Über die Bosseswand auf den Mont Blanc
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Über die Bosseswand auf den Mont Blanc

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Wilhelm Lohmüller.

Am 7. August 1897 gelang Oscar Schuster, Alfred Swaine und mir ein neuer Aufstieg auf den Mont Blanc vom Domgletscher aus. Nicht plan-mässigem Studium alpinen Schrifttums, von Karten und Lichtbildern, unternommen zu dem Zweck, diejenige Flanke des Berges zu ergründen, die noch keines Menschen Fuss betreten hatte, verdankten wir diesen Erfolg, sondern lediglich dem Zufall. Der Sieg fiel uns in den Schoss wie dem glücklichen Spieler das grosse Los.

Trotzdem diesem Aufstieg ohne Zweifel eine turistische Bedeutung zukommt, ist er, soweit mir bekannt, gänzlich in Vergessenheit geraten. Zweck dieser Zeilen soll es sein, ihn zu neuem Leben zu erwecken.

Als Bergsteiger der alten Schule, die grössern Wert darauflegten, schöne Turen zu machen, als sich in alpinen Schriften gedruckt zu lesen, hatten wir seinerzeit von unserm Gelingen nur wenig bekannt gegeben. Immerhin hatten Schuster 1 ) und Swaine 2 ) kurze Angaben über unsere Erstersteigung veröffentlicht. Aus diesen ist ihre Beschreibung in die verschiedenen Spezialführer und Monographien der Mont Blanc-Gruppe übergegangen; leider aber wohl infolge der Knappheit jener Angaben recht ungenau. Und auch die dort zu findenden Zeichnungen 3 ) geben unsern Anstieg ganz falsch wieder. Es erscheint mir daher angebracht, eine ausführliche Schilderung unserer damaligen Fahrt zu veröffentlichen.

Vergilbte Blätter liegen vor mir. Sie tragen am Kopf das Bild des Hotels du Montenvers mit dem Datum 8. August 1899 und enthalten den Bericht, den wir gewohnterweise am Tage nach der Fahrt anhand der unterwegs gemachten Notizen verfassten. Die Einzelheiten unserer damaligen Bergfahrt wären ohne dieses Erinnerungsmittel sicherlich längst so stark verblasst, dass ich es nicht wagen dürfte, lediglich nach der Erinnerung, jetzt nach 31 Jahren, eine als Wegweiser dienende Schilderung von ihr zu bringen.

Wir waren auf « zünftigem » Wege nach Courmayeur gekommen, nämlich über Dent und Col du Geant. Im unmittelbaren Aufstieg auf den « Riesenzahn » von Montenvers aus erblickten wir die beste Vorbereitung für weitere grosse Unternehmungen in der Gruppe. Der Eindruck, den dieser unvergleichliche Gang in uns hinterliess, war ein tiefer und nachhaltiger. Von der Erhabenheit und Grösse des Geschauten waren wir geradezu überwältigt.

Wer zum ersten Male mit Seil und Pickel nach Courmayeur kommt, dessen hauptsächlichstes Ziel wird der Mont Blanc sein. So war es auch bei uns. Aber das bisher in der Gruppe Gesehene hatte unsere ursprünglich hochfliegenden Pläne auf ein bescheidenes Mass herabgedrückt, so dass wir nur den gewöhnlichen, als leicht bezeichneten Aufstieg von der Cabane du Dome längs der Aiguilles Grises auf unser Programm setzten.

Wir verliessen Courmayeur am 5. August 1130, fuhren mit einem kleinen Bergwägelchen gemütlich bis zur Cantine de la Visaille hinauf, brachen dort 1425 auf und errreichten die 3120 m hoch gelegene Cabane du Dôme um 1930.

Der Aufstieg von Courmayeur zu dieser Hütte gehört zu den grossartigsten Wanderungen, die es in den gesamten Alpen gibt. Im Bogen um die Südost- und Südflanke von Europas höchstem Berge, der hier die grössten und steilsten Felswände der Alpen aufweist, herumführend, gewährt dieser Weg in wechselnder Folge Einblicke in die wildesten Felswinkel und die zerrissensten Gletscher. Und hoch oben thront in nie gesehener Höhe in makellosem Weiss der Monarch, wahrlich ein majestätischer Anblick! Kein Besucher von Courmayeur versäume es, wenigstens bis zur Mitte des Miagegletschers vorzudringen, ein ganz ungefährliches Unternehmen.

Während der Nacht brach ein gewaltiges Unwetter aus, das erst in den Vormittagsstunden des folgenden Tages ausgetobt hatte. Schuster, pessimistisch veranlagt, wollte an eine Besserung des Wetters, zumal das Barometer weiter fiel, nicht glauben und schlug vor, über den Col de Miage nach Frankreichs sonnigen Gefilden auszuweichen. Swaine und ich, beide geborene Optimisten, überstimmten ihn. Daher wurde geblieben. Auch eine englische Partie trat ihre geplante Fahrt nicht an.

Um die Mittagstunde klarte es plötzlich auf; nur Gipfel und Grate über 4200 m waren noch von Wolken umhüllt. Wie es sich für ordentliche Führerlose geziemt, griffen wir sofort nach Seil und Pickel, um eine Erkundungsfahrt in den Hintergrund des Domgletschers zu unternehmen. Lange sassen wir nachmittags auf einem Ausläufer der Aiguilles Grises; das Zeissglas ging von Hand zu Hand, und mit grosser Aufmerksamkeit musterten wir die das Tal abschliessenden Hänge, insbesondere jene, die im Halbrund vom Dome du Goüter bis zu den Rochers du Mont Blanc das innerste Becken des Glacier du Dôme umrahmen. Mit unserer Kenntnis des alpinen Schrifttums über jenen weltabgeschiedenen Winkel war es nicht weit her. Wie es so geht, hatte sich in dieser Frage der eine auf den andern verlassen. Für uns war somit alles Neuland. Das Gespräch ergab die Übereinstimmung unserer Ansichten, dass die vor uns liegenden, zu den Rochers des Bosses du Dromadaire emporführenden Steilhänge bei günstigem Schnee wohl ersteigbar sein müssten. Ohne besondere, unsern ursprünglichen Plan etwa ändernde Beschlüsse gefasst zu haben, kehrten wir zur Hütte zurück. Am andern Morgen sah das Wetter etwas hoffnungsvoller aus, so dass wir den Abmarsch beschlossen. 422 verliessen wir die Hütte und folgten einer Führerpartie, die wenige Minuten vor uns aufgebrochen war, nach.

Man quert erst einige steile Schneefelder und felsige Hänge, dann betritt man den Domgletscher. Hier fanden wir eine schwach ausgeprägte Spur, der wir folgten. Bald übernahmen wir nunmehr die Führung. Der Weg über den Gletscher führt ziemlich verwickelt in die Höhe. Wie es so oft geht, gerieten wir hier in eine Sackgasse, mussten umkehren und kamen dadurch ins Hintertreffen, denn die Führerpartie, ortskundig, hatte sich höher links gehalten und dort einen guten Durchgang durch das Spaltengewirr gefunden. Da wir keine Aussicht mehr hatten, an die Spitze zu kommen, machten wir Halt und berieten, was zu tun sei. Alle drei waren sofort darüber einig, dass es gegen unsere Selbstachtung als Führerlose gehe, hinter Führern her den Mont Blanc auf dem gewöhnlichen Wege zu ersteigen.

Die gestern erkundete Südwestwand des Mont Blanc stand nun unmittelbar uns gegenüber. Auch von hier aus schien sie, gute Beschaffenheit des Firns vorausgesetzt, ersteigbar zu sein. Einstimmig wurde beschlossen, sie anzugehen, und sofort zur Ausführung des neuen Planes geschritten, indem wir in nordöstlicher Richtung auf die gerade noch aus den Wolken auftauchenden Bossesfelsen — Punkt 4525 der Karte « La Chaîne du Mont-Blanc, 1924 » — vom gewöhnlichen Weg abbogen.

Wenn man den Abschluss des Domgletschers von unserm damaligen Standpunkte aus, etwas unterhalb Punkt 3273 der Karte, überblickt, so bietet Der Mont Blanc von der Tete Carrée gesehen.

sich dem Beschauer folgendes Bild: Dicht südöstlich des Col du Dome steigt von der Kammhöhe ein breiter Felspfeiler bis zur hintersten Glelscher-mulde des Domgletschers herab. Rechts von diesem Pfeiler, von ihm durch eine breite Schneerinne getrennt, entsteigt dem Gletscherbecken in der Richtung nach den Bossesfelsen zu eine anscheinend gut gestufte Felsrippe, die in halber Wandhöhe, vom Eis überlagert, endet. Zwischen ihrem obern Ende und den Bossesfelsen wölben sich steile Hängegletscher empor, die unmittelbar oberhalb der Rippe in senkrechten Eiswänden abbrechen. Links von diesen Abbruchen, zwischen Felsrippe und erstgenanntem Felspfeiler, ziehen steile Firnhänge zum Bosseskamm hinauf. Die Karte ist hier in der Darstellung der Felsen ganz falsch 1 ). Über die Felsrippe und die links anschliessenden Firnhänge führte unser Aufstieg nach der westlichen, 4525 m hohen Kuppe der Bosses du Dromadaire empor.

Unterhalb Punkt 3273 bogen wir also in nordöstlicher Richtung auf den östlichen Arm des Domgletschers ab und nahmen als Richtungspunkt den Fuss der vorbeschriebenen Felsrippe. Ehe wir jedoch das obere flache Becken des Gletschers erreichten, hatten wir noch einige schwierige Eisstellen zu überwinden, denn der Gletscher ist hier stark zerklüftet. Dann ging es sanft ansteigend in der Richtung auf die untersten Felsen der Rippe weiter. 655 standen wir an der Randkluft unterhalb der Rippe, schnallten unsere zehnzackigen, in Courmayeur frisch geschärften Allgäuer Steigeisen unter die Füsse und überschritten mit deren Hilfe die Kluft ohne besondere Mühe. Nach Überwindung eines steilen Firnhanges betraten wir die Felsen zu unserer Rechten. Sie waren gut gestuft und boten zu unserer angenehmen Überraschung gar keine Schwierigkeiten. In leichter Kletterei gelangten wir sodann bis unmittelbar unter den vorerwähnten Eisfall, der, mit riesigen Eiszapfen besetzt, vor uns aufragte und den Weiterweg in dieser Richtung verwehrte. Wir querten daher in den obersten Felsen nach links und betraten den Firn. Hier, in der Nähe der Felsen, trat Eis unter dem sonst vorzüglichen Schnee zutage und erforderte Stufen. In grossen Windungen, stets den steilsten Stellen ausweichend, gingen wir dann in allgemeiner Richtung auf den linken Bossesfelsen, stellenweise recht steil ( 40—50° ), in die Höhe. Aber dank unsern griffigen Eisen und der guten Beschaffenheit des Firns fanden wir kaum nennenswerte Schwierigkeiten. Im obersten Wanddrittel wurden wir aus unserer allgemeinen Richtung etwas nach links abgedrängt, überschritten noch einen gut verschneiten Schrund und wandten uns dann endgültig nach halbrechts den Felsen bei Punkt 4525 zu, über die wir kurz nach 10 Uhr den Bossesgrat erreichten.

Bis kurz unterhalb der Felsen war das Wetter leidlich gewesen, vor allem windstill. Dass oben starker Sturm herrschte, konnten wir jedoch an den eilig dahinziehenden Wolken, deren unterer Rand etwa in Höhe des Grates abschnitt, erkennen. Jetzt, als wir aus dem Windschatten auf die Kammhöhe hinaustraten, erfasste uns ein eisiger Nordweststurm mit aller Macht, und dichtes Schneetreiben und Wolken hüllten uns ein. Zu unserer Linken, etwa 100 m unter uns, konnten wir im Nebeltreiben auf Augenblicke die Cabane Vallot erkennen. Gestützt auf dieses Refuge beschlossen wir, trotz des Sturmes und der Kälte die Besteigung durchzuführen. Von dem bei gutem Wetter hier vorhandenen, breit ausgetretenen Weg war nichts zu sehen; alles war ver-stöbert, stellenweise krönten Wächten den Grat, den wir viel steiler vorfanden, als wir ihn uns vorgestellt hatten, stellenweise war er so blank, dass wir trotz unserer Eisen Stufen schlagen mussten. 1217 betraten wir den in dichte Wolken gehüllten, sturmumtobten Gipfel.

Damals stand noch das Observatorium Janssen auf dem Gipfel oder vielmehr neben demselben, denn es war bereits von der Eisbewegung etwa 20 Schritt nach Norden hinabgetragen worden. Südlich davon hatte sich ein neuer Gipfel, bestehend aus einem langen, schmalen Schneegrat, gebildet. Schleunigst zogen wir uns in das kältestarrende Innere der unverschlossenen Hütte zurück und waren hier wenigstens vor dem Sturm geschützt.

1240 verliessen wir das schützende Haus bereits wieder, um den Abstieg anzutreten, eben als sich die Wolken für Augenblicke teilten und uns einen flüchtigen Blick gestatteten auf das fast 4000 m tief zu unsern Füssen im Sonnenlicht liegende Chamonix und auf eine reichgegliederte, prächtige Gebirgsgruppe fern im Süden: das Dauphine. Deutlich hoben sich aus dem Gewirr von Gipfeln die himmelragende Eiswand der Barre des Ecrins und der Zackengrat der Meije ab. Es war wie eine Fata Morgana. Der Eindruck, den das Bild auf uns machte, war so überwältigend schön, dass sofort in uns der Wunsch aufsprang, jenes Paradies der Bergsteiger sobald als möglich zu besuchen, ein Wunsch, der für Schuster und mich schon im nächsten Jahre in Erfüllung gehen sollte.

Trotz des Sturmes kamen wir schnell tiefer und betraten 1325 die Cabane Vallot. Wir fanden sie vollgepfropft mit Turisten und Führern, die vor dem Sturm hier Schutz gesucht hatten und den Weiteraufstieg nicht wagten. Gleich kamen hier die Führer Cesar Ollier und Alexis Fenouillet aus Courmayeur auf uns zu und teilten uns mit, dass sie mit ihrem Herrn, einem österreichischen Geistlichen, unsern Spuren vom Domgletscher auf den Bossesgrat gefolgt seien. Sie waren um Mitternacht in der Cantine de La Visaille aufgebrochen, waren auf dem Gletscher auf unsere Spuren gestossen, hatten uns gehört und gesehen und sogleich beschlossen, uns zu folgen. Am Grat angekommen, waren sie infolge des Sturmes und der Erschöpfung ihres Herrn zur nahen Hütte abgebogen. So war denn die Bosseswand, wie ich sie nennen möchte, an ein und demselben Tage zum ersten und auch zum zweiten Male durchstiegen worden.

Unser Abstieg ins Tal geschah schnell und glatt auf dem gewöhnlichen Wege über die Grands Mulets und Pierre Pointue. 1928 trafen wir in Chamonix ein.

In die Heimat zurückgekehrt, stellten wir bei den besten Kennern der Gruppe, bei Bobba, Coolidge, Güssfeldt, Kurz und Mathews, Nachforschungen über etwaige Vorgänger auf unserm Wege an. Sie führten zu dem Ergebnis, dass uns in der Tat ein neuer Aufstieg gelungen war; ein neuer Aufstieg, nicht etwa eine Variante, wie teilweise in den Beschreibungen der Mont Blanc-Wege zu lesen ist. Unter einer Variante verstehe ich ein mehr oder minder geringes Abweichen von einem bereits früher begangenen Weg. Ein Weg dagegen, der fernab aller früher begangenen mitten durch eine über 1000 m hohe und etwa anderthalb Kilometer breite, nie betretene Wand führt 1 ), ist ohne Zweifel als neu anzusprechen. Auch einer der besten Kenner der Mont Blanc-Gruppe, Hans Pfann, stellt in seiner Monographie des Mont Blanc 2 ) unsern Aufstieg als vollwertig neben die übrigen Wege.

Wenn ich die Vorteile unseres Weges kurz zusammenfasse, so ergibt sich: er ist kürzer und nicht schwieriger als der gewöhnliche, heute noch allgemein übliche; er ist frei von objektiven Gefahren; die Felsen sind leicht, und neuzeitlichen Eisengängern bieten die steilen Firnhänge keine Schwierigkeiten. Unser Weg führte etwa längs der Geraden zwischen den Punkten 3273 und 4525 der Mont Blanc-Karte, bildet sonach die kürzeste Verbindung zwischen Cabane du Dôme und Cabane Vallot. Bei überraschendem Einbruch schlechten Wetters, was in der Mont Blanc-Gruppe bei deren westlicher Lage besonders häufig vorkommt, kann von unserm Wege aus die eine oder andere Hütte mit Sicherheit erreicht werden.

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