommt noch der letzte, härteste Teil, der « Hütten-stutz »; hier können wir bereits einige leichte Kletterarbeit leisten. Der schmale, steile Felsgrat, der sich wie ein trennendes Schwert zwischen die weiter unten in einem Labyrinth von Spalten zusammenfliessenden Franz Josef- und Almergletscher einzwängt, kostet uns noch weitere zwei Stunden mühsames Steigen. Auch hier droben bietet sich ein Bild richtig unverfälschter Natur: schmale Felsbänder von spärlichem Graswuchs sind dicht übersät mit unzähligen Edelweiss. Da es nicht Blütezeit dieses bescheidenen Blümchens ist, sind die Pflänzchen alle sehr klein. Jack erklärt mir jedoch, dass sie gewöhnlich die Grosse einer « Half Crown » ( ca. 5-Fr.Stück ) erreichen. Die Almerhütte ist eine kleine Wellblechbaracke von ca. 6 m Länge und 4 m Breite. Sie hat 12 Schlafstellen und ist sehr gemütlich eingerichtet. Es sind noch einige Turisten anwesend: ein amerikanischer Journalist mit zwei Führern und ein Engländer, ebenfalls mit zwei Führern. Diese sechs Leute haben schon seit fünf Wochen in der Hütte gehaust und vergeblich auf gutes Wetter gewartet, um Besteigungen unternehmen zu können. In der Hütte sind ca. zehn Ski vorhanden, meistens ungleicher Art. Es gelingt mir dann aber doch, für Jack und mich je ein Paar provisorisch mit Bindung zu versehen. Der Skisport ist hier ziemlich unbekannt unter den Führern, wenn nicht sogar unbeliebt. Erst nach einiger Mühe kann ich Jack dazu bewegen, für die nächste Besteigung, die uns vier Stunden über Firn und Gletscher führen wird, Ski mitzunehmen. Wir legen uns dann zeitig schlafen.

Um 3 Uhr morgens machen wir uns auf den Weg. Die Minarets, ein Eismassiv mit zwei Gipfeln, sind unser Ziel. Der Himmel ist bedeckt, es ist noch stockfinster und bitterkalt. Der Schnee um die Hütte ist steinhart gefroren, so dass wir gleich unsere Steigeisen anziehen. Nach kurzer, harter Steigung kommen wir auf eine Hochebene, und auf meine Veranlassung benützen wir nun die Ski. Das Plateau verläuft sich in einen langen Hang. Der Tag kündet sich an, und der erste Sonnenstrahl küsst bereits den eisgepanzerten Gipfel des Mount Tasman. Doch wie eine Fata Morgana verschwindet das prächtige Bild wieder hinter düsterem Gewölk, das ein pfeifender Wind vom Mount Cook herniedertreibt. Wir befinden uns nun auf den riesigen Firnfeldern des Franz Josef-Gletschers, und schweigend bewegen wir uns langsam vorwärts, ich ein wenig bedrückt durch die schlechten Wetteraussichten. Doch da — ein mutwilliger Sonnenstrahl drückt sich schelmisch durch die Wolken, ein zweiter und ein dritter folgen nach, streifen neckisch dem Gipfelgrat des nun sichtbaren Minaretmassives entlang, verschwinden wieder, und schliesslich jagen sie spielend mit tausend Gefährten von Kamm zu Kamm, von Grat zu Grat und überfluten endlich die glitzernden Firnfelder, welche über diesen unerwarteten Morgengruss erfreut in schönster Pracht zurückstrahlen... Ah, da kommt auch Mutter Sonne in ihrer ganzen Grosse aus dem Gewölk heraus und lacht uns freundlich ins Angesicht. Und ein heller Jauchzer antwortet ihr, und die Berge werden fragen, welch un-zivilisierte Leute sich hier herauf wohl verirren mögen, denn die Neuseeländer jauchzen nicht...

Zwei, nein drei Stunden sind schon verflossen, und wieder erscheinen neue Ebenen, neue Hänge, und der Grahamsattel, der tiefste Punkt der vor uns liegenden Kette, winkt erst in weiter Ferne. Wir tauchen nun im Bergschatten unter, und gleich wird es wieder unfreundlich und kalt. Aber schliesslich kommen wir doch näher, und am Fusse des Steilhanges, der zum Sattel führt, legen wir unsere Ski ab. Man kann nun zwei Routen wählen: entweder über den Sattel oder aber direkt über den beinahe senkrechten Hängegletscher, der zwischen den beiden Minaretsgipfeln in einer Länge von ca. 1000 m herunterhängt. Die erste Besteigung der Minarets wurde über diese letztere Route ausgeführt, im Abstieg ist sie noch nie benützt worden. Da es bitter kalt sein muss in dieser Flanke — die Sonne wird erst gegen Mittag dort hinkommen —, beschliessen wir, den Aufstieg über den Grahamsattel zu nehmen und dann den Hängegletscher im Abstieg zu versuchen.

Es gilt noch 200 m Höhe zu überwinden bis zum Grahamsattel, und Jack macht sich ans Stufenschlagen. Ein steinhart gefrorener Steilhang zieht sich dort hinauf, und der Wind bläst uns schon die schönsten Schneefahnen ins Gesicht. Nach einer Stunde ist auch dieses Stück hinter uns, und wir werden bereits reichlich belohnt für unsere Mühe: direkt vor uns erhebt sich gross und wuchtig der Mount Cook. Der angelehnte Gipfel des Mount Tasman überstrahlt die ganze Kette vom Mount Spencer bis zum Cook. Die Überschreitung wäre das Ideal eines jeden Bergsteigers; aber leider scheint die Sonne heute nicht lange genug für eine solche Unternehmung.

Der heftige Wind gestattet uns nicht, hier auf dem Sattel die Aussicht zu bestaunen und zu bewundern, auch haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Wir folgen nun einem langen Steilhang, welcher von einem vorgelagerten Grat des Mount de la Bêche herniederzieht, und gelangen nach einer Stunde an einen breiten Schrund, der überwunden werden muss. Er kostet uns ein gutes Stück Arbeit, denn die Oberlippe des 2 m breiten und unendlich tiefen Schlundes ist ziemlich höher und dabei überhängend.

Es gelingt, das Reserveseil um einen drüben liegenden Felsblock zu werfen, und nach einigem Ziehen überzeugen wir uns, dass er hält. Aber der Sprung war doch eine gewagte Sache für beide, denn beim Überwinden des Überhanges sind wir vollständig der Sicherheit des Seiles bzw. des Felsblockes preisgegeben. Über einen steilen Eishang gelangen wir schliesslich auf eine Art Sattel.

Vor uns erhebt sich in ganzer Pracht der Ehe de Beaumont, ein Massiv, das bisher stets durch die Minarets verdeckt war. In seiner Form dem Tödi ähnlich, gilt er als ausserordentlich schwierig, meist wird er über den langen Nordgrat angegangen. Alle die Berge erhalten nicht viele Besucher: ein halbes Dutzend im Jahr. In weissem Kleide winken uns bereits die beiden Gipfel der Minarets.

Wir beschliessen, vorher noch den Mount de la Bêche, 11,500 Fuss, anzugehen. Ein steiler Grat ist zu verfolgen, der weiter oben sehr schmal und scharf wird, so dass wir oft rittlings aufwärts kriechen. Aber packende Tiefblicke machen die Mühe vergessen: links von uns fällt der Berg beinahe senkrecht fast 2000 Fuss gegen den Grahamsattel und die umliegenden Firnfelder ab, während rechts ca. 600 Fuss tiefer die Gletscher der Minarets sich breiten. Und über uns stets blauster Himmel. Und nicht ein Laut, der diese Stille unterbricht. Der oberste Teil gibt uns noch einige Kletterarbeit, und nach einer weiteren halben Stunde stehe ich auf meinem ersten Gipfel in Neuseeland: dem Mount de la Bêche.

Eine wundervolle Fernsicht lockt hier oben, aber Jack drängt zum Aufbruch, da wir einen sehr gefährlichen Lawinenhang zu queren haben, der später im Tage nicht mehr gangbar ist. Der Abstieg zum Minaret-gletscher ist nicht schwierig, nur ein Schrund hält uns etwas auf.

Die Sonne brennt nun schon wieder heiss. Langsam rücken wir den Minarets entgegen; der Schnee ist noch hart, und oft müssen wir Stufen schlagen. Die Besteigung von hier aus bietet nun keine Schwierigkeiten mehr, abgesehen vom mühsamen Gehen mit Steigeisen an Steilhängen entlang. Nach einer Stunde atmen wir bereits wieder Hochluft auf dem Südgipfel der Minarets. Aber auch hier weilen wir nicht lange, sondern beginnen sofort den Übergang zum höheren Nordgipfel; und schon nach einer halben Stunde stehen wir droben — 12,000 Fuss liegen zwischen uns und dem im Dunst unsichtbaren Meere.

Eine Gipfelflur von unbeschreiblicher Schönheit grüsst uns von allen Seiten — wer kennt all die Namen hier in diesem noch nicht sehr erschlossenen Bergparadies! Riesige Eisströme zwängen sich weit in die kleinen und grossen Täler hinunter und verlieren sich im dichten Busch. Die Minarets zählen mit Recht zu den schönsten Aussichtspunkten in Neuseeland. Einzig gegen Süden verdeckt uns der Mount Cook ein wenig die Sicht. Aber hinter ihm reiht sich noch Gipfel an Gipfel, keiner von solcher Höhe, aber bestimmt bietet jeder einzelne hundert Schönheiten. Die meisten sind noch unbestiegen. Die in jenen Gegenden zum grossen Teil fehlenden Verkehrswege, Strassen und Pfade machen diese Berge sehr schwer zugänglich — ein ideales Gebiet für den Entdecker...

STREIFZÜGE DURCH NEUSEELANDS BERGE.

Jede auch noch so erhebende und genussvolle Gipfelrast kann nicht von langer Dauer sein, und da wir ja noch eine Erstbegehung versuchen wollen im Abstieg, zollen wir diesen Schönheiten bald den letzten Blick. Wir umgehen den Südgipfel, und von einem kleinen Sattel aus steigen wir in den Hängegletscher ein. Am Anfang geht 's ordentlich, die Steilheit ist noch nicht zu gross, und die Eisen greifen gut in der harten Schneekruste. Dann aber kommen die geahnten Schwierigkeiten. Der Gletscher fällt im Winkel von beinahe 75 Grad, und Blankeis erscheint. Das Stufenschlagen ist eine mühsame Arbeit — besonders wenn es abwärts geht —, und dieses Eis scheint besonders hart zu sein. Nach je ca. 200 Stufen wechseln wir die Führung. Langsam im Zickzack kommen wir tiefer. Eine gute Sicherung ist nicht möglich. Dazu fällt jetzt die Sonne in den Gletscher herein, und zu allem andern kommt noch die Hitze. Aber wir müssen durchkommen, der Abstieg anderswo wäre jetzt viel gefährlicher, der Lawinen wegen. Schon zwei Stunden stehlen wir uns abwärts — Stufe um Stufe —, und noch kein Ende ist zu erblicken. Da — ein Pfeifen über uns und — ein Steinhagel kommt heruntergesaust, direkt in unserer Richtung. Sollen wir tatsächlich auf « rasche Art » transportiert werden? Den Pickel einschlagen, das Seil darum, den Sack über den Kopf, und schon liegen wir dicht an das Eis gepresst. Ein Sausen — ein, zwei dumpfe Schläge gegen den Sack — ein unterdrückter Schmerzensruf Jacks —, und es ist vorüber. Wir haben Glück gehabt. Lediglich Jack hat einen Stein abgekriegt auf die Achsel und glaubt eine Quetschung zu verspüren. Aber wir müssen weiter, fort von hier. Noch ca. 600 Stufen kostet uns der Abstieg, jedes Glied schmerzt uns vom krampfhaften Stehen und vom Hacken. Noch eine umständliche Überwindung des auch hier offenen Schrundes — und wir wanken unseren abgelegten Ski entgegen. Es ist halb 4 Uhr nachmittags.

Was soll ich noch sagen? Dass Jack seine Skistöcke zerbricht in den ersten 50 m? Dass ich wieder neu auflebe mit den Brettchen an den Füssen? Dass dieses Hinunterflitzen über die riesigen Firnfelder in den fallenden Abend hinein ein würdiger Nachtisch ist zu dem, was wir genossen zuvor? Es war ein prächtiger Tag, und todmüde lassen wir uns abends in die Pritschen fallen.

Eigentlich wäre ein Ruhetag geplant gewesen, wir wollten unsere verbrannten und « verblätterten » Gesichter pflegen, denn auch Neuseelands Sonne kennt kein Erbarmen ungeschmierten Häuten gegenüber. Aber wir haben es nicht getan, nur ausgeschlafen haben wir. Doch schon um halb 9 Uhr werden wir geweckt: ein Flugzeug kreist zwei-, dreimal sehr niedrig über der Hütte. Der Morgengruss unseres Freundes, des Piloten. Dann wirft er ein Bündel ab und dann noch eines. Beide fallen in den bereits aufgeweichten Schnee rings um die Hütte. Noch einen Kreis beschreibt er, winkt uns und verschwindet dann den Gletscher hinunter, Richtung Waiho Gorge. So erhalten wir hier oben — fern von Stadt und Zivilisation — die neuesten Zeitungen aus Christchurch, 500 km entfernt, welche dort erst vor drei Stunden ausgegeben worden sind. Das andere Bündel enthält selbstverständlich — eine Flasche Bier. Jack bereitet das Frühstück, während ich mich ins Lesen vertiefe. Teufel nochmal! Hier steht geschrieben: Vollständiger Wetterumschlag in Aussicht. Etwas von westlichen Winden, von Tiefdruck und Depression etc. Und wir sollen hier um die Hütte herumlungern, wenn es regnen oder schneien wird morgen! Keine Rede davon.

So schnaufen wir erneut den Steilhang hinauf hinter der Hütte. Wir haben nicht viel Gepäck, denn für « grosse Sachen » ist es zu spät heute. Aber wir sind wohl die ersten, die hier zu einer « Skitur » ausziehen. Wir gehen auf Entdeckungsreisen — und wir haben sie tatsächlich entdeckt, die ideale Skitur im Gebiete des Franz Josef-Gletschers. Nach Übersteigung eines Grates fahren wir hinab zum Almergletscher. Gleich oberhalb seines unteren Bruches breitet sich der Eisstrom brav und artig mit massigem Gefäll und mit wenigen gut sichtbaren Spalten aus. Es hat sogar eine gute Schneebrücke über den Schrund, was wir sonst nirgends fanden. Weiter oben ist wieder ein Knie — aber auch hier bereitet der Aufstieg mit Ski keine Schwierigkeiten. Weiter entfernt, rechts von uns erscheint die Felspyramide des « Graham Rocks », eines den Minarets vorgelagerten Berges. Wir jedoch drehen nach links, und am Fusse von prächtigen Klettergipfeln—Nadeln und Gräten, die zu allem verlocken — bewegen wir uns langsam dem Mount « Thelma » entgegen. Wer wohl diesem Berg den schönen Mädchennamen gegeben hat? Wir müssen vorsichtig sein, uns nicht zu verlieren im erscheinenden Spaltengewirr — und überdies wollen wir eine schöne Skiabfahrt ausfindig machen. Der Mount Thelma ist am ehesten zu vergleichen mit dem Basodino am Gotthard, ein breites, massiges Massiv mit kleinem Gipfelaufbau und einem riesigen « Bart » von Firn und Gletscher. Drei Stunden dauert der Aufstieg, dann überschreiten wir den Gipfelgrat auf einem kleinen Sattel und nähern uns dem Gipfel auf der andern Seite des Grates. Erst 10 m unter dem Gipfel deponieren wir die Ski.

Der Gipfel schimmert und glitzert uns entgegen wie lauter Diamanten oder Kristalle. Und tatsächlich, es sind Kristalle! Die Gipfelfelsen sind geradezu übersät von prächtigen Bergkristallen, welche festgewachsen sind oder lose umherliegen. Ein Paradies für jeden Strahler oder Sammler. Unter dem meterhohen Schnee rings um die Gipfelfelsen herum müssen noch Hunderte dieser wunderbaren Dinger liegen. Hier hinauf verirren sich so wenige Menschen, dass diese « Quelle » richtiger Urschönheit der allgemein als Steinwüsten bekannten Berglandschaften noch gar nicht « ausgebeutet » ist.

Und welche Aussicht! Hier kommt das Neue, das Besondere und Einzigartige von Neuseelands Bergwelt richtig zur Geltung, denn wir sehen von dieser schneebedeckten Kuppe, die den hinter uns liegenden Hochgipfeln vorgelagert ist, direkt auf Meer und Busch hinunter!

Es herrscht eine wunderbare, klare Fernsicht. Dreihundert Meter unter uns leuchtet schon der blühende Ratabusch und weiter unten breiten sich die prächtigen Farnwälder aus, womit der ganze Küstenstrich dicht bewachsen ist. Und das Meer ist so unwahrscheinlich nah: wir können die Brandungswellen sehen, die majestätisch hereinrollen und sich unter dumpfem Rauschen an den Küstenfelsen zerschlagen. Fern am Horizont, wo Meer und Himmel in leichtem Dunste zusammenfliessen, zeigt sich die Rauchfahne eines Dampfers. Das Dröhnen der See in der Tiefe ist der einzige Laut, der diese andachts- STREIFZÜGE DURCH NEUSEELANDS BERGE.

volle Stille durchbricht. Und drehen wir uns um — welch ein Gegensatz! Hunderte von imposanten, schneebedeckten Gipfeln — alle überragend, Mount Cook und Mount Tasman, ihnen vorgelagert eine mächtige Kette, aus der Mount Haast und Mount Spencer hervorstechen; die spitzige Pyramide des Mount Bismarck bildet den oberen Abschluss der von uns durch den riesigen und machtvollen Eisstrom des Franz Josef-Gletschers getrennten Kette der Mount Roon und Mount Moltke, welche sich ebenfalls steil zum Meer abfallend in Busch und Urwald verliert. Und meine Augen trinken von dieser überwältigenden Fülle einzigartiger und prachtvoller Naturschönheit und wollen nicht satt werden...

Eine volle Stunde halten wir uns auf dem vollständig windstillen Gipfel auf, dann winkt uns weiterer Genuss: eine wunderbare Skiabfahrt über unberührte, jungfräuliche Firne und Gletscher in idealstem Sulzschnee. Braucht es da noch weiterer Kommentare? Nur zu schnell folgt der letzte Bogen, der letzte Schwung. Und dann versorgen wir die treuen Brettchen wieder in der Hütte, wo sie vielleicht lange warten müssen, bis ihnen wieder Ehre angetan wird, denn leider kommen ja so wenige Skifexen hier hinauf.

Unsere Freunde, die Keas, leisten uns unter grossem Gekrächze wieder Gesellschaft. Der Kea ist ein eigenartiger Vogel, lebt ausschliesslich in Neuseeland und dort nur im Bergland. Von der Grosse ungefähr eines grossen Falken, hat er ein grünliches Gefieder, das mit einem Orange an der untern Seite seiner Flügel in schöner Harmonie steht und ihn zur Schönheit unter den Vögeln stempeln mag. Er hat einen sehr scharfen, gebogenen Adlerschnabel und ist aussergewöhnlich frech und angriffslustig. Seine Lieblings-opfer sind kleine Schafe, die er angreift, ihnen den Leib aufhackt und Nieren und Leber herausreisst. Für den übrigen Teil hat er kein grosses Interesse. Es werden Prämien bezahlt in Neuseeland für den Abschuss dieser Vögel, sh. 7/6 pro Stück. Noch nie habe ich ein derartig neugieriges Tier gesehen wie den Kea. Rings um die Almerhütte liegen, wie meistens an den Orten, wo menschliche Wesen gehaust haben, eine grosse Anzahl leerer Konservenbüchsen und andere Abfälle. Schon in der ersten Nacht, da wir in der Hütte hausten, war ich geweckt worden durch einen seltsamen Lärm rings im Umkreis. Was ich dann herausfand, machte mich trotz dem Ärger über die Ruhestörung lachen: sassen da ca. ein Dutzend dieser Vögel um die Hütte herum, jeder mit einer leeren Konserven- oder Kondensmilchbüchse im Schnabel oder zwischen den Krallen, die er krampfhaft zu öffnen versuchte, um zu schauen, was drinnen sein mochte. Diese Vögel haben grosse Kraft, man würde ihnen nie zutrauen, dass sie imstande sind, eine Büchse derart zu traktieren. Wenn sie eine Büchse geöffnet haben, wird zuerst der Kopf hineingesteckt, und wenn dies nicht geht, fühlt Mr. Kea mit seinen Füssen hinein, ob auch tatsächlich nichts drinnen ist. Ist die Untersuchung negativ, so nimmt er die Büchse in den Schnabel und schmeisst sie weg — über die Felsen hinunter — und geht zu neuen Entdeckungen aus. Wenn nun so ein Dutzend Vögel mit « Untersuchungen » beschäftigt sind, macht dies einen Heidenlärm, besonders wenn zum « Laboratorium » das Hüttendach gewählt wird. Und es ist eine Unmöglichkeit, die Vögel zu vertreiben, sie fliegen weg und sind in fünf Minuten wieder da.

Wir beschliessen, noch ein Sonnenbad zu nehmen, da es noch früh ist am Nachmittag. Wir tragen all unsere verschwitzte Wäsche zum Trocknen, wir ziehen die Schuhe aus und machen uns ein bequemes Lager zurecht, und gleichzeitig setzen wir einen Kochtopf auf den Herd, um eine Suppe zu kochen. Dann wollen wir Siesta halten — ich sage: wollen wir. Die Hüttentüre ist offen, wir legen uns nieder und schliessen die Augen. Keine fünf Minuten vergehen, da klirrt es in der Hütte: ich schaue nach. Richtig, die Keas! Einer auf dem Geschirrbrett, der die Tassen und Teller untersucht, einer auf dem Tisch beschäftigt sich mit dem Teehafen, und da — das ist ein Gauner — da steht einer in unserem angerührten Suppenbrei mit seinen dreckigen Pfoten und kostet fachmännisch unsere Kochkünste. Wir fegen die frechen Kerle hinaus — aber o weh: draussen war eine andere « Brigade » an der Arbeit. Dort fliegt einer weg mit einem Strumpf, ein anderer bemüht sich, ein Stück aus einem Hemd herauszureissen, und da — tatsächlich, einen Schuh hat der Kerl im Schnabel — einen schweren Bergschuh! Ich werde wütend und schmeisse mit Steinen. Er lässt den Schuh fallen, und dieser kollert natürlich über die Wand hinunter, die unmittelbar hinter der Hütte zum Gletscher abfällt... Und herausfordernd kreischen die Diebe, es ist mehr eine Art miauen, wie die Katzen es tun. Wir haben genug von den Besuchern, und jeder der sich nähert, wird nun mit Steinen empfangen. Die Bilanz dieser « Visite »: zwei zerbrochene Teller, eine verdreckte Suppe, ein verlorener Strumpf, ein zerrissenes Hemd, ein verlorener Schuh, dessen Holen eine Stunde Klettern kostet, und eine zerstörte Siesta. Wir haben dann den Keas den Krieg erklärt, aber wir konnten nicht verhindern, dass sie uns wieder eine halbe Nacht lang wach hielten.

Schon wieder 3 Uhr morgens. Schwer bepackt ziehen wir los, denn heute nacht werden wir nicht mehr hier schlafen. Die Wetterpropheten scheinen Recht zu haben: der Himmel ist bedeckt, und kein Stern ist zu erblicken. Erneut gewinnen wir das Hochplateau über den Steilhang hinter der Hütte. Aber nach einer Stunde schwenken wir rechts hinunter, um den Gletscher zu queren. Er ist unendlich zerklüftet hier, der Franz Josef-Gletscher, und hat ca. 800 m Breite. Hinauf und hinunter, über Schneebrücken und Eistürme, auf schmalen Gräten zwischen tiefen Spalten führt der « Weg ». Man muss tatsächlich den Weg kennen hier, ein Unerfahrener dürfte Stunden brauchen zur Querung. Trotz eisiger Kälte ist uns warm, denn das viele Stufenschlagen bringt uns zum Schwitzen. Wir sind nun wieder auf gleicher Höhe wie die Almerhütte, aber auf der gegenübergesetzten Seite des Gletschers. Die Firnfelder, die hier zwischen dem Mount Bismarck und dem Mount Roon sich ausbreiten, sind noch steinhart gefroren. Der Mount Bismarck, unser nächster Gipfel, ist eine steil aufstrebende Felspyramide. Eine eigentliche Route gibt es nicht; er wurde schon von zwei oder drei Seiten angegangen. Wir beschliessen, den Aufstieg über die nördliche Eisflanke zu beginnen und dann den Gipfel über den messerscharfen Ostgrat zu gewinnen. Das Wetter macht ein mieses Gesicht, ein kalter Wind bläst und treibt uns Die Alpen — 1938 — Les Alpes.13 STREIFZÜGE DURCH NEUSEELANDS BERGE.

Schneekörner ins Gesicht. Wieder setzt Stufenarbeit ein: die Flanke, die noch leicht mit Schnee bedeckt ist, steigt im Winkel von ca. 70 Grad an. Wir erreichen die Grathöhe, ducken uns aber sogleich wieder, denn ein sturm-ähnlicher Wind erlaubt uns nicht, auf diesem exponierten Grat aufrecht zu stehen. Auf der andern Seite fällt er ca. 3000 Fuss beinahe senkrecht ab zum Foxgletscher, einem würdigen Rivalen des Franz Josef-Gletschers, sowohl an Schönheit wie Grosse. Auch auf unserer Seite fällt der Grat steil ab in einen Schrund, den wir vorher nach Osten umgangen haben. Ein sehr gewagtes und mühsames Vorwärtsbewegen beginnt. Der Sturm bläut unsere Gesichter, und Hände und Füsse sind schon halb erfroren ob dem langsamen Gehen mit Steigeisen. Aber so schnell geben wir nicht auf: Meter um Meter gewinnen wir und rücken zäh voran bis zu einem kleinen Sattel unmittelbar voi dem senkrecht sich auftürmenden Gipfelaufbau. Noch 20 Meter sind zu überwinden — aber 20 Meter harte und schwere Kletterarbeit. Und dies ist nicht angenehm mit steifen Fingern. Der Fels ist vereist und lässt uns nirgends Griffe und Tritte. Aber schliesslich liegt auch dieses Stück hinter uns, und schwer schnaufend stehen wir auf dem Gipfel des Mount Bismarck, ca. 9000 Fuss.

Bei gutem Wetter muss sich auch hier eine Prachtsaussicht bieten, kann man doch von hier aus die beiden mächtigen Eisströme, Franz Josefund Foxgletscher, überblicken. Nach Westen schweift der Blick hinunter bis ans ferne Meer, nach Osten und Nordosten paradieren wieder die Könige von Neuseelands Alpenwelt: Mount Cook und Mount Tasman mit ihrem Gefolge. Aber der Wind heult, und es sieht immer drohender nach Schnee und Regen aus, und hier oben möchten wir nicht überrascht werden.

Auf diesem Berge lege ich ein Gipfelbuch nieder im Angedenken meines prächtigen Bergfreundes Karl Wagner. Die Kunde von seinem Tod in einer Lawine hatte mich eben vor meiner Abreise von Australien erreicht. Die Berge waren seine Liebe, seine Leidenschaft, die Berge wurden sein Grab. Und fern von der Heimat ist dies mein letzter Gruss an den idealen Kameraden.

Der Abstieg über die vereisten Gipfelfelsen ist bei weitem schwieriger als der Aufstieg. Wir verlegen uns aufs Abseilen, können aber erst nach einiger Mühe einen starken Felsblock finden; das steifgefrorene Seil ist nicht leicht zu handhaben. Schliesslich stehen wir wieder auf dem schmalen Sattel und nehmen erneut die Grattraverse in Angriff. Der nun heulende Sturm hat bereits alle unsere Stufen mit Schnee gefüllt, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als neue zu schlagen. Ich folge jeder Bewegung Jacks, denn bei Abrutschen wäre ein Sprung ins Leere auf die entgegengesetzte Seite des Grates die einzige Möglichkeit, uns beide vor Absturz zu retten. Der Grat will nicht enden, und der Sturm wird immer stärker. Endlich folgen die letzten 10 Meter, und wir befinden uns wieder mehr oder weniger auf sicherem Boden. Wir suchen sofort ein Gletscherloch, wo wir einigermassen geborgen sind vor dem wütenden Sturm. Eine volle Stunde halten wir uns auf und reiben unsere gefühllosen Füsse ein mit Schnee, dann lässt der Sturm etwas nach, und wir können weitergehen.

Wir queren nun die Firnfelder, die sich an der Nordostseite des Mount Bismarck entlangziehen. Die beiden nächsten Gipfel der Kette sind noch zu überschreiten, Mount Roon und Mount Moltke. Unten vom Gletscher und auch vom Meer her gesehen erscheinen beide imposant und gewaltig, hier schauen wir beinahe auf sie hinunter. Dieser Teil wäre wieder ideal zum Begehen mit Ski: riesige Schneefelder mit sanften Neigungen. Die Gewinnung des Mount Bismarck hat uns etwas ermüdet, und wortkarg torkeln wir dahin. Nach einer Stunde ereignislosen Gehens ist wieder ein Schrund zu queren, und nach kurzem Aufstieg überschreiten wir einen Sattel und befinden uns nun auf der Südwestseite der Kette. Eine weitere halbe Stunde leichten Aufstieges, und auch der Mount Roon ist unser. Er ist ein breiter Schneerücken, ca. 8000 Fuss, und ohne Zweifel auch ein guter Aussichtspunkt, wenigstens gegen das Meer zu. Wir können es leider nicht bewundern, denn unter uns ist Nebel und Schneetreiben. Drum wird der behäbige Rücken bald wieder verlassen.

Die Kette hat einen tiefen Einschnitt zwischen Mount Roon und Mount Moltke und zwingt uns bis auf ca. 5000 Fuss hinunter. Der Abstieg ist sehr steil und nicht übersichtlich; sobald wir aber bis zum Sattel hinunter sehen können, schnallen wir die Steigeisen ab und rutschen stehend zur Tiefe.Von hier aus führt unser Weg in gleicher Steilheit, aber unschwierig zum Mount Moltke, ca. 7000 Fuss. Dieser Berg hat drei Gipfel. Wir beschliessen, nur den dritten und schönsten anzugehen. Langsam nur kommen wir voran, und in gleichem Masstab steigt auch ein Gefühl des Genug-habens in mir auf, denn lange Firnfelder zu begehen ohne Ski, war nie meine Leidenschaft. Und dazu dieser ideale Schnee: schön regelmässig verteilt auf harter Unterlage. Schön regelmässig sinken wir auch stets bis an die Knöchel ein; erst der oberste Teil ist Windharst. Noch 50 m, noch 20 m, und endlich erreichen wir den Gipfel. Auch hier ist nichts mehr zu sehen; das Wetter verschlechtert sich ständig. Drum beginnen wir gleich ohne Aufenthalt den Abstieg, erst über sanfte Schneefelder, die dann aber steiler werden und ein Abrutschen erlauben. Das frischt uns wieder etwas auf.

Und nun kommt der Nachtisch. Ich habe viele Geröllhalden und Stein-runsen gesehen und begangen in meinem Leben, auf « Knieschnapperwege » jeder Art bin ich trainiert. Aber so etwas wie dieser riesigen Geröllrunse, die vom Mount Moltke — ca. 5000 Fuss Gefäll überwindend — bis zum Franz Josef-Gletscher hinunterführt, hoffe ich nie wieder zu begegnen. Sie wirkt von ferne gesehen durchaus nicht störend im Landschaftsbild, denn sie ist nur schmal und tief eingeschnitten, aber sie bildet die einzige Abstiegsmöglichkeit vom Mount Moltke. In halber Höhe ungefähr, auf einer Moräne des Gletschers, steht eine kleine Unterkunftshütte, ebenfalls von den Grahams errichtet, wo wir eigentlich heute nächtigen wollten. Aber angesichts des stets sich verschlechternden Wetters beschliessen wir, die Fahrt gleich zu beenden. Auch Geröllhalden haben ihren Reiz, meint Jack trocken. Aber nachdem wir nach eineinhalb Stunden unten ankommen, hat auch er seine Schuhe total zerschnitten und Hände und Beine zerschürft und zerkratzt.

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