Von der Laube zum Balkon. Walliserhaus im Wandel von Zeit und Geschmack
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Von der Laube zum Balkon. Walliserhaus im Wandel von Zeit und Geschmack

Walliserhaus im Wandel von Zeit und Geschmack

Woran denken Sie beim Wort « Walliserhaus »? An sonnengehärtete, dunkelbraune Lärchenbalken, Plattendächer, Mausteller, Geranien und die weiss-rote Fahne mit den 13 Sternen? Das ist alles richtig und gleichzeitig auch falsch. Der Hausbau im Wallis hat ( wie in anderen alpinen Regionen ) eine erstaunliche Metamorphose durchlaufen, deren Ursachen eine wirtschaftliche Neuorientierung und die Verwendung anderer Baumaterialien sind.. " " .Das Gletscherdorf Saas Fee bietet dazu einen eindrücklichen und repräsentativen Anschauungsunterricht.

Das traditionelle Walliserhaus Bis etwa 1950 wurde im Wallis der traditionelle Hausbau gepflegt. Die Mehrheit der Menschen betätigte sich als genossenschaftlich organisierte Bauern. In einzelnen Orten hatten sich, verirrten Ozeandampfern ähnlich, bereits mondäne, klotzige, steinerne Hotels eingeschlichen, die sich durch Form, Farbe, Inhalt und wirtschaftliche Organisation dramatisch vom Bauernhaus unterschieden. Letzteres ist von jeher im Kantholz-blockbau auf einem Trockensteinsockel gebaut worden. In der Regel verwendete man dazu rohe, behaueneLärchenbalken, die sich im Eckgefüge ( Gewett ) gegenseitig hielten und stützten und mit zunehmendem Alter immer härter und widerstandsfähiger wurden. Auf Grund des Risikosdesbeinahedauernd brennenden Herdfeuers baute man die Küche zunächst in einen steinernen Herdstock ein, der auch Feuerecke genannt wird. Daraus entwickelte sich später ein Steinbau, der an den hölzernen Wohntrakt angefügt wurde und die Feuerstelle und die Küche umfasste. Da meist mehrere Familienmitglieder oder mehrere Familien gemeinsam ein Haus bauten, wiesen diese mehrere Obergeschosse auf. Stock-werkeigentum war die Regel. Der Zugang zu den einzelnen Wohnungen erfolgte über steinerne oder hölzerne Wangentreppen, die an der Trauf- oder hinteren Giebelseite angebracht wurden und oft in Lauben endeten. Die Hauptfassade wurde lediglich durch Fenster-zeilen und angehängten Blumenschmuck unterbrochen. Ein Balkon war im traditionellen Walliserhaus nicht bekannt. Den Abschluss des Hauses bildeten Firstbalken und Pfetten ( parallel zum Dachfirst verlaufende Balken ), auf denen an Rafen befestigte Dachlatten und schliesslich die berühmten Steinplatten ruhten. Dieser traditionelle, von solider Zimmermannskunst zeugende Hausbau nutzte die in Dorfnähe vorhandenen Baustoffe und veränderte sich im Laufe

Alte Häuserzeile im traditionellen Stil. Das Haus rechts weist angesetzte Holzbalkone mit schlichten Verzierungen auf ( Saas Fee, Unnerum Biel ). Das alte Pfarrhaus von Saas Fee ( heute Saaser Museum ), ein beispielhaftes Walliserhaus im Kantholzblock. Die von der Sonne dunkelbraun gebrannten Lärchenstämme zeigen beachtliche Mächtigkeit auf, davor ein farbiges Wegkreuz ( Saas Fee, Obri Gassu ).

Ein schönes Bauernhaus mit langem Steintrakt. Die individuellen Zugänge enden in schmalen, teilweise kürzlich renovierten Lauben ( Saas Fee, Wildi ).

Fo to s:

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der Jahrhunderte nur wenig. Nur bei stattlichen Doppelhäusern wurde die Länge der Giebelseite, die durch die Bal-kenlänge von gut fünf Metern vorgegeben war, erweitert. An einzelnen Orten finden sich südländischer Tradition folgend Mantelmauern, die einen besseren Schutz bei Feuersbrünsten versprachen. Der Ständerbau und das Fachwerk spielten im Wallis im Vergleich zum Blockbau eine unbedeutende Rolle. 1

Beruflicher Wandel Nach 1850 begann der Tourismus, die Melioration der Rhoneebene und die Industrialisierung der Talsohlen. Ab 1950 trat das Phänomen des Massentourismus auf, und es wurden bisher undenkbare titanische Staumauern realisiert. Die wirtschaftliche Ausrichtung der Walliser änderte sich deshalb sukzessiv. Plötzlich boten Fabriken zusätzliche Einkunfts-quellen. Die Übergangsform des « Fabrik-bauern » entstand. Den ursprünglichen Landwirtschaftsbetrieb führte man als Nebenerwerb oder für die Selbstversorgung zunächst weiter. Strassen- und Kraftwerkbau brachten mittelfristig Arbeit, erschlossen entlegene Täler und hoben dort auch den Zwang auf, lediglich mit lokalen Baustoffen zu arbeiten. Die Trockenlegung des Rhonetales führte zu einer Abwanderung aus den dicht bevölkerten Bergdörfern, die allmähliche Aufgabe des Stockwerkeigentums war die Folge. Gleichzeitig wurde durch den Gewinn von bedeutenden Anbauflächen im Rhonetal die Agrarindustrie möglich, und andererseits wurden Agrarflächen und Wirtschaftsgebäude in den Berglagen aufgegeben. Ein zunehmender Nutzungswandel dieser Wohnungen und Bauten zeichnete sich ab. In den für den Tourismus interessanten Talnischen entwickelten sich die Berufe des dritten Sektors. Allerlei Dienstleistungen kamen auf, um die Bedürfnisse der Touristen zu befriedigen. Aus Geiss- und Schafhirten und Kleinbauern wurden Bergführer, Skilehrer, Hüttenwarte, Wirte, Hoteliers, Ladenbesitzer, Tennislehrer, Disc-jockeys, Angestellte bei den Kraftwerken und Bergbahnen und Vermieter von Ferienwohnungen. Oase und Blumenträger Auf Grund des steigenden Bedarfs an Urlaubswohnungen erfuhr die traditionelle Bauweise der Häuser eine Weiterentwicklung. Zwar herrschte weiterhin der Blockbau vor, die Häuser wurden jedoch grösser, und die ersten schüchternen Balkone zierten die Fassaden. Diese deckten ein offensichtliches kon-templatives Bedürfnis der Fremden ab, das zum Synonym für « Urlaub » schlechthin wurde: Die Sicht auf die Berge von den eigenen vier Wänden aus ungestört betrachten, dort die Sonne geniessen und im Schatten von farbigen Sonnen-schirmen Mahlzeiten einnehmen und angesichts kühler Gläser plaudern oder lesen. Dem zunächst verhaltenen Hang der Einheimischen, das sonst etwas monoton und streng wirkende schwarzbraune Haus mit Blumen zu schmücken, kamen diese Balkone ebenfalls stark entgegen, eröffneten sie doch zusätzliche Abstellplätze für Geranien und andere Zierblumen.

1 Weiterführende Literatur: Egloff/Egloff-Bod-mer: Les maisons rurales du Valais/Die Bauernhäuser des Kanton Wallis. Zweisprachig, herausgegeben von der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde, Basel 1987.

Das klassische Walliser Bauernhaus – es heisst treffend « Büru-Hüss ». Klar abgegrenzt durch weissen Verputz der Steintrakt mit Küche, rechts der Wohntrakt im Kantholzblock. Das alte, beinahe schwarze Lärchenholz gibt dem Haus ein würdiges Gepräge. Die steinerne Treppe links bedient die Obergeschosse ( Saas Fee, Lomattu ).

Das « Büru-Hüss » von hinten. Die Treppen-zustiege zu den Ober-geschossen enden in langen Lauben, welche den erweiterten Steintrakt vollständig umschliessen ( Saas Fee, Lomattu ).

Links das klassische Walliserhaus mit originellen Zustiegs-treppen, in der Mitte ein kleineres Exemplar mit « Saalgeschoss ». Der erhöhte Steinsockel ermöglichte den Einbau von Speichern, die später zu Wohnraum umfunktioniert werden konnten. Das stattliche Haus rechts stammt aus den Fünfzigerjahren ( Saas Fee, Lomattu ).

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Die Laube und ihre Nutzung Die auf Konsolen, Streben und Pfeilern ruhenden traditionellen Lauben waren nur Verlängerungen der Zustiegstreppen. Zunächst dienten sie als Abstellplatz und zum Trocknen von Wäsche, Hanf, Flachs, Kräutern und Feldfrüchten. Da die Lauben sehr schmal waren, konnten sie nicht als Aufenthaltsort genutzt werden. Zudem war zu jener Zeit die öffentliche Zurschaustellung des Müssiggangs verpönt. Später diente die Laube auch als Zugang zu den neu eingerichteten Aborten oder wurde wegen Platzmangels zur Kammer umgebaut, indem sie verschalt und geschlossen wurde.

Neue Baumaterialien Die Erschliessung der für den Tourismus relevanten Orte durch Seil- und Eisenbahnen und Strassen ermöglichte die Zufuhr bisher fremder Baumaterialien. Aus dieser Periode stammen die ersten Eternitdächer und mit Eternitschindeln geschützten Fassaden. In der gleichen Zeitperiode manifestierte sich auch der aus heutiger Sicht eigenartige Wunsch, die schönen Arvenmöbel und die Täfe-lung einfarbig anzustreichen. Das Holz war plötzlich zu einem unmodernen, rückständigen Baumaterial verkommen. Backstein und Beton fanden deshalb rasch ihren Weg auf die immer zahlreicheren Baustellen. Diese Materialien erlaubten ein freieres Bauen und die Imitation von Vorbildern aus anderen Regionen und dem Flachland. Die im Blockbau durch die natürliche Baum-länge gesetzten Grenzen konnten definitiv überschritten werden. Auch die Einheimischen fanden zunehmend Gefallen an Wochenendhäusern und Zweitresi-denzen auf den Maiensässen, entflohen sie dadurch wenigstens zeitweise den eng gebauten Dörfern. Dies führte zu einer Nivellierung der Leitvorstellungen, ortsfremde Vorbilder bekamen mehr und mehr Gewicht. Ein gewisses Prestigedenken mag dabei eine Rolle gespielt haben. Um nun einem architektonischen Wildwuchs vorzubeugen und die visuelle Einheit der Dörfer und Alpsiedlungen wenigstens einigermassen zu wahren, schrieben die plötzlich nötigen Bauvor-schriften unter anderem Satteldächer und einen gewissen Anteil an sichtbarem Holz vor. Diese Fassadenfragmente und auch unechte Gewette werden zur reinen Zierde an Rosten an die Backsteinmauern gehängt. Diese Vorspiegelung ist in der Regel nicht mehr aus Rohholz, sondern bemalt und lackiert. Von der Laube zum Balkon Derweil entwickelte sich die einfache Holzlaube zum geräumigen Balkon, der heute meist auf einer Betonplattform ruhend das dominierende Zierelement des Hauses bildet. Diese Balkonfassaden zeugen von einer kompletten Wandlung des Selbstverständnisses: Eine selbstbewusste, extravertierte Existenz in lichtem Anwesen ist an die Stelle des introvertierten Seins im düsteren Blockbau getreten. Während die traditionellen Lauben nur Geländer aus einfachen Brettern und generell wenig Verzierungen aufweisen, zeigen die ersten Balkone schon Schmuckformen durch Laubsägearbeiten und gedrechselte Holzsäulen. Die heute üblichen Balkone sind tiefer und sind meist durch geschnitzte und lackierte Bretter verblendet, welche eine wesentlich üppigere Ornamentierung präsentieren. Neben den Balkonen entwickelten sich am « Walliserhaus » auch bemalte Erker und Fensterfriese. Diese neuen Elemente sind in allen Alpentälern zu finden, die von einem touristischen Aufschwung profitierten. Man kann mit Fug und Recht von einer Uniformierung des Baustils im Alpenraum sprechen. Eine

Der Balkon entwickelt sich im Lauf der Zeit zu einem reinen Zierelement. Diese luftige Holzkonstruktion vermittelt die Illusion hängender Gärten, wodurch sich das Hausvolumen visuell vergrössert ( Saas Fee, Lomattu ).

Die gesamte Balkonfassade eines neueren Hotels. Die Verzierungen sind diskret, das Holz behandelt und lackiert ( Saas Fee, Lomattu ). Ein schönes Haus aus den Fünfzigerjahren. Das abgewalmte Dach, eher selten im Wallis, nimmt ihm die Strenge des Originals. Der Steinsockel wurde direkt als Wohngeschoss konzipiert, die Fassade weist schmale Balkone auf ( Saas Fee, Lomattu ).

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ähnliche Tendenz ist übrigens auch in der Volksmusik festzustellen. Auch dort hat sich das Geschmacksempfinden im Alpenbogen fast gänzlich zu einer epigo-nalen, flachen Mixtur vereinheitlicht.

Wandel im Hotelbau Auch der Hotelbau passte sich den neuen Möglichkeiten an. Die ursprünglichen kolossalen Bauten der Belle Epoque sind teilweise zu « Appartementskasernen » der Parahotellerie umfunktioniert worden. Das von der Gründerzeit vorgegebene, personalintensive und wuchtige Hotelmodell wich zudem eher etwas kleineren, chaletähnlichen und deshalb heimeligeren Gebäulichkeiten, deren Äusseres von Balkonen dominiert wird. Obwohl die Nutzungsmöglichkeit eines Balkons im Hotel nur beschränkt und die ursprüngliche Attraktivität durch die zunehmende Verbauung der Aussicht geschwunden ist, kann man sich eigentlich ein Hotelzimmer ohne Balkon nicht mehr vorstellen. Die Fassade, die Balkon-verkleidungen und die Balustraden werden mehr oder weniger grossflächig mit gewagt eingefärbter Holztäfelung verkleidet, und nur die Endung « -hof » oder andere einschlägige Namensschöpfungen an den Hotelmauern erinnern an eine post-agrarische Tradition. Als Nostalgie-bauten sind die aus alten Versatzstücken abgerissener Häuser und Stadel verzierten und gezimmerten Gebäude zu bezeichnen, die einen Hang zur Tradition vermitteln sollen. Als relativ neue Bewegung im Gaststättengewerbe muss die aufkeimende « Bed & Breakfast»-Kultur in alten Bauernhäusern gewertet werden. Das genuine, originelle Gepräge wird dort mit einem herzhaften « Bauernfrüh-stück » unterstrichen. a

Bernhard Rudolf Banzhaf, Saas Fee 2

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