Teilstücke in einem Bergsteigerleben
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Teilstücke in einem Bergsteigerleben

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Ernst Reiss, Basel

Auch der Bergsteiger untersteht dem Gesetz: Werden, Sein und Vergehen. Ohne diese Erfahrungen hat das Dasein nur kurze Dauer, keine Höhen und keine Tiefen.

Der ältere der beiden Kletterer richtet sich auf. Er keucht vor Anstrengung. Seine ersten Schritte auf dem Grat hoch über dem Meer sind noch unsicher.Ja, nochmals ist es gut gegangen. Wenn aber der kleine Klemmkeil nur eine Sekunde früher aus dem Riss gesprungen wäre?

Der Quergang, darunter die senkrechte Wand. Tief unten ein Teppich von gelben und roten Blumen, dann die Unendlichkeit vom tiefblauen Meer. Dazu ein leichter Duft von Thymian und Rosmarin - die Calanques bei Marseille!

Niemand hat es gesehen, auch seine Angehörigen nicht, die dort auf einer Aussichtskanzel am ( Strand der Götter ) sitzen. Wie viele Male waren sie ahnungslos, wie viele Male mussten sie um das Leben des Bergsteigers bangen.

Dem Älteren - wir sagen ihm hier einfach ( en - gehen nach dem soeben Vorgefallenen vielerlei Gedanken und Erinnerungen durch den Kopf. Vor allem ein Punkt beschäftigt ihn: sollte nicht am heutigen Tag für einen Seilkameraden in der Heimat eine kleine Gedenkfeier stattfinden? Für ihn, seinen ehemaligen Expeditionsgefährten, der vor einigen Wochen an der tibetanischen Grenze auf 7000 Meter einem Lungenödem erlagMit diesem bekannten, von aussen eher unnahbar wirkenden Bergkameraden stand er vor vielen Jahren auf dem ( Dach der Welt ). Auch in den Alpen gelang ihnen manch grosse Tour. Dabei erwies sich dieser Gefährte immer als Turm in der Schlacht, als stets zuverlässiger Partner. Nun sollten seine Augen nie mehr strahlen, seine Nähe nie mehr Wirklichkeit werden. Wie alles so rasch vergeht!

Auf dem langen Weg zur traumhaft schönen Calanque d' en Vau wenden sich die Ge- Am Fuss der Aiguille de Sugiton in den Calanques ( F ). Blick auf die Bucht von Sugiton und die Pierres tombées danken des Älteren ganz der Vergangenheit zu; Erinnerungen steigen auf:

Befand er sich nicht vor kurzer Zeit noch im Haslital bei guten Freunden, im neuen Clublokal seiner SAC-StammsektionJa, dort an der Wand hängt er, jener handgeschmiedete Pickelhammer, an dem er sich im Sturmwind auf der steilen Wächtenkuppe des grossen Achttausenders festhielt. Wie waren damals seine Gefühle? Doch niemanden wollte er merken lassen, dass er, dieser Pickel und sein jüngst verlorener Kamerad, einmal ganz nahe zusammengehörten. Es war ein trüber, regnerischer Tag. Nebelfetzen zogen umher, strichen empor zum Fuss der Well- und Wetterhörner.

Weitere dreissig Jahre ziehen an seinem inneren Auge vorüber: Hat er in jenen Bergen nicht schon ähnliches wie heute an der sonnenbeschienenen Felsklippe der Aiguille de Sugiton erlebt?

Gewiss, wie manche bange Sekunde verstrich - damals - als er am Seilende baumelte, zwei Meter von der glatten Wand entfernt und viele Kirchtürme hoch über dem Gletscher. In jenem Moment fühlte er keine Verzweiflung, und trotzdem entsprach jede Handlung nur noch einem Aufbäumen gegen den totalen Absturz in die offenen Spaltenschlünde des Rosenlauigletschers. Dieses sich Wehren, sich nicht in sein Schicksal Ergeben, dauerte zwei oder drei bange Minuten. Mehr Sensationelles gibt es darüber aber nicht zu berichten, und doch ereignete sich zum Schluss eine Art Wunder. Beim verbissenen Ringen, die Wand wieder zu erreichen, verfing sich unversehens ein Lederriemen der Rucksackaussen- tasche an einem Zacken der überhängenden Felsen.

Zwei Stunden später, nach einem langen Abseilmanöver, sassen die beiden Kletterer geschlagen und nachdenklich vor der noch undurchstiegenen Wand.

Unvermittelt kehren seine Gedanken in die sonnige Gegenwart der Calanques zurück. Er schaut auf die Vielfalt der die blendendweissen Kalkfelsen himmelwärts durchziehenden Routen und auf die von schroffen Klippen gesäumte Meeresbucht. Nichts treibt ihn jetzt voran, was ihn mehr als fünfzig Jahre zu stetem Aufbruch herausgefordert hat.

Ja, wie weit zurück liegen jene ersten Felsanstiege aus der Jugendzeit, jener Rückzug aus der Südostwand des Kleinen Wellhorns! Wie mancher seiner jungen und alten Seilgefährten weilen nicht mehr hier, wie viele Lücken weist die ehemals geschlossene Reihe schon auf.

Erst viele Tage später drängt es ihn wieder, nach vorne zu blicken. Aber jetzt möchte er gemächlicheren Schrittes den lichten Höhen entgegenziehen.

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