Unter dem Eis Die verborgene Welt im Innern der Gletscher
Gefrorene Wasserfälle, gewundene Schluchten, weite Hallen: Erst in den letzten Jahren entdeckten Forscher das Innenleben der Gletscher. Und dessen Bedeutung für den Anstieg des Meeresspiegels.
Es ist nass, kalt und eng. Ich bin tief im Gletscher, über mir nur Eis, unter mir ein schwarzes Loch. Eine enge Spalte, zu tief und zu finster für meine Stirnlampe. Die leuchtet in das Eis vor mir, spiegelt sich darin. Das zurückgeworfene Licht blendet mich. Schon völlig durchnässt, hänge ich an zwei Eisschrauben und mache mich bereit. Abseilen. In ein schwarzes Nichts.
Ein letzter Check, dann geht es hinunter. Es wird noch enger. Langsam drückt mich mein eigenes Gewicht durch die Spalte. Die Hände an den Leib gedrückt, versuche ich, irgendwie mein Abseilgerät zu bedienen. Dann wird es plötzlich weit, ich kann wieder sehen und stehe auf spiegelglatt überfrorenen Steinen. Von irgendwoher murmelt Wasser, hallt durch verborgene Gänge. Wir sind ganz unten. Am Bett des Gletschers. Unter dem Eis.
Von Florida ins ewige Eis
Stunden zuvor haben wir uns durch den Schnee gegraben, um diese eine Gletschermühle zu finden, die ganz nach unten führt. Bei –20 °C, im ewigen Blau der Polarnacht, auf dem Rieperbreen im arktischen Spitzbergen. Mit dabei: der Glaziologe Doug Benn. Jahrelang hat er im Himalaya die Seen studiert, die sich an der Oberfläche der dortigen Gletscher bilden. Wie deren Wasser durch das Eis abfliesst, war lange ein Rätsel. Die Welt im Innern der Gletscher war unbekannt, nur wenige Wagemutige hatten bis dahin versucht, sich in die Gletschermühlen abzuseilen.
Dann traf Benn an einer Konferenz auf einen jungen Wissenschaftler aus Florida: Jason Gulley, einen begeisterten Höhlenforscher, der in den riesigen Höhlensystemen Floridas und Mexikos die Wege des Wassers erforscht hatte. Für Gulley war sofort klar: Die Ergebnisse der Karstforschung könnten auch im Gletscher hilfreich sein. Und der einzige Weg, um dieser Vermutung nachzugehen, war, in die Höhlen zu gehen.
Ein Jahr später, 2005, trafen sich die beiden am Fuss des Khumbu-Gletschers in Nepal. Und wagten den Weg ins Unbekannte, in die Höhlen im und unter dem Gletschereis.
Gewundene Gänge, jähe Abstürze
Was Benn und Gulley antrafen, widersprach der Lehrmeinung der Glaziologen komplett. Aufgrund von physikalischen Modellen war man bis dahin davon ausgegangen, dass sich das Schmelzwasser im Gletscher bewegt wie in einem Leitungssystem: in Röhren, deren Grösse und Verlauf vom Gleichgewicht zwischen Eis- und Wasserdruck bestimmt werden. Ein regelmässiges System.
Im Innern des Khumbu fanden sich aber völlig andere Strukturen. Die Formen glichen Karsthöhlen, wie man sie aus dem Jura und den Kalkalpen kennt: gewundene Gänge, jähe Abstürze, Engstellen und riesige Hallen. Extrem flache Passagen wechselten sich ab mit tief eingeschnittenen Canyons. Weitere Untersuchungen am Matanuska-Gletscher in Alaska und an zahlreichen arktischen Gletschern in Spitzbergen zeigten dasselbe Bild: mäandrierende Gänge, Stalaktiten aus Eis, Syphons, riesige Galerien. Die Schlussfolgerung war, dass das Wasser sich im Gletscher nicht anders verhält als im Karst. Es folgt Schwachstellen im Eis, wäscht sie aus, gräbt sich ein – bloss viel schneller als in Karsthöhlen: Während sich diese im Laufe von Jahrmillionen bilden, kann eine Gletscherhöhle in einem einzigen Sommer entstehen. Das Fazit der Forscher: Das Innere des Gletschers ist kein hydraulisches System, sondern ein Labyrinth aus chaotisch verlaufenden Kanälen, mit Wasserfällen, Seen, ruhigen Passagen. Eine faszinierende Wasserlandschaft weit unter der Oberfläche.
Als Abenteurer abgekanzelt
Ganz neu war diese Erkenntnis nicht. Bereits zuvor hatten sich polnische Forscher in die Gletscher Spitzbergens abgeseilt. Zurück kamen sie mit Karten und spektakulären Fotos. Wissenschaftlichen Erfolg hatten sie damit aber nicht – die internationale Forschergemeinde tat die Expeditionen als blosse Abenteuer ab. Denn die Erforschung der Innenwelt der Gletscher war für Glaziologen lange ein Tabu. Vielleicht auch, weil man vor der Erfindung moderner Eiskletterausrüstung meist nur durch das Gletschertor ins Innere des Eises vordringen konnte – dort, wo es am gefährlichsten ist. Stein- und Eisschlag machen an der Spitze der Gletscherzunge nur schon den Zugang gefährlich, zuunterst am Entwässerungssystem des Gletschers kann es ausserdem jederzeit Hochwasser geben.
Die Eisdecke über uns senkt sich, am Ende bleiben noch 30 Zentimeter zwischen Eis und Fels. Ich krieche über ein grobblockiges Bachbett. Im Sommer schiesst hier ein Schmelzwasserfluss dem Gletschertor entgegen. Wir sind jetzt rund 60 Meter unter dem Eis. Es ist schwierig, nach vorne zu blicken. Um durch den engen Durchgang zu passen, muss ich meinen Kopf quer legen, der Helm verkeilt sich zwischen Eis und Steinen, ich kann mich nicht drehen. Platzangst kommt auf. Tief durchatmen und weiter.
Schmelzwasser bringt die Gletscher in Fahrt
Mühevoll schiebe ich mich weiter, die Steine zerreissen Jacke und Hosen, ich schwitze, die wenige Luft wird trüb vom Dampf des Körpers, ich sehe nichts mehr. Irgendwann gibt der Boden unter den Händen nach. Hier hat sich der Gletscherfluss tiefer in sein Moränenbett eingefressen. Ich kann wieder stehen. Vor mir ein langer Gang, eine düstere Galerie. Wie verzerrt hallen die Geräusche durch den Tunnel im Eis, das Kratzen der Steigeisen, das Husten und Keuchen der Kollegen hinter mir.
Mittlerweile hat die Erforschung der Gletscherhöhlen an Akzeptanz gewonnen. Längst geht es nicht mehr nur darum, die Formen im Eis zu dokumentieren und zu kartieren. Die unterirdischen Schmelzwasserkanäle liefern wertvolle Informationen, wenn es darum geht, das Verhalten grosser Gletscher zu modellieren. Forschungsergebnisse aus Grönland und der Antarktis deuten daraufhin, dass das Schmelzwasser im Gletscher eine wichtigere Rolle spielt als bisher angenommen. Wann und wo das Wasser an den Grund eines Gletschers gelangt, beeinflusst dessen ganze Dynamik: Erreicht viel Wasser das Bett, kann sich die Fliessgeschwindigkeit des Eises plötzlich erhöhen. In Grönland und der Antarktis heisst dies: Sehr viel mehr Eis gelangt sehr viel schneller in den Ozean. Eine düstere Aussicht für Hafenstädte wie New York oder Amsterdam, für die bereits eine geringe Erhöhung des Meeresspiegels katastrophale Folgen hätte.
Lebensraum für unbekannte Organismen
Umgekehrt fliessen Gletscher unter Umständen langsamer, wenn grosse Höhlensysteme das Schmelzwasser effizient vom Gletscherbett wegführen – anstatt auf einer gut geschmierten Unterlage liegen die Gletscher dann plötzlich auf dem Trockenen. Mittlerweile sind die Höhlen im Eis auch für die Biologen interessant: Wie in Kalksteinhöhlen existieren hier seltene Organismen unter extremen Bedingungen. Die wenigsten von ihnen sind erforscht. Und auch sie geben Aufschluss über die Wege des Wassers im Gletscher: Spuren von Mikroorganismen und ihren Stoffwechselprodukten geben Informationen über jene Teile des Höhlensystems, die für den Menschen nach wie vor unerreichbar bleiben.
Nach zehn Stunden erreichen wir wieder die Oberfläche. Völlig verschwitzt und durchnässt vom Jümaren über die vielen gefrorenen Wasserfälle. Das Blau der Polarnacht ist endgültig gewichen, der Himmel ist tiefschwarz, die Sterne glitzern wie Eiskristalle im Nichts. Innert Sekunden gefrieren die Kleider am Leib. Man kann das Knistern hören. Nun muss alles sehr schnell gehen: Steigeisen von den triefenden Schuhen, bevor sie anfrieren. Trockene Handschuhe. Daunenjacke. Und los: Es wird noch Stunden dauern, bis wir an der Wärme sind.