Über Roseg und Scerscen zum Bernina
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Über Roseg und Scerscen zum Bernina

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Von Ulrich Campell. I.

Wir gingen so früh von der Tschiervahütte fort, dass wir die Rosegspitze erreichten, bevor die Sonne aufgegangen war.

Das Glück war uns hold. Der ganze Kessel über uns zwischen Piz Roseg und Bernina war mit dicken Nebelschwaden gefüllt, als wir kurz nach Mitternacht den Tschiervagletscher überschritten. Vom Tale her stieg ein unendlich weites Nebelmeer langsam höher. Aber eigentümlicherweise genau auf unserem Weg zum Aguagliouls blieb eine Strasse zwischen den beiden Mauern, die oft nicht breiter war als eine Seillänge. Nicht dass uns ein Nebelfetzen gestreift hätte! Aus einem so klaren Himmel, wie ihn nur frostige Engadiner-nächte kennen, goss der Vollmond dort hinein ein Licht, dass sich die glattgewaschenen Spaltenwände spiegelten. Hell tönten die an die Steine stossenden Pickel durch das öde Trümmerfeld der Moräne, zwei Gestalten stiegen über hell beleuchtete Blöcke und verschwanden in deren Schlagschatten. Knapp unter dem Gipfel abbiegend, gewannen wir den sanften Felsrücken des Aguagliouls, der zur kleinen Fuorcla vor dem Piz Roseg hinunterzieht. Hier waren wir über dem Meer, das am Fels und Eis des Bernina brandete. Besonders nahe trat dieser Vergleich beim Blick in den flachen Kessel des Roseggletschers, dessen sanften Wellen es überall auf gleicher Höhe folgte, nur an einigen Felsköpfen aufschäumend wie an Riffen im Meer.

Einsam in dieser abgeschiedenen Welt stiegen wir zwei der frischverschneiten Rosegspitze zu, langsam, um Kräfte zu sparen für die weite Reise, aber ohne einen Schritt zu halten. Den dunklen Felswall des Nordwestgrates von seiner Basis aus zu bezwingen, war unsere Zeit zu kostbar. Ausgetretene Felsbänder durchziehen seine Westflanke bis zu dem breiten Firnbande, das zum Vadret da Roseg abfällt. Die langen Dornen unserer Steigeisen trugen uns sicher über das körnige Eis der abschüssigen Rinne, durch die man zuletzt den Nordwestgrat erreicht, jenen weissen Rücken mit seinen zwei scharfen Spitzen, der bei einer Rast auf Fuorcla Surley den Blick immer wieder auf sich zieht. Mehr als fusstief bedeckten die glitzernden Kristalle den Grat, jede frühere Spur verwischend: Niemandsland! Zur Unterhaltung schlugen wir ein paar Stufen in eine steile Kante, dass die Splitter stoben. Beim Vorgipfel in 3900 Meter Höhe durchfurchte eine Gemsspur den Schnee! Auf was für unwirtliche Eisgipfel doch die Tiere fliehen zur Jagdzeit...

Wir waren mit Absicht sehr haushälterisch gegangen, jeden hohen Tritt vermeidend und auf den Pickel gelehnt, uns gleichmässig in die Höhe stützend, ohne die Fussgelenke zu gebrauchen. Dafür erreichten wir auch den Roseg vollkommen unermüdet. Hier begann ja auch erst das Problem, der Übergang zum Scerscen, von dem wir eigentlich nur wussten, dass er steil war. Zum Nachdenken blieb wenig Zeit. Wir froren nicht lange unter der Gipfelwächte. Ihre Ränder leuchteten plötzlich hell auf. Das war für uns das Signal, unsere Seilschlingen aufzunehmen und den Ostgrat hinunterzusteigen.

Kurze Eisrippen unterbrechen den schön geschichteten Felsgrat, der einzig wegen des mächtigen Steilsturzes der Rosegeiswand nicht ganz sorglos begangen werden kann. Einer von uns blieb als Gegengewicht in den Gratfelsen, einer rutschte im Neuschnee einer Mulde über dem Absturz der Ostseite. Im Wettlauf mit den ersten Sonnenstrahlen, die langsam den Eispanzer unseres Berges hinunterglitten, ward so der erste Sattel in freudiger Erwartung erreicht. Der Kleine Roseg macht von weitem den Eindruck eines bösartigen Gratturms, wird aber immer freundlicher, je näher man kommt. Wischte man den Neuschnee von den Platten weg, so liess er sich leicht bis hart unter dem höchsten Punkte erklettern und links umgehen.

Bis hierher geht es leicht, auf dem Grat wie auch dicht irgendwo neben ihm; dann wird er schön für den Kletterer. Senkrechte, kleine Gratabsätze mit guten Griffen und Sicherungsmöglichkeit werden häufiger, man kommt aber sehr gut über sie hinweg. So dass wir uns schon zu wundern anfangen wollten, wieso hier erst einer einzigen Partie der Abstieg geglückt war. Das dicke Ende kommt nach. Auf einmal steht man fast direkt über der Messerschneide der Porta Roseg — nur mehr als hundert Meter zu hoch. Verdutzt über den unerwarteten Absturz, hielten wir Kriegsrat. Ich kann nicht sagen, dass uns dabei unser weiterer Weg jenseits der Fuorcla, der durch die senkrechte Sicht natürlich unheimlich steil erscheinende Aufstieg zum Scerscen, gerade ermunterte. In die Einzelheiten des Grates vertieft, hatten wir das Entferntere aus den Augen verloren. Als ich nach einem auffälligen Felszahn unverhofft in die Leere sah und das zerrissene Gegenüber, wirkte das wie ein Überfall des Gebirges mit seiner Wildheit. Während unsere Nerven sonst noch Freude zu vermitteln vermögen, wo den Flachländer das Gewaltige erdrückt, so war dies ein Moment, wo auch den Gewohnten die Gewohnheit nicht schützt, wo ein Bergsteiger zurückkehrt zu den Gefühlen, da er anfing, da er zum ersten Male vor einer steilen Felsmauer stand, unsicher zögerte und — vielleicht auch etwas Angst hatte.

Der Ostgrat zerteilt sich hier in viele kleine Rippen, die zuletzt ganz verschwinden, wozu die Steilheit alles sehr unübersichtlich macht. Die vereisten Felsen und der Neuschnee drängten uns durch kleine Kamine und über schmale Gesimse immer mehr auf die italienische Seite. Ein direkter Abstieg schien jedoch nicht möglich, wenigstens wenn man Lust hatte wie wir, ohne Abseilen hinunterzukommen. In geringer Höhe über dem Sattel querten wir deshalb mit den Steigeisen stellenweise dick überfrorenes, sehr steiles Gestein eine Seillänge weit zur Rosegostwand. Unser Wille gewann. Nachdem mein Freund über den untersten, nicht leichten Absatz heruntergekommen war, betraten wir nach zehnstündiger Fahrt den geschwungenen Eisgrat der Fuorcla Tschierva-Scerscen. Fast die ganze Zeit des Abstieges hatten wir wegen der schlechten Verhältnisse auf das letzte Drittel verwendet, das grössere Schwierigkeiten bot als der Scerscenaufstieg. Vorbei an einem eigenartig zerbrochenen Pickel, der im Firn der Tschiervaseite steckte, querten wir sofort zum Einstieg hinüber.

Die erste Hälfte unseres Vorhabens war geglückt. Wir durften uns auf diesem wilden Passe etwas Ruhe gönnen. Der Grat vom Roseg und der vom Scerscen stürzen sehr steil auf seine scharfe Schneide hinunter, und von hier fällt noch eine aussergewöhnlich glatte, makellos weisse Eiswand einige hundert Meter zum Tschiervagletscher ab; dahinter schaut die Eiswand des Roseg hervor: alles abschüssig, zerklüftet, droht zu stürzen — ein Ruheplatz nur für Bergsteigergemüter. Die sonst so lieblichen Engadinerberge werfen hier Falten, als ob sie es mit den Aiguilles aufnehmen wollten. Dies ist sicher eine der grossartigsten Ecken der Alpen.

Es scheint bei den meisten alpinen Unternehmen zuzutreffen, dass, je grösser die Fahrt, um so abgekürzter der Naturgenuss ist. Die Reize sind ja dafür auch andere: das Überwinden der Entfernungen, der grosszügigen Schwierigkeiten. Dies allen jenen, die es komisch finden, dass man an einem Tage gleich über alle drei Gipfel rennt. Ganz abgesehen davon, dass ein seitlicher Abstieg von der Porta Roseg nicht so ganz unbedeutend ist, und dazu müsste man am nächsten Tage wiederkommen. Man begnügt sich deshalb besser mit einer Rast und macht die schöne Überschreitung in einem Zuge.

Wir schnallten unsere Eisen ab und stillten den Hunger. Dem aufsteigenden Nebel und einer verdächtigen Wolke am Monte della Disgrazia widmete jeder von uns stille Betrachtungen. Das Hauptthema war natürlich der weitere Aufstieg. Es ging lange, bis wir uns geeinigt hatten, wo anfangen. Der Scerscen ist eben noch so ein feiner Kerl, dass er einem nicht mit Nagelspuren das Vergnügen verdirbt, den Weg sich selbst zu suchen.

Eine Umgehung des ersten Aufschwunges auf der Tschiervaseite ist möglich, aber sehr zeitraubend. Die glatten Platten, die direkt zum ersten Gratturm führen, schienen gangbar, und dort kamen wir auch hinauf, wenn auch wegen unserer Säcke und der Nagelschuhe mit viel Kraftaufwand. In der nächsten Zeit folgten wir der Kante, die durch ihren Ausblick in die eisstarrende Nordwand und den hitzeflimmernden Schutt der Südwand jene Abwechslung bot, die Gratkletterei interessant macht. Drängte ein Überhang uns ab, so wichen wir immer auf die weniger steile, dafür aber um so brüchigere italienische Seite aus, auf welcher es — wie mir nachträglich scheint — doch besser gehen sollte. Unorientiert wie wir waren, konnten wir erst nach Erreichen der Scharte hinter dem Turm feststellen, dass es wohl einfacher ist, gleich nach dem Einstieg schief in die italienische Wand hinaufzuqueren und durch ein breites Couloir die Scharte zu gewinnen. Immerhin wäre ein Verfolgen der Gratkante mit Kletterschuhen, wenn auch oft unter Schwierigkeiten, möglich und damit die Steingefahr des gewöhnlichen Weges vermieden.

Auf unserem Wege wurde der Fels immer haltloser, und Stellen, an denen eine gegenseitige Unterstützung nicht mehr möglich war, erschienen immer häufiger. Dazu schien sich der niederträchtige Turm immer mehr vornüber zu beugen. Das Ergebnis des ersten Versuches, in der Nordwand höher zu kommen, war, dass mein Freund wegen des Eises am nächsten kleinen Überhange stecken blieb. Für eine Umgehung auf der italienischen Seite ist der Turm in seinen obersten Partien zu steil. Ein direkter Aufstieg zum nicht mehr viel höheren Gratturme über die eigentümlich trotzig aussehenden Felsen schien uns beiden nach dem zwölfstündigen Anmarsch nicht ratsam. Unsere Spannung wuchs, als einige vorüberfahrende Nebelfetzen den Grat verdunkelten. Die Wolke an der Disgrazia musste, ohne dass wir es bemerkt hatten, grösser geworden sein: einen Moment lang schien Eile geboten. Wir gingen deshalb ein Stück zurück, und ich gelangte dann durch Queren auf der italienischen Seite um den Turm herum und auf einen spitzen Zacken in der Scharte vor der Schneehaube. Hier mündet das vorher genannte Couloir des gewöhnlichen Weges durch die italienische Wand.

Damit war die schwierigste Stelle der ganzen Fahrt hinter uns: wir hatten gewonnen. Die weitere Überschreitung zum Piz Bernina hatte dagegen nicht mehr viel zu bedeuten. Wir baumelten am Seil von dem überhängenden Zahn wunderschön durch die Luft auf eine faule Scharte hinunter, die durch das Ausbrechen der Steine nach beiden Seiten gleich einen Meter tiefer wurde. Leichtes Geröll machte den kurzen Aufstieg zur Schneehaube zur angenehmen Entspannung. Erst hier ruhten wir aus, weil ich meinem Freunde nicht glauben wollte, dass kein weiterer so gemeiner Turm dahinter auf uns lauere.

Dann machten wir, dass wir zum Scerscengipfel kamen. Schmale Eisgrate, die aus dem breiten Firnfelde aufsteigen, das in die Scerscennase mündet, machten den Weg trotz des aufgeweichten Neuschnees sehr reizvoll. Der Abgrund, dem wir entstiegen waren, ist durch die sanfte Schneehaube angenehm verdeckt, und das Firnfeld gegen die Schweiz lässt dem Scerscenkletterer seinen Gipfel viel flacher und gemütlicher erscheinen, als man es sich dem Aussehen nach vorstellt. Zu unserer Freude fanden wir in einer rostigen Büchse die vergilbten Zettel zweier Bekannter von einer Besteigung aus dem Jahre 1905 und schrieben unsere Grüsse auf die Rückseite. Die wenigen Besucher hatten sie unberührt gelassen, aber die Stürme eines Vierteljahrhunderts waren über sie hinweggebraust.

Die Wolken und damit unsere Sorgen waren verflogen. Der Monte della Disgrazia bot seine schöne Pyramide. Über Italiens Ebenen lag ein beruhigender Nebel. Die Aussicht in das nahe Bergelier Klettergefels war an dem hellen Herbsttage besonders klar. Tiefschwarz hoben sich die schattigen Kamine von den grell leuchtenden Wänden ab. Und darüber hinaus wimmelte es von Gipfeln. Dass die Erde es noch fertigbringt, rund zu sein mit so viel HügelnDrei Grattürme versperren den Weg zum Bernina. Aber irgendwo auf der Südseite kann man durch versandete Rinnen und auf Schuttbändern ganz gut um sie herumkommen. Wir kletterten jetzt schneller als am Morgen bergauf, allerdings nur mit willentlicher Anstrengung. Bisher waren wir langsam gegangen, aber durchaus stetig; während neunzehnstündigen Kletterns hatten wir fast zweieinhalb Stunden gerastet.

Eine überflüssige Abseilstelle in eine Felsspalte eröffnet die Kletterei beim ersten Gratabsatz. So steil die Grataufschwünge sich vom Roseg-tale aus ausnehmen, so gut sind sie gestuft, besonders auf der italienischen Seite. Nach den gehabten Mühen machte uns die leichte Kletterei Spass, so dass wir den Scerscensattel bald erreichten.

Der letzte Übergang zu den Felsen des Piz Bernina besteht aus einem scharfen Eisgrate, der wegen der Steilheit des Eisabbruches zur Linken viel mit dem Güssfeldtsattel gemeinsam hat. Anfangs balancierten wir direkt auf der aussergewöhnlich schmalen Schneide, einen Fuss im Schweizerlande, den andern im visumbeschwerten Italien. Dazu zauste uns der Gratwind das Haar und stiess uns an die Schulter. Wir hätten einen passgierigen Faschisten, der wie so viele mit Feldstecher und Zollstab unsere Grenze nach unwissenden Alpinisten absucht, zur Verzweiflung bringen können. Der Neuschnee der Nordwand geriet durch die Störung aus der Fassung und fuhr leise zischend in Staublawinen hinunter, welche die jetzt schon gelblich scheinende Sonne phantastisch beleuchtete, dass sie wie Schwefelwolken aussahen. In Sicherheit geborgen ein unvergesslich schöner Anblick vom Rande des Hexenkessels.

Weil der Grat in den besten Verhältnissen war, ging es fast ohne Stufen, und wir sparten hier viel Zeit, besonders auch, da mein Freund diesen Teil von einer früheren Besteigung her kannte. Bei der letzten, steilen Felskletterei zum Berninagrate hinauf war dafür der Neuschnee wieder um so hinderlicher. Als wir unsere Köpfe über den Berninasüdgrat streckten, sahen wir, dass der runde Mond von gestern auch schon wieder da war und gerade mit der Sonne um die Vorherrschaft kämpfte. Es war zwar erst 7 Uhr, aber eben schon spät im September.

Der breiten Spur nach trotteten wir zum Signal, das wir vor halb 8 Uhr erreichten. So schnell, als ob der liebe Gott das Rampenlicht gewechselt hätte, waren die Farbenkontraste verklungen; im Nu hatte er die ganze eisige Kette des Bernina mit zauberhaftem Mondlicht übergossen. Die Felstürme des Scerscen verloren ihren Trotz. In ungewisser Ferne schimmerte die eisige Kappe des Roseg; nur der Scerscenabgrund, dem wir in der letzten Nacht entstiegen waren, lag in undurchdringlichem Dunkel. Ein unbegreiflicher Szenenwechsel, einer jener fast unmöglichen Gegensätze, die dem Bergsteigen seinen Hauptreiz geben.

Wenn es auch eigentlich unsere Absicht gewesen war, in einem Zuge über den Eisweg des Bernina, den Biancograt, unseren Ausgangspunkt zu erreichen, so freuten wir uns, auch schon so eine der schönsten Gratklettereien Graubündens erlebt zu haben. Schade, dass wir den Gipfel später erreichten, als wir gerechnet hatten; schade, dass es nicht ein Hochsommertag war und die Sonne nicht länger schien! Unsere Kräfte hätten zu der geplanten Rückkehr noch gereicht. Aber die Helligkeit war zu spärlich, um uns noch die Sicherheit zu bieten, auf die wir bei der gewissen Ermüdung, die wir selbstverständlich verspürten, nicht verzichten wollten. Allerdings wäre meine Fahrt nicht ganz vollwertig gewesen, weil mein Freund den Grat sehr gut kannte. Ein nochmaliger Versuch auf bekanntem Wege wäre aber ein Wettlauf im Hochgebirge, womit unsere Überschreitung nichts zu tun hatte.

Wir blätterten im Gipfelbuche und wurden über unser Tageswerk um so vergnügter, als wir nach diesem wenigstens die Ersten waren, die die drei Hauptgipfel der Berninagruppe an einem Tage erreicht hatten. Den Biancograt wollten wir uns für den nächsten Tag sparen. Haben nicht alle Werte im Leben den Inhalt, den man in sie hineinlegt? Und so stolperten wir gemütlich zum Crast'agüzza-Sattel hinunter, der im Mondlicht mit seinen schwarzen Löchern ganz abenteuerlich aussah, und kamen am Ende der zwanzigstündigen Bergfahrt zur Capanna Marco e Rosa, über den gelungenen Streich so froh, als ob wir das grosse Los gewonnen hätten.

Marschzeiten:

Bis Piz Roseg, 3942 m. .5 3/4 Stunden »Scersceneinstieg, 3527 m4 1/4 » »Scerscengipfel, 3967 m .4 » »Berninagipfel, 4055 m .3 » Im ganzen 17 Stunden Ab Tschiervahütte: Mitternacht. Auf dem Berninagipfel: 1925 Uhr. In Marco e Rosa eine Stunde später.

II.

Die Bude war so einsam, so kalt und, wenn der Wind blies, so ungemütlich wackelig wie immer. Am Morgen rannten zerrissene Nebelfetzen um die Wette über den öden Pass: das Wetter hatte umgeschlagen. Wir befestigten unsere Steigeisen, seilten uns an und schlugen uns tüchtig warm noch in der Hütte. Dort, wo die Wege zum Gipfel und nach Morteratsch sich teilen, wurde nochmals beraten. Wir wären so gern über den Eisgrat abgestiegen, dass wir es wenigstens versuchen wollten.

Wenig von der Müdigkeit der gestrigen Fahrt verspürend, waren wir bald oben. Der Wind pfiff zwar im Gestänge des Berninasignals; aber die Nebel kamen und gingen. Beim Abstieg in die recht winterlich aussehende Scharte zog der Wind mir einen Handschuh aus und warf ihn ins Morteratsch hinunter, riss mir meinen Hut vom Kopf, den ich vorsorglich mit einer Schnur befestigt hatte. Und als ich mich am Schartenkopf einmal mit beiden Händen hinaufziehen musste und meinen Pickel vertrauensselig an den Fels lehnte, warf er ihn plötzlich um, ohne dass ich eine Hand hätte loslassen können, ihn zu fassen. So folgte ich mit unendlich trübseligem Blicke seinen diabolischen Sprüngen, als er über die jähe Eiswand ins Tschierva verschwand. Wie um mich zu ärgern, steckte er sich wiederholt fest und verlor dann ganz langsam das Gleichgewicht, bis einige hundert Meter tiefer der Nebel ihn gütig aufnahm. Ich konnte mich kaum halten, und der Wind blies mir Schnee in den Kragen: aber ich machte meinen Gefühlen an Ort und Stelle in solchen Tönen Luft, dass mein Freund, der mich nicht sehen konnte, ganz bestürzt am Seile zerrte. Die von mir seit langem ersehnte Biancofahrt war mir in der letzten Minute aus den Händen geglitten. Denn unter diesen Umständen war an einen Abstieg über den steilen Eisgrat nicht zu denken. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, machten wir rechtsumkehrt.

Das in Wallung geratene Blut half uns in geradezu grandiosem Schwunge zur Berninaspitze zurück, die in dem jagenden Nebel einen packenden Anblick bot. Auf dem Crast'agüzza-Sattel, wo sich die Wolken stauten, sah man nur wenige Meter weit, so dass ich mich über die oft so geschmähte Berninaspur sehr freute. Noch bevor der frische Schnee sie verdeckt hatte, waren die grossen Spalten hinter uns. Der Boden lief unter unseren Füssen; alles war so trostlos grau, als ob es gerade Winter werden wollte. Einen Vorteil hatte aber der Ärger über unsere Niederlage im letzten Momente: er schob so tüchtig, dass wir dreieinhalb Stunden später, nachdem wir dem stürmischen Gipfel den Rücken gekehrt, in der Station Morteratsch sassen.

NB. Mein Begleiter war der junge Bergführer Karl Freimann aus Samaden, der als mein Freund mit mir ging ohne jede Bezahlung und indem wir uns in die Überwindung der Schwierigkeiten redlich teilten. Er berichtet mir, dass er auf Anzeige durch den Führerobmann in Pontresina vom Kleinen Rate Graubündens einen Verweis erhalten habe mit der Begründung, dass er auch bei « sogenannten Freundschaftsturen » nach Führervorschrift gewisse Gletscher nur zu dritt begehen dürfe und er mich somit in eine Gefahr mit möglicherweise schlimmen Folgen geführt habe.

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