«Versteinertes» Fensterbrett
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«Versteinertes» Fensterbrett

In einem Anflug von gutem Willen habe ich Staubsauger und Putzlappen hervorgeholt, habe etwas unschlüssig umhergeblickt, wo ich denn nun beginnen soll, und bin hängengeblieben am noch satten Grün der Bäume draussen vor dem Fenster, am Himmelblau und am Sonnenweiss. Es wird nicht mehr viele solche Tage geben, bevor mir der Nebel wieder Licht und Sicht nimmt.

Ich lasse das Saugerrohr fallen, den Putzwillen ebenfalls und setze mich zum Znüni auf den Balkon. Nein, nicht einmal die Wespen vermiesen mir den Apfel! Doch unweigerlich werde ich an meine Pflicht gemahnt, überall Staub, Spinnweben, verdorrte Pflanzenblätter und allerlei Brosamen. Aber hier mache ich gern sauber.

Ich beginne mit dem Fenstersims, er braucht seine Zeit, denn an die hundert Steine liegen hier. Jeder hat seine Geschichte, an viele mag ich mich erinnern, von anderen weiss ich nur noch, dass es mir wichtig war, sie heimzutragen. Da ist der kleine Reuss-kiesel mit dem geheimnisvollen Quarzstreifenmuster, den mir unsere Tochter brachte bei ihrem ersten Spaziergang am Fluss. Daneben liegt der Rigi-Nagelfluhbrocken, ein harmonisches Miteinander von urzeitlichen Ablagerungen. Ich denke an die zahlreichen Wege und Pfade, die ich an diesem Berg schon gegangen bin, immer wieder begeistert von seiner Vielfalt. Behutsam blase ich dem zu-kerweissen Dolomit vom Binntal den Staub weg. Sein millimeterkleiner Turmalin ist durch die Lupe wunderAus: Clubnachrichten der Sektion am Albis 10/97 bar anzusehen. Stundenlang haben die Kinder in brütender Hitze die Ab-raumhalde der Grube Lengenbach durchwühlt. Auf dem rötlichen Verrucano, vom Linthgletscher in einer märchenhaften Moränenlandschaft liegengelassen, ist ein kunstvolles Kalkgerippe gewachsen, das mich stets von neuem fasziniert. Die neuste Errungenschaft, gefunden in den Sommerferien in einem Bachbett am Fuss zackiger Dolomitengipfel, ist überaus kostbar: ein ganz helles Stück, übersät mit vielen winzigen Granaten.

Steine - Sinnbilder von Härte, Schwere, Unfruchtbarkeit. Sie bilden die feste Kruste unseres Planeten und den Boden, auf dem wir uns bewegen. Doch lässt man sich mit ihnen ein, spürt man ihnen nach, enthüllen sich Geschichten, eigenartige, spannende, lebendige. Und wenn ich die Hand am Abend auf einen noch sonnenwarmen Stein lege oder meine Finger beim Klettern Halt am Felsen finden, geben sie mir durchaus « weiche » Empfindungen. Sie alle sind vor Millionen von Jahren entstanden und liegen nun da, um mir Freude zu bereiten. Ihr Anblick hilft, kleine Ärgernisse, kurze Missmutigkeiten zu überwinden, sich der unendlichen Dimensionen von Raum und Zeit bewusst zu werden, Zusammenhänge zu begreifen, sich von Nichtigkeiten zu befreien, an Bewährtes zu glauben.

Stein um Stein in die Hand nehmen ist etwas vergangenes Ferienge-fühl in den Alltag flechten, damit der Glanz der Erinnerung nicht so schnell verblasst.

Christine Meier, Hünenberg

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