Von Natur und Technik in den Lepontinischen Alpen
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Von Natur und Technik in den Lepontinischen Alpen

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

VON PAUL SCHMID, HÜNIBACH/THUN

Mit 8 Bildern ( 60-67 ) Auffahrt zur Saflischhütte Am Sebastiansplatz zu Brig hatten Hans, Walter und ich bei einem Mittagessen unser Wiedersehen gefeiert und waren zu einem Streifzug quer durch die Berge nach Bignasco aufgebrochen. Ein erster, kurzer, aber kritischer Gang brachte uns zum Stockalperpalast. Kritisch war einmal unsere Einstellung, denn der SAC hatte vor kurzem - man schrieb das Jahr 1956 - in einem Aufruf seine Mitglieder zu freiwilligen Beiträgen an die Erneuerungskosten dieses verfallenden Bauwerks eingeladen, kritisch erwies sich aber auch unser Vorrücken in der engen Simplonstrasse. Wenn zur Zeit Kaspar Jodok Stockalpers, dem Erbauer des Schlosses, eine Gasse allen Anforderungen genügte, wenn zwei Saumkolonnen mit vollen Seitenlasten darin kreuzen konnten, so erweist sich dieser Maßstab für den motorisierten Verkehr von heute als zu knapp. Neben der kaum abreissenden Kette heranrollender Automobile drückten wir uns einer hinter dem andern dicht an den Palast, dessen mächtige, durch kleine Fenster nur wenig gegliederte Ostfassade mit ihren vier Stockwerken wie eine wilde Fluh über uns aufragte.

Wie der rauheste und kantigste Bergler ein offenes Herz für seine Freunde in der Not hat, fand sich plötzlich ein halbgeöffnetes Doppeltor, das uns der Bedrängnis der düstern Strassenschlucht entweichen liess. Mit einigen kurzen Schritten standen wir in einem grossen, viereckigen, dem Himmel offenen Raum. Die Wände sind aufgelöst in lauter Rundbogen, die, auf schlanken, fast zierlich wirkenden Säulen abgestützt, den luftigen Abschluss kreuzgewölbter Lauben bilden. An der Westseite, vom Baugerüst und den Holzverschalungen verdeckt, stehen zwei dieser Bogengänge übereinander, auf der Süd- und der Ostseite sind es sogar drei. Hier sind die Gerüste entfernt worden, und dem Beschauer steht es frei, sich die stark verwitterten Tuffsteinbalustraden durch neue ersetzt zu denken. In der Mitte der nördlichen Wand, dem eigentlichen Schloss oder Wohntrakt als Treppenhaus vorgebaut, steht der höchste von drei aus wuchtigen Quadern errichteten Türmen. Die zwei andern verstärken die beiden südlichen Ecken des Arkadenhofes. Man fragt sich, ob die aussergewöhnliche Stellung der Türme zueinander, die mit ihren vergoldeten Zwiebelkuppeln an Altäre mit ruhig brennenden Flammen erinnern, irgendeine geheime Idee des Erbauers ausdrücken oder ob nur eine Art Festungsdreieck geplant war.

So oder so ist das ganze Bauwerk ein grossartiges Zeugnis für den eigenwilligen und selbstherrlichen Geist Kaspar Jodok Stockalpers, von seinen Zeitgenossen « der Grosse » genannt. Die Demokratie aber erträgt keine überragenden Persönlichkeiten, und die Walliser, ungeachtet der grossen wirtschaftlichen Vorteile, die sie aus den Unternehmungen Stockalpers zogen, trieben den siebzigjährigen Greis für sechs Jahre ins Exil nach Domodossola.

Heute scheint es wenig wahrscheinlich, dass ein Einzelner dem Lande Unheil bringen könnte; denkbar bleibt aber immer eine Gefährdung durch irgendwelche, aus dem Volksganzen sich sondernde Gruppen. So ist die Stockalperburg - heute als Eigentum der Stadtgemeinde Brig öffentlicher Besitz - auch ein Denk- und Mahnmal an den Unabhängigkeitssinn der Walliser, nie zu vergessen, dass es höhere Werte gebe als wirtschaftliche Vorteile.

Die still und hoch über dem Lärm der Strasse leuchtenden Kuppeln versanken hinter uns, als wir durch die in der Stille des Sonntagnachmittages ruhenden Weiler Lingwurm und Brei gegen Ried wanderten. Dem Vernehmen nach musste sich in der Nähe eine neue Schwebebahn befinden, die wir, zum Teil aus Neugier, zum Teil unserer nicht gerade leichten Rucksäcke wegen, in unsere Aufstiegsroute einbeziehen wollten.

Wir wussten nur, dass die Talstation sich oberhalb der Simplonstrasse befinde. Diese belebte Verkehrsader war nicht zu verfehlen, und auch ein Weg fand sich, der nach oben führte, freilich nicht zu einem Bahngebäude, aber in einen kühlen Bergwald. Das war ja ein prächtiger Hütten weg, und eingelaufen waren wir jetzt auch, warum sollten wir ihn nicht verfolgen? Hatten wir doch schon ganz andere Verhältnisse angetroffen: in glühender Sonne, durch strömenden Regen, bei Nacht und Nebel waren wir zu Hütten aufgestiegen. Nur ein Gedanke beunruhigte mich: Würde nicht zeitlebens die Erinnerung an diesen Tag getrübt werden durch das peinliche Gefühl, versagt zu haben, wenn es uns nicht gelänge, die gesuchte Bergbahn zu finden?

Aus diesem Zwiespalt riss mich Walters Ruf: « Da ist sie! » Sein ausgestreckter Arm zeigte in die dichten Fichtenwipfel, zwischen denen ein kurzes Stück schwarzen Stahlkabels fettig herüberglänzte.Von unserem Zickzackweg querten wir in die schmale Schneise hinein, die in den Wald gehauen wurde, um der Bahn Raum zu verschaffen, und stiegen nach kurzer Rast zur Talstation ab.

Wenn wir auch nicht gerade das Gedränge erwartet hatten, das vor gewissen « berühmten » Sesselliften herrscht, in dem die Alten und Gebrechlichen - für welche diese Transportanstalten ja gebaut werden - Mühe hätten, sich zu behaupten, staunten wir doch, die Station menschen-verlassen vorzufinden. Hier hatten wir eine jener Bahnen vor uns, die nicht im Dienste des Geldes, sondern im Dienst des Menschen stehen, um seine hochgelegenen Wohnstätten mit dem Talgrund zu verbinden.

Vorerst legten wir die Lage dieses lang gesuchten Ortes auf der Karte fest. Es zeigte sich, dass die Rosswaldbahn von einer kleinen Mulde an der Simplonstrasse, da, wo diese von ihrer ersten grossen, östlich ausholenden Schleife zurückkehrend den Simplontunnel zum zweitenmal überschneidet, direkt über dem Tunnel oder nur wenig daneben nach Süden verläuft.

Ein Einheimischer tauchte auf, der auf Rosswaldalp in den Heuet dingen wollte. Dieser holte irgendwo her einen Mann, der, Vorstand, Kassier und Maschinist in einer Person, uns ganz selbstverständlich eine Extrafahrt gewährte.

Zu unserer Genugtuung gab es hier nicht jenes ununterbrochen umlaufende Seil, an das die losen zweisitzigen Dividendenschaufeln im Bruchteil einer Sekunde mechanisch angeklemmt werden, ohne dass eine Kontrolle möglich wäre. Eine solche Einrichtung muss als technische Frechheit bezeichnet werden, und man hört denn auch immer wieder von Unfällen, die im Abgleiten der Sessel ihre Ursache haben. Aber mit dem Fatalismus des Orientalen besteigt der Abendländer diese Vehikel und hofft, dass gerade heute und gerade ihm nichts passieren werde.

Eng zusammengepfercht in einer vierplätzigen Kabine wurden wir in zwölf Minuten über sieben-hundertfünfzig Meter in die Höhe geschafft. Mit einem Gefühl der Erleichterung nahmen wir vor der Bergstation, so paradox es klingt, unsere schweren Rucksäcke auf. Der Schönheitsfehler unseres Tourenprogramms - die Sünde wider den Geist des Bergsteigens - lag hinter uns. Von jetzt an waren wir an keinen Fahrplan mehr gebunden und für die Fortbewegung ausschliesslich auf die eigene Kraft angewiesen.

Die ersten Schritte brachten uns vollends auf den ebenen Wiesenboden von Glimenschür, der, auf drei Seiten steil zur Tiefe fallend, einen weiten Rundblick bietet. Im Süden, jenseits des Gantertales, aber überraschend nah, stand eine Reihe prächtiger Berggipfel im Licht der Nachmittagssonne. Nur durch den Einschnitt des Simplonpasses von den berühmten Viertausendern der Penninischen Alpen getrennt, sind Wasenhorn, Furggenbaumhorn, Bortelhorn und Hillenhorn den wenigsten Besuchern des Wallis auch nur dem Namen nach bekannt. Mit Ausnahme des Furggenbaumes erreichen diese Gipfel mehr als dreitausend Meter und wären berühmte Berge, wenn sie nicht in der Hauptkette, sondern in einem Randgebiet der Alpen stünden.

Unsere kleine Hochebene setzt sich östlich im breiten Rücken von Rosswald fort, über den ein Skilift herunterhängt, der seinen Sommerschlaf träumte. Ihn zur Richtschnur unseres Aufstiegs nehmend, erreichten wir in einer halben Stunde die Saflischhütte der Sektion Monte Rosa des SAC.

Am grossen Hüttentisch sassen festverankert vier Männer beim Jass, umgeben von einem Ring von Zuschauern. Einige Kinder fuhren mit Geschrei ein und aus, von den Müttern mit wenig Erfolg zur Ruhe gemahnt. Wir setzten uns vor die Hütte zum « Akklimatisieren ». Unsere stillen Betrachtungen über die Besonderheiten und die Wandlungen der SAC-Hütten wurden unterbrochen durch einen der Zuschauer, der sich, zu uns heraustretend, als Dienstkamerad von Hans entpuppte. Dieser verbrachte hier einige Ferientage mit seiner Familie und seinem Schwiegervater, der nebenbei als Hüttenwart amtete. Damit hatten wir einen Mann gefunden, der uns Auskunft über alles Neue und Merkwürdige gab, das zu sehen war, wie zum Beispiel über jenes gewaltige hochgiebelige Steildach, welches sich etwa eine Minute unterhalb der Hütte aus dem schütteren Lärchenbestand erhebt. Dieser Bau gehöre einem Architekten, und das Besondere daran sei die talseitige Giebelwand, die in die waagrechte Lage heruntergeklappt werden könne, wobei sie sich in einen dreieckigen Balkon verwandle.

Ein kurzer Spaziergang bestätigte und verdeutlichte uns das Gesagte; wir vermochten jedoch die Vorteile und die Schönheit dieser Konstruktion nicht zu fassen. Der auffrischende Westwind verfing sich im offenen Innern des Hauses und warf uns die abgerissenen Bruchstücke eines unzweifelhaft in den lieblichen dialektalen Lauten der Mustermessestadt geführten Gespräches an die Ohren, so dass wir uns diskret zurückzogen.

Graublauer Montag Ein kräftiges Geprassel auf dem blechernen Hüttendach hatte uns einige Male aus dem Schlaf geweckt, enthob uns aber einer frühen Tagwache. Doch liessen wir uns durch den feuchten Morgennebel nicht abhalten, den Zugang zum Bortelhorn zu erkunden. Ohne Zweifel ist Berisal an der Simplonstrasse der günstigste Ausgangspunkt für diesen Gipfel. Von der Saflischhütte ausgehend, braucht es einige Ortskenntnis, in dem stark zerschnittenen Gelände mit möglichst wenig Höhenverlust an den Berg heranzukommen. Einige Übersicht in dieses Gebiet bekamen wir auf dem Sauerrücken, einem breiten Höhenzug zwischen den beiden Zuflüssen des Ganterbachs, dem Schiessbach und dem Steinenbach.

Das langsam aufhellende Wetter sah uns vom Sauerrücken aus östlich über den Grat aufsteigen, dessen erste Erhebung in der Landeskarte mit Hohlicht, 2733 Meter, bezeichnet ist und der im Rothorn, 2813 Meter, nördlich des Steinenjochs seine grösste Höhe erreicht.

Uns schenkte dieser Grat eine leichte Höhenwanderung mit unerwarteten Ausblicken durch das wilde Treiben des Nebels auf Bortelhorn und Hillenhorn sowie den die beiden Gipfel verbindenden Grat, der uns vom Hüttenwart als sehr schöne Tour beschrieben worden war. Auf dem gleichen Weg kehrten wir zum Hohlicht und von da über den Saflischpass in die Hütte zurück.

Der Jassklub, sieben Mitglieder einer SAC-Sektion aus dem Aargau, die eine ganze Woche hier oben verbrachten, war zeitig zur Ruhe gegangen, um für die morgige Tour auf das Bettlihorn in Form zu sein. Wir sassen mit dem Grosspapa Hüttenwart und seinen Kindern bei einem Gläschen Fendant noch eine Weile in der stillen Stube und hörten mit Verwunderung ein Stück seiner Lebensgeschichte. In den endlosen Ebenen Ungarns geboren und aufgewachsen, führten ihn seine Wanderjahre durch Österreich und Deutschland in den Thurgau. Die Ungerechtigkeit der Welt hatte in ihm eine Weltanschauung entwickelt, die er selber als kommunistisch bezeichnet. In St. Gallen kam es zu einer unvergesslichen Begegnung mit dem ungarischen Konsul, der ihm erklärte, dass er sehr wohl werde in der Schweiz bleiben können, wenn er sich jeder politischen Tätigkeit enthalte. Dagegen dürfe er auch als Ausländer in Sportklubs und andern Vereinen mitmachen. So wurde aus dem unruhigen Wandergesellen in der Schweiz - wo es um die Gerechtigkeit vielleicht ein klein wenig besser bestellt ist als in östlicheren Ländern - ein ehrsamer Schneidermeister, der die weiten Horizonte der Puszta als leidenschaftlicher Gratläufer auch in den Bergen um Brig suchte und fand.

Über den « Rigi des Goms » Wir hatten eine halbe Stunde vor den Aargauern Tagwache gemacht und standen um halb 7 Uhr in ziehenden Morgennebeln auf der welligen Hochfläche des Saflischpasses. Den schwach begrasten Hang zur Linken ansteigend, fanden wir bald den uns vom Hüttenwart verratenen, undeutlichen Pfad, auf dem man, ohne auf den Tanzboden absteigen zu müssen, direkt in die Augstkumme hinübergelangen kann. Was uns, hart unter dem felsigen Vorbau des Bettlihorns durch, in diese karartig eingetiefte Mulde führte, waren Spuren in einem Schutt von solcher Feinheit, wie wir ihn in dieser Ausdehnung noch nie erlebt hatten. Bei jedem Schritt sanken wir bis über die Knöchel ein, wie wenn die ganze Halde aus Sand bestünde.

In der Augstkumme fanden wir wieder festen Boden mit einigem Graswuchs und einem Weglein bis in den obersten, mit Firnschnee gefüllten Felskessel, wo wir auf einer Geröllinsel haltmachten. Die tiefste Stelle des Schneefeldes war durch eine Verwerfung oder Spalte aufgerissen und mit Wasser gefüllt, das in einem hellen Grünblau erglänzte. Dieser farbige Mittelpunkt einer nur aus Weiss, Grau und Braun bestehenden Welt erhöhte noch den mystischen Zauber der grossartig wilden, weltverlorenen Einöde.

Unter dem Namen « Rigi des Goms » hatten wir uns unwillkürlich einen bis auf den Gipfel begrasten Schaf berg vorgestellt; jetzt schauen wir hier das Bettlihorn als steile, geröllbedeckte Felsflanke unter einigen schrägen Spitzen, die äusserste rechts mit einem Holzkreuz besteckt. Von dieser, dem Nordgipfel, 2951 Meter, fällt der Grat etwa 150 Meter ostwärts ab und läuft dann weiter über einige kleinere Erhebungen in die Furggenalp aus.

Der normale Aufstieg lockt uns seines vielen Gerölls wegen wenig. Nach kurzer Beratung durchsteigen wir den rundum hangenden Schuttgürtel an seiner schmälsten Stelle, um auf den Ostgrat, und über diesen an den Gipfelaufbau heranzukommen. Im Sattel lassen wir die Säcke zurück, und in leichter Kletterei gewinnen wir rasch an Höhe. Ein kleiner Grataufschwung im obern Drittel lässt sich in etwas brüchigem Gestein nördlich umgehen, und wenige Minuten später stehen wir unter dem grossen Holzkreuz auf dem Nordgipfel des Bettlihorns. Es ist 9 Uhr.

Die Morgennebel haben sich zu walzenförmigen Gebilden geballt, die zwischen 2000 und 2500 Meter Höhe an den Bergflanken kleben. Dicht vor unseren Füssen öffnet sich als gewaltiger Abgrund die tiefe Furche des Goms, und dahinter stehen, fern und unnahbar, in langer Reihe die Gipfel der Berner Alpen.

Weniger schwindelerregend ist die Sicht auf die Walliser Alpen, den Vordergrund füllen der Südgipfel des Bettlihorns und die Gruppe des grossen und kleinen Huwiz aus.

Im zerklüfteten Südgrat schmiegen wir uns so bequem wie möglich in kleine Rinnen und lassen den kalten Wind über unseren Köpfen dahinbrausen. Unter uns mühen sich die Aargauer über die Felsflanke herauf, was je nach Körpergewicht und Übung mehr oder weniger Anstrengung erfordert. Aber die alte Faustregel: Je grösser die Leibesfülle, um so besser der Humor, wird einmal mehr bestätigt, als nach einer Stunde der letzte der sechs - einer ist in der Hütte geblieben - seine hundert Kilogramm in bester Verfassung unter dem Gipfelkreuz lagert.

Wir benützen die Normalroute im Abstieg bis unterhalb der Felsen und queren horizontal in feinem Schutt zu unseren Säcken im Sattel des Ostgrates hinüber, der uns weiterführen soll. Bald schwingt sich dieser zu einem Tschuggen ( Punkt 2837 Meter ) auf, der uns reichlich hoch vorkommt und uns zu einem als Abkürzung gedachten Ausweichen nach links verleitet. So lernen wir nach dem feinen Geröll auch noch das grobe kennen und, statt auf freier Höhe einen schönen Rückblick auf unsern Berg zu geniessen, kämpfen wir uns unversehens durch rohes Trümmergestein einer unübersichtlichen Nordflanke. Ein ausgewachsener Fuchs, der dicht vor uns unter einer Platte hochgeht, zeigt sich klüger als wir, indem er behend in die Höhe streicht und mit wehendem Schweif über dem gut gangbaren Gratrücken verschwindet.

Fast unerwartet gelangten wir endlich in eine grüne Mulde, den Anfang der Furggenalp, die sich als breiter Rücken zwischen Goms und Saflischtal bis zum Breithorn hinzieht, um hier in einem steilen, von zwei gewaltigen Gräben durchrissenen Abbruch zu enden. Auf der Furggenalp trat erstmals der Monte Leone in unser Blickfeld, der bis jetzt immer durch irgendwelche Berge verdeckt geblieben war. Über den Grat, den wir gestern begangen hatten, ragte sein eisiger First empor und gab dem Talschluss von Saflisch einen Zug von Grosse. An einem blumenreichen Hang, wo sogar das Edelweiss noch wild vorkommt, stiegen wir in den Talgrund ab. Neben dem rauschenden Saflischbach warfen wir uns zu einer verspäteten Mittagsrast ins Gras und wanderten dann auf gutem Wege nach Binn.

Als ich im Hotel unsere Absicht bekanntgab, morgen über das Ofenhorn ins Italienische zu gehen, bemerkte der Wirt, hinüber könnten wir schon, aber nicht zurück. Da ich diese Andeutung nicht begriff, fragte er, ob wir den Anschlag im Dorf nicht gelesen hätten. Der ganze Grenzabschnitt von Madonna di Ponte am Langensee bis hinauf zum San-Giacomo-Pass und von da hinüber zum Monte Leone sei für den Personenverkehr aus Italien nach der Schweiz gesperrt, weil drüben die Maul- und Klauenseuche ausgebrochen sei. Ich fragte, wie dieses Verbot im Centovalli gehandhabt werde, und er meinte, dort werde wahrscheinlich desinfiziert.

Auf einem Rundgang durch das Dorf, um einige Einkäufe zu machen, konnten wir die Verfügung des eidgenössischen Veterinäramtes am Anschlagbrett im Wortlaut lesen. Sie vermochte uns jedoch nicht von unserem Vorhaben abzubringen, so wenig als der wohlgemeinte Vorschlag der Saaltochter, morgen einen Ruhetag zu halten, weil es zur Feier des 1. August ein Festmenu geben werde. Das Wetter sah einmal nicht nach einem Ruhetag aus, und ich fragte den Wirt, ob wir wohl um 3.45 Uhr ein Morgenessen bekommen könnten. Er zeigte sich über diese Zumutung nicht im geringsten erschüttert und versprach, dass alles bereitstehen werde. In einer Ecke des Speisesaales würden wir einen zweiflammigen Butagaskocher finden, um Milch und Kaffee selber zu wärmen, so dass wir essen könnten, wann es uns beliebte.

Die Alpen - 1961 - Les Alpes113 Die Überschreitung des Ofenhorns Die getroffene Lösung für das Zubereiten unseres Frühstücks bewährte sich tadellos, und wenige Minuten nach 4 Uhr marschierten wir in aller Stille ab. Im Feld, dem hintersten Weiler des Tales, zogen die Männer mit Sensen und Gabeln auf den Schultern im eben anbrechenden Morgen aus zu ihrem Tagwerk in den duftenden Heuwiesen. In den Häusern begannen die Frauen ihr munteres Walten, wie jene, die, als wir auf leisen Vibramsohlen um die Ecke bogen, mit flottem Schwung ein Gefäss aus dem Fenster leerte, dass die Brühe klatschend in die Nesseln schlug.

Mächtig erheitert durch das ländlich sittliche Idyll überwanden wir munter die erste Steigung des Tages, die hier der Talweg dem Wanderer entgegenstellt. Dieses Beispiel einfachen Lebens war zugleich der letzte Anblick menschlichen Tuns diesseits der Grenze; bald darauf umfing uns die Einsamkeit der hochstämmigen Lärchenwälder und gestaffelten Alpweiden des hinteren Binntals.

Nach einem Marsch von dreieinhalb Stunden schwenkten wir auf dem Ochsenfeld, wo der letzte Aufstieg zum Albrun beginnt, vom Passweg links ab und drangen pfadlos in dem kleinen Nebental des Eggerofens empor. Der spärliche Graswuchs wurde immer dürftiger, und schmale Schneezungen überdeckten häufig das bleiche Geröll. Während einer Stunde hüllte uns eine dichte Masse trockenen Nebels ein, die das ganze Tälchen ausfüllte und die Orientierung erschwerte. In dem düstern Grau unentwegt weitersteigend, begann sich rechts in der Höhe der Umriss eines Grates immer deutlicher abzuzeichnen, und, ohne recht zu wissen, wie es zugegangen, sahen wir plötzlich unser ödes Felsental von einem tiefblauen Himmel überspannt. Dieser schnelle Übergang aus einer kalten, in trübe Dämmerung versunken scheinenden Welt in das helle Licht und in die wärmenden Strahlen der Sonne ist ein Erlebnis, das, so oft es einem beschieden wird, immer wieder neu begeistert wie beim erstenmal.

Ein grosser Felsbuckel empfahl sich als Rastplatz, um abwechslungsweise durch Walters Feldstecher dem Treiben eines Gemsrudels zuzusehen, das sich hoch oben am Westgrat des Ofenhorns ein kleines Schneefeld als Tummelplatz ausgesucht hatte. Dann verliessen wir das Tal des Eggerofens an dem von der Natur dafür geschaffenen Ort, der Eggerscharte. Dies ist eine ausgeprägte Lücke im Grenzkamm, der vom Ofenhorn zum Albrunpass hinabzieht. Diesseits führt ein Schnee- und Geröllhang hinauf, jenseits läuft eine Firnzunge mit der Andeutung eines Miniaturbergschrundes auf den kleinen Ghiacciaio d' Arbola aus. Was hier italienisch als Gletscher bezeichnet ist, scheint zwar nur ein vom Ofenhorn nach Süden abfallender Firnhang von geringer Tiefe zu sein. Wie eine Inselgruppe durchsetzen die höchsten Buckel und Bänke des felsigen Untergrundes seine blendendweisse Oberfläche.

Der aufgeweichte Firn hatte mich eben an die Bemerkung im Walliserführer erinnert: « On peut faire de belles glissades à la descente », als wir hoch oben einen Mann entdeckten, der uns die Wahrheit dieser Aussage praktisch vor Augen führte. Wir hielten an und warteten dem Unbekannten, der, wenn er seine Richtung beibehielt, zu uns stossen musste. In kurzer Zeit fuhr er stehend über zweihundert Meter ab und begrüsste uns italienisch. Ich antwortete Schweizerdeutsch, worauf er, sich des gleichen Idioms bedienend, nach zwei Touristen fragte, die nicht einmal Stöcke bei sich trügen. Wir mussten gestehen, seit Feld keinen Menschen mehr gesehen zu haben. Wenig mitteilsam, wie Alleingänger gewöhnlich sind, setzte er sich nach dieser Auskunft wieder in Bewegung. Auf die Gegenfrage von Hans, woher er komme, erklärte er, schon im Weiterrutschen: « Von Binn. » Vermutlich war er über das Hohsandjoch aufgestiegen und kehrte nun über die Eggerscharte zurück, wie wir bald darauf beobachten konnten.

Prächtig öffnet sich hier die Aussicht südwestwärts auf den breiten Monte Cistella und den wald-umsäunten See von Codelago in der Tiefe, der, obwohl gestaut, eine schöne blaugrüne Farbe behalten hat. Nach Osten stösst der Blick an die Felsmauer, die den Arbolafirn auf seiner linken Seite begrenzt und mit 3045 Meter kotiert ist. Merkwürdig an diesem kleinen Dreitausender ist nur seine Bezeichnung auf der Landeskarte: « Cima del Coust », eine Verballhornung des Namens des englischen Bergsteigers Arthur Cust, einer der Erschliesser dieses schönen Gebietes.

Statt in der Fallirne des Hanges anzusteigen, über den der Unbekannte abgefahren war, wählten wir die etwas längere, aber weniger steile Route über das Ofenjoch, den kleinen Sattel zwischen Ofenhorn und Cima Cust. Hier steht man plötzlich am Rand einer steil abfallenden Flanke und erblickt in der Tiefe den hinteren Teil eines Sees von klarem Blau in herrlicher Umrahmung, den Lago Vannino der Italiener. Wie die Valle Leventina im Osten, bewahrt seine alte walserische Bezeichnung Lebendünsee hier im Westen in der Einsamkeit des Gebirges den Namen des sagenhaften ligurischen Volksstammes der Lepontier, die die Täler des Tessin und der Tosa besiedelten und aus deren alter Hauptstadt Oscela das heutige Domodossola geworden ist.

Unberührt vom Werden und Vergehen der Völker stehen die vielgestaltigen Gipfel in der Runde, und vom See schwingt sich ein zackiger Grat hinauf zum Gloggstafelberg und hinüber zum Monte Giove.Von hier sieht man nur das Haupt dieses Berges, der auf den Blättern der alten Kartographen von Konrad Durst bis Johannes Stumpf als « Jubet mons » erscheint, ein Zeichen, dass er den alten Italienfahrern, die angeblich kein Auge für die Berge hatten, doch aufgefallen ist. Denn heute wie einst beherrscht er durch seine Lage das Antigoriotal, während so viele andere Herrscher, weltliche und geistliche, spurlos verschollen sind.

Wir wenden uns rückwärts und aufwärts. Der Schnee ist weich geworden; wir ziehen vor, auf dem breiten Felsrücken nördlich gegen jene bizarren, aus waagrechten Platten aufgeschichteten Türme anzusteigen, die den kurzen Ostgrat des Ofenhorns krönen. Hans fühlt sich nicht ganz wohl, und wir legen uns zwanzig Minuten vor Mittag an windgeschützter Stelle auf angenehm erwärmten Felsstufen zu einer ausgiebigen Rast nieder.

Für einen Menschen, dessen erster Beweggrund zum Bergsteigen das Verlangen ist, zu sehen, was auf der « andern » Seite sei, ist das Ofenhorn ein idealer Berg. Es erfüllt diesen Wunsch in fortwährender Steigerung viermal: in der Eggerscharte, am Ofenjoch, hier bei unserem Rastplatz und endlich auf dem Gipfel. Denn ein Blick hinter der Felsecke hervor, um die der Wind pfeift, zeigt uns ein neues Bild: Der breite Hohsandgletscher zieht sich, fast spaltenlos, weit gegen grüne Hänge hinaus, die nach unten in eine Talenge zusammenlaufen. Aber der Fall der Linien ist gestört, in halber Höhe des Einschnittes verbindet eine graue Mauer die begrünten Flanken, davor breitet sich ein schmutzigtrüber See aus, dessen näheres Ende von der Wölbung des Gletschers verdeckt ist. Über der Mauerkrone, aber weiter zurück, erkennen wir als kleines Würfelchen die Gemslandhütte des italienischen Alpenclubs, unser Tagesziel.

Die zwei Wanderer ohne Stöcke, von denen uns der Alleingeher gesprochen hat, sind inzwischen im Schritt der ungestümen Jugend auf unserer Spur im Ofenjoch angekommen. Nach kurzer Beratung, von der wir der Entfernung wegen nicht einmal hören, ob sie im germanischen oder romanischen Tonfall gehalten sei, steigen die beiden im Schnee am Fuss unserer Felsen vorbei dem Gipfel entgegen.

Als wir nach zwei Stunden aufbrechen und unter den überhängenden Türmen in den Gipfelhang hinübersteigen, springen sie schon leichtfüssig in ihrer Aufstiegsspur hinab.

Das Ofenhorn, die Punta d' Arbola der Italiener, gehört uns allein, als wir eine Viertelstunde vor 3 Uhr auf dem 3235 Meter hohen Gipfel stehen.

Wie Wellen eines sturmgepeitschten Meeres breiten sich rund umher die unabsehbaren Reihen von Spitzen und Kuppen, vorwiegend schneeig im Westen und Norden, grösstenteils felsig im Osten und Süden. Die breiten Talfurchen, wie das Goms und das Antigoriotal, die auf andern Bergen Lücken in die Rundsicht bringen oder einen Teil davon zu sehr in die Ferne rücken, wirken sich hier nicht aus. Die Mannigfaltigkeit der Formen, die Entfernung der Gebirge im Verhältnis zu ihrer Grosse, die Wechselwirkung von Schnee und Fels, alles dies erzeugt herrliche Bilder, in welche Richtung wir auch blicken mögen. Die Atmosphäre ist nicht ganz klar; Wolken, die über den Penninischen Alpen und über dem Berner Oberland hängen, bringen eine zauberhafte Stimmung hervor.

Kein Flieger stört die Stille; die bescheidenen Holzbauten an den Ufern der wie ein Silberfaden glänzenden Binna verschwinden im Rauch der Tiefe. Lässt man die Staumauer von Hohsand beiseite, so sieht die Erde hier nicht wesentlich anders aus als vor 50, 100, 1000 oder 5000 Jahren. Für eine kurze Spanne Zeit können wir vergessen, in welche Zustände die lawinenartig anschwellende Torheit der Menschen die Welt gestürzt hat und noch stürzt...

Von der schneeigen Gipfelkuppe steigen wir über eine kurze Steilstufe, die, im Schatten liegend, sich schon zu verfestigen beginnt, unschwer auf die Firnhänge des Hohsandgletschers ab. Scheinbar spaltenlos, entlässt er uns trotz seiner Länge ohne jeden Zwischenfall. Um auf das linke Ufer zu gelangen, müssen wir die grosse, vom Hohsandhorn herunterkommende Moräne übersteigen. Im Gegensatz zu andern Moränen, die meistens von härtester Unnachgiebigkeit sind, federt diese hier wie ein Moorboden, so dass wir annehmen, ihr Kern bestehe aus Schlamm und Sand. Damit wäre auch der Name Hohsand erklärt, den sich die Italiener mit « Alto Sabbione » mundgerecht gemacht haben.

Ein breiter Weg, über den vermutlich Sand und Kies zum Bau der Staumauer herangeholt wurden, führt dem See entlang, in den der kalbende Gletscher seine Eisklötze wirft, und lässt ganz leise die Hoffnung aufkommen, er ziehe sich weiter auf gleicher Höhe zur Hütte hinüber. Ein einziger Blick von der Krone der Staumauer macht diesen Traum zunichte. Wir müssen an die achtzig Meter hinab und in der grasigen Rinne, die von alters her aus dem Graben des Hohsandbaches den westlichen Zugang ins Gemsland bildet, wieder hundert Meter hinauf.

Der idyllische Name Gemsland bezeichnet das Gebiet um jene sandige Ebene, die, von den Wassern des kleinen Gemslandgletschers angeschwemmt, sich über einen Kilometer weit unter den Südhängen des Bettelmatthorns hinzieht. Dass die Gemsen hier günstigere Lebensbedingungen angetroffen haben als anderswo, ist wenig wahrscheinlich; ihre einst kreuz und quer in den Sand geprägten Wechsel mögen einen grösseren Tierbestand vorgetäuscht haben als wirklich vorhanden war.

Heute ist wie ein Ungewitter die Bauwut des technisch wirtschaftenden Menschen darüber hinweggegangen und hat ihre Spuren hinterlassen. Am Anfang aller Technik steht die ursprüngliche Handfertigkeit des Urmenschen; dass diese dem modernen homo sapiens nicht verlorengegangen sei, zeigt er durch die fabelhafte Geschicklichkeit im Wegwerfen aller Dinge, die für ihn keinen Wert mehr besitzen: alte Zeitungen und Zementsäcke, Holzkisten und Blechbüchsen, Drahtstücke und Nägel, zerrissene Hemdenstöcke und durchlöcherte Schuhsohlen liegen weit zerstreut als herrenloses Gut auf herrenlosem Land herum. Freilich wird die Natur diese Dinge auflösen und den natürlichen Zustand wieder herstellen, aber die Natur hat Zeit und der Mensch hat keine.

Wie schön wäre es, wenn der Mensch die Natur nicht als Abfallkübel missbrauchen würde und nicht seinen ganzen Unrat, den natürlich und den technisch erzeugten, in die Nesseln schütten, oder schlimmer, in die Waldgräben werfen und in die Flüsse leiten würde. Denn der Mensch hat nicht nur die Intelligenz dem Tier voraus, sondern auch die Ehrfurcht, als Mass und Richtschnur, wie er jene anwenden soll, und ein Mensch ohne Ehrfurcht ist noch weit von seiner Vollendung.

Dem südöstlichen Rand der Gemslandebene ( piano dei camosci ) entlang drückten auch wir drei Spuren in den Sand, als Zeichen, dass wir da gegangen seien, bis sie von andern Fährten überdeckt oder vom Regen verwischt werden - ein Sinnbild unseres irdischen Lebens.

Vierzehn Stunden nach unserem Aufbruch von Binn überschritten wir die Schwelle der 2480 Meter hoch gelegenen Gemslandhütte, das Rifugio Città di Busto der Sektion Busto Arsizio des CAI. Die Besatzung bestand aus einem grünen Jüngling, einem blonden Mädchen für alles und einer erfahrenen Köchin. Nach einer ersten Erfrischung wünschten wir die Schlafgelegenheit zu sehen. Es wurde uns eine zehnplätzige Kammer zugewiesen, wo wir ganz ungestört blieben. Die Lager, je zwei übereinander, bestehen aus einem Drahtnetz als Träger der Seegrasmatratze, einem Kopfkissen, einer Wolldecke und zwei Leintüchern. Diese letzteren fanden wir überflüssig, da ausser der Beleuchtung auch die Heizung elektrisch ist.

Von den etwa zwanzig Hüttengästen blieb nach dem Essen nur eine Gruppe von sechs Personen, wovon zwei dem schönen Geschlecht angehörten, mit uns im Essraum zurück. Nach Landesbrauch ihre lebhafte Unterhaltung mehr und mehr mit geträllerten Weisen unterbrechend, gingen sie schliesslich ganz zum Singen über.

Schon bei unserer Ankunft hatten sich schwarze Gewitterwolken über das Ofenhorn herangeschoben, und jetzt peitschte der Wind vom Hohsandgletscher her den Überschuss an schweizerischem Bundesfeierregen in schweren Schauern gegen die Fensterläden. Dazu rollte der Donner, dass die vollschlanke Italienerin ihrem gepressten Herzen von Zeit zu Zeit mit einem geflüsterten: « Che tormenta! » ( « Welch ein Sturm! » ) Luft machen musste. Wir aber streckten die Beine entspannt unter die Bänke und lauschten - auf das Wohl des Vaterlandes einen Liter Barbera trinkend - mit Behagen bald dem rauhen Gruss der Heimat, bald den rhythmisch beschwingten Melodien des Südens.

Im Hochtal der gefesselten Wasser Fritz Müller-Partenkirchen schreibt in seinem Büchlein « Cannerò », der bekannte Kunstwart-Avenarius habe ihm erklärt, in der milden Luft Italiens müssten Feder, Stift und Meissel der nordischen Künstler unweigerlich erweichen. Bei den Bergsteigern ist die Wirkung die, dass sie am Morgen nicht aus dem Seegras steigen mögen, wie wir an uns erfahren mussten. Ein klarblauer, mit Silberwolken durchsetzter Himmel spannte sich über das lepontinische Bergland, als wir die Gemslandhütte um - 11 Uhr verliessen.

Das Ofenhorn blieb verhüllt, dafür zeigte sich der Basòdino als eindrucksvollste Berggestalt, dessen Westflanke von hier aus sehr steil aussieht. Statt des alten Weges über die Bettelmatt benützen wir den schmalen Pfad am Südhang des Stockes, Punkt 2531 Meter, um ins Griestal abzusteigen. Vor uns in der Tiefe liegt zwischen leuchtend grünen Hängen der Stausee von Moraschg ( Morasco ). Über dem hohen Berggras schaukeln die roten Ampeln des Türkenbunds, und die kelch-besteckten Halme der Alpenlilie federn im Sommerwind.

Die lange Staumauer überschreitend, steigen wir auf dem Werksträsschen in das alte Sommerdörfchen Kehrbächi ( Riale ) ab. Am Turm der hübsch auf einem kleinen Hügel stehenden Kirche hängen die schweren Drähte einer Kraftleitung, wie wenn daraus ein Transformatorenhaus gemacht worden wäre. Das Dorf liegt ausgestorben da wie ein Dornröschenschloss, nur dass an Stelle des Rosendickichts ein Feld von Blackenstauden um die Mauern wuchert. Hat der Kraft- werkbau die walserische Hirtenkultur vollständig zum Erliegen gebracht? Nicht einmal ein Brunnen plätschert, und ohne Halt ziehen wir vorbei.

Vorn an der Talstrasse steht ein Albergo « Blindenhorn », wo wir uns in die Sonne setzen und zu unserem trockenen Rucksackproviant den roten italienischen Wein ganz ausgezeichnet finden.

Der Verkehr auf der Strasse ist so gering, dass es keine Überwindung braucht, ihrem schwachen Gefälle nach Süden zu folgen. Wir bringen Rucksäcke und Pickel einige Treppenstufen hoch im Hausgang in Sicherheit vor dem Hausschwein, das völlig frei, aber mit dem Zugehörigkeitsinstinkt einer Katze seine Schnüffelrunden um das Haus zieht, wenn es nicht gerade, im borstigen Sumpfgras liegend, alle Viere von sich streckt und den Bauch sonnt.

Die Feuchtigkeit des Nachtregens hält den Staub der Strasse noch gebunden, aber das Bett der Tosa liegt fahl und trocken im Wiesengrund. Ein kleines Wässerlein schleicht schwach und träge von Tümpel zu Tümpel, und wir fragen uns, wie darin noch Fische gedeihen können. Oder sind die aufgestellten Fischereiverbottafeln nur als Denkmäler an frühere, schönere Zeiten stehen geblieben?

In einer kurzen halben Stunde erreichen wir den Ort, der vor dem Eisenbahnzeitalter ein Ziel vieler Alpenreisen war: den Tosafall, genauer, seinen obern Rand. Denn unvermittelt bricht der ebene Talboden in einer mächtigen Felsschwelle von 143 Metern Höhe sehr steil zur Tiefe ab. Es muss ein grossartiges Schauspiel gewesen sein, die Frühlingsfiuten der Tosa über diese Stufe donnern zu hören und zu sehen - heute rieselt ein wenig Wasser durch die Rinnen im Fels und verdunstet wahrscheinlich, bevor es unten ankommt.

So hatten wir keinen Grund, der Strasse weiter zu folgen, die weitausholend und mit einigen Kehren am linken Talhang in die Tiefe zieht. Wir begnügten uns, von einer über dem Fall errichteten Holzkanzel aus die Gegend zu betrachten. Die elegante dunkelblaue Corriera mit dem roten Schildchen « Diretto Domodossola » stand vor dem Hotel zur Abfahrt bereit. Der Chauffeur, der aus drei so seltenen Vögeln wie wir nicht recht klug werden mochte, fing noch ein Gespräch mit uns an. Als beruflich am Reiseverkehr beteiligter Mann gab er bereitwillig Auskunft und erklärte, dass an Sonn- und Feiertagen eine grössere Menge Wasser aus den Stauseen durch das Flussbett abgelassen werde, damit die fremden Besucher die Schönheit der Cascata del Toce bestaunen könnten wie einst. So manipuliert der Mensch die Natur...

Im Albergo « Blindenhorn » nahmen wir Säcke und Pickel wieder auf und machten uns an die Überwindung der rund fünfhundert Meter hohen Talstufe, die hinter Kehrbächi das Pomat oder Val Formazza vom Valdösch oder Val Toggia trennt. Der alte Saumweg schien uns auf weite Strecken von Erlengebüsch überwuchert zu sein, und wir zogen vor, auf der Strasse zu bleiben. Das war nun also die Strasse nach dem San-Giacomo-Pass, deren Bau vor rund dreissig Jahren auch bei uns zu reden gab. Ihre Entstehung verdankt sie den sich deckenden Interessen der Elektrizitäts-gesellschaften und des der Ausbreitung seiner Macht nachsinnenden Diktators. Die Einladung an die Schweiz, die Strasse auf der Passhöhe abzunehmen und an ihr Verkehrsnetz anzuschliessen, das heisst, an den Gotthard heranzuführen, musste höflich, aber bestimmt abgelehnt werden.

Bei der obersten, aus Hausteinen an den Hang gebauten Wendeplatte setzten wir uns auf die Mauerbrüstung und liessen die Beine über die Tiefe baumeln. Das Mauerwerk zeigte einige Risse und Verwerfungen, nicht bedenkliche, aber doch nicht zu übersehende Zeichen der ewig schaffenden, ewig zerstörenden Natur.

Aus der Tiefe warf der Stausee von Moraschg das Sonnenlicht wie eine ebene silberne Platte zurück. Es ist müssig, darüber zu streiten, ob ein Stausee die Landschaft verschönere oder nicht. Bedingung ist jedenfalls, dass das Wasser nicht schmutzig und die Staumauer nicht sichtbar sei.

Überblickt man einen Stausee aus der Höhe, so tritt die Mauer als etwas Willkürliches, Schwäch-liches oder gar Krankhaftes in Erscheinung. Einzig von vorn und möglichst von unten gesehen kann eine Talsperre ein wirkungsvolles Bild abgeben, aber nicht als Landschaftselement, sondern als Bauwerk. Vor einem solchen gigantischen Riegel, der die wildesten Gebirgswasser in Fesseln schlägt, wird uns klar, dass nicht nur das Wasser, sondern auch der Schnee und seine zerstörende Wucht als Lawine durch die Technik gebändigt werden könnte. Warum tut sie jenes, dieses aber nicht?

Weil der Mensch auf seine Weise mit der Technik umspringt. Mit der Rechten zeichnet er eine runde Summe für Kraftwerkanleihen und huldigt damit der Gottheit unserer Epoche, der Rendite; die Linke spendet, in einer blassen Erinnerung an Christus, einen abgegriffenen Silberling an die Sammlung für die Lawinengeschädigten. Die Technik ist nicht eine dem Menschen übergeordnete Schicksalsmacht, als die er sie so gerne hinstellen möchte, wenn er mit weinerlichem Geplärre von der « bösen » Technik spricht. Es steht einzig und allein beim Menschen selber, ob er sich in ihr eine stille, treue Dienerin heranbilde; macht er aus ihr nur eine gefällige Dame, darf er sich nicht wundern, ihren Launen hilflos ausgeliefert zu sein, wenn er ohne sie nicht sein kann.

In einer kleinen Viertelstunde erreichten wir von der Wendeplatte aus das Rifugio Val Toggia oder Rifugio Maria Luisa. Es gehört wie die Gemslandhütte ebenfalls der Sektion Busto Arsizio des CAI, ist aber, weil der Automobilkundschaft unmittelbar zugänglich, etwas vornehmer als diese und der Betriebsform nach ein Hotel. Der Mittelteil, ein ehemaliges Ingenieurhaus, enthält die Wirtschaftsräume, darunter die Gaststube mit der funkelnden Kaffeemaschine auf dem Schanktisch. Die Schlafräume in den Seitenflügeln, fortlaufend mit Buchstaben bezeichnet, sind kleiner als im Gemslandhaus, aber die Ausstattung ist genau gleich, je zwei Lager übereinander.

Ein Spaziergang von wenigen Minuten brachte uns zur Staumauer des zum Lago Val Toggia aufgestauten Fischsees, der sich auf eine Länge von zwei Kilometern gegen den Passo di San Giacomo hineinzieht. Wir überschritten den Damm und liessen uns am Ostufer zu einem Fussbad nieder. Die kühn gezackte Bergkette hinter unseren Rücken mit den engen steilen Schneerunsen machte uns die Frage besprechen, was zu tun wäre, wenn das Wetter umschlüge. Über die Bocchetta Valle Maggia hofften wir auch bei schlechten Verhältnissen die Capanna Basòdino zu erreichen und von dort aus den Basòdino zu besteigen. Aber diese Hütte liegt auf 1856 Meter, das Rifugio Maria Luisa auf 2150, also 300 Meter höher. Die Gunst, von diesem besten aller Ausgangspunkte den Basòdino angehen zu können, wollten wir nicht verscherzen. Von unserem Badeplatz aus ist dieser Berg nicht sichtbar, aber das Bild seiner Westflanke hat sich uns gestern und heute morgen unvergesslich eingeprägt. Ein geheimes Verlangen zieht uns, selber zu erkunden, wie hoch und wie steil sie sei.

Das Nachtessen, auf halb 8 Uhr angesagt, war in vollem Gange, als wir uns mit fünf Minuten Verspätung in dem von etwa dreissig Gästen besetzten Speiseraum einfanden. Hinter meinem Rücken ertönte aus einem Lautsprecher eine lebhafte Diskussion, auf die ich nicht weiter achtete. Erst als Hans so beiläufig fragte: « Schneit es da immer so stark? », drehte ich mich um und sah das leidenschaftlich verzerrte Mienenspiel einiger abgelebter Großstadtphysiognomien in einem Fernsehapparat vor mir.

Bis jetzt hatte ich erst einmal einen Bildschirm in Betrieb gesehen. Auf dem Rundgang durch den Stand der PTT an der Verkehrsausstellung « Hospes » in Bern sah sich der Besucher in einem verdunkelten Raum plötzlich einem grossen Spiegel gegenüber. Eine so vorteilhafte Gelegenheit, die eigene äussere Erscheinung einer Prüfung und, wo nötig, einer Korrektur zu unterziehen, wurde besonders vom schwachen Geschlecht ausgiebig benützt. Dass diese Vorgänge, drei Meter weiter um die nächste Ecke von Fernsehapparaten wiedergegeben, zur Erheiterung der bis hierher vorgeschrittenen Ausstellungsgäste dienten, konnten die unfreiwilligen Schauspieler nicht ahnen. Ich erinnere mich nicht mehr, welchen Eindruck damals die Qualität der Bildwiedergabe auf mich machte, da ich das Ganze als technische Spielerei ansah. Aber hier fand ich das vernichtende Urteil, das in der Frage von Hans liegt, vollauf berechtigt. Wie man sich dieses Geflimmer, diesen wildbewegten Schwarzweisspointillismus auf einer Scheibe, die im Verhältnis zur Grosse des Raumes viel zu klein ist, stundenlang ansehen kann, bleibt mir unverständlich. Voraussetzung dazu muss das Fehlen jedes ästhetischen Gefühls sein. Der richtungslose Mensch von heute huldigt jeder zur Mode erklärten Sache bedingungslos, und wenn er mit dem Schönen auch das Wahre und Gute opfern muss.

Auch weiss er nicht, dass jedes Ding seine Zeit zum Wachsen und Reifen braucht. Die natürliche Entwicklung der Télévision dürfte so vor sich gehen, dass zuerst die Telephonapparate mit Fernsehgeräten kombiniert würden, und in geeigneten Fällen im Bahnbetrieb oder wie in Schweden zur bessern Überwachung der Zuchthäuser die Bildübertragung angewendet werden könnte. Wenn so das Fernsehen als nützliches Werkzeug der Zivilisation eine gewisse technische Vollendung erreicht hätte, wäre es immer noch früh genug, daraus auch ein Instrument der Kultur zu machen.

Was hilft es übrigens dem Menschen, durch Druck auf einen Knopf eine Scheinwelt in seine vier Wände zaubern zu können? Soll ihm eine pausenlose Folge wechselnder Bilder Erholung bringen?

Die alttestamentliche Weisheit von der Köstlichkeit des in Mühe und Arbeit verbrachten Lebens kann kaum noch auf den geregelten Zwang des in den durchrationalisierten Produktionsprozess eingespannten Menschen von heute bezogen werden; um so mehr gilt sie für die Zeit, in der er sich selbst gehört, seine freien Stunden und Tage. Die Erneuerung und Entwicklung seiner Kräfte und Fähigkeiten können ihm unmöglich vom leidenden Sitzen und Starren vor dem Bildschirm kommen; nur tätiges Handeln wird ihn verjüngen und stärken, am besten in der freien Natur.

Wem nicht mehr als Bauer oder Gärtner ein Stück Boden zu bearbeiten gegeben ist, darf wandernd, kletternd oder schwimmend von der Welt Besitz ergreifen, der wahren, nicht der Scheinwelt auf der Glasplatte. Denn nur was er selber und aus freiem Willen vollbringt, zählt für den Menschen; das fühlen oder wissen nicht zuletzt die Kletterer des sechsten Grades.

Unser Nachtessen schmeckte ganz ausgezeichnet. Sogar der Fenchel, ein Gemüse, das mich sonst völlig gleichgültig lässt, war auf eine so vorzügliche Art zubereitet, dass ich mir keine Gedanken darüber machte, warum plötzlich an der Wand gegenüber so viele Männer standen. Aber jetzt wurde, nach einer längeren Fernsehpause, die neue Sendung angesagt:

« Lascia o radoppia » ( Lass'ab oder verdopple ) Zufällig hatte ich kurz vorher gelesen, wie diese Sendung in Italien einen riesigen Publikumserfolg errungen habe. Den Beweis sahen wir nun selber an den Leuten, die mit militärischer Pünktlichkeit, ganz wie im Kasernenhof auf zwei Glieder gesammelt, vor dem Fernsehmöbel sich aufstellten. Das Wesen der angekündigten Sendung besteht darin, dass jedermann, der ein bestimmtes Wissensgebiet zu beherrschen glaubt, sich zu einer Prüfung melden kann. Es werden etwa zehn oder zwölf Fragen gestellt. Die richtige Beantwortung der ersten Frage wird mit einer bestimmten Summe Geldes belohnt, die zweite Frage mit dem doppelten Betrag, die dritte mit dem vierfachen und so immer steigend nach der geometrischen Progression. Nach jeder richtigen Antwort darf der Prüfling erklären, dass er sich mit dem Erreichten zufrieden geben und auf weitere Fragen verzichten wolle. Denn, beantwortet er eine Frage nicht oder falsch, geht er des Gewonnenen wieder verlustig.

Heute war ein Herr aus Frosinone an der Reihe, der in harter Arbeit ein Stück menschlicher Geistesentwicklung studiert hatte und bereit war, sich über seine Kenntnisse in der Geschichte der Mathematik auszuweisen. Man staunt, wie dieses Thema vor die Televisionskästen ungezählte Tausende zwingt, die sich um die Mathematik nie weiter bekümmert haben als bis zum Einmaleins ihrer Zahltagstäschchen. Es muss also etwas anderes sein, das dieses Publium an den Bildschirm fesselt: der von Neid und Schadenfreude gezeugte Kitzel, ob der Herr aus Frosinone einige hunderttausend Lire erraffen werde oder nicht - das unchristliche Vergnügen, ihn seine Kapriolen im wirbelnden Ringelreigen um das goldene Kalb machen zu sehen.

Wir entsagten diesem Schauspiel, bei dem ein geistiger Gewinn nicht zu hoffen ist, und räumten unsere Plätze.

Ich hatte unsere schwarzhaarige Serviertochter gefragt, wann wir frühstücken könnten. Sie antwortete gewohnheitsmässig, das stünde in unserem Belieben. Als ich aber halb 5 Uhr als den besten Zeitpunkt vorbrachte, schlug sie doch fast die Hände über dem Kopf zusammen. Wir lachten, denn wir hatten das vorausgesehen. So mochte die Maid glauben, dass wir nur mit ihr gescherzt hätten, und ich ging, die Rechnung zu bezahlen und uns für morgen abzumelden.

Westwind am Basòdino Ohne etwas vergessen zu haben, als nach jener Maria Luisa zu fragen, die ihre Namen erinnerungs-weise am Rifugio Val Toggia hängen gelassen hat, traten wir um 5 Uhr morgens zwischen den davor parkierten Automobilen auf die Strasse hinaus. Nach kurzem Anstieg erreichten wir den Kastelsee, der, obschon auch mit einer Staumauer eingefasst, nur zur Hälfte mit stagnierendem Wasser gefüllt war. Wahrscheinlich ist er dazu ausersehen, allfällige Überschüsse des Fischsees aufzunehmen, die herauf gepumpt werden müssten; denn als natürlichen Zufluss bemerkten wir nur ein kleines Bächlein, das am Berghang mitten in der Weide zutage tritt. Es scheint dort einem künstlich angelegten Stollen zu entfliessen. Vom Kastelhorn zieht sich ein Felsband schräg herunter und grenzt den ganzen Hang nach oben ab. In diesem Bollwerk schien es eine schwache Stelle zu geben, unter der wir Pfadspuren zu erkennen glaubten.

Wir umschritten die Südspitze des Kastelsees und stiegen auf einem Weglein zu der künstlichen Quelle auf. Hier mussten ganz ungewohnter Weise die Rucksäcke das Frühstück liefern, und Walter braute auf seinem Gamellenkocher für jeden einen Sud Kaffee. Noch selten hat mir die braune Brühe so gut geschmeckt wie im frischen Morgenwind am Kastelsee. An dessen Ufer tauchten zu unserer Überraschung zwei Männer auf, die umständlich ihre Fischruten zusammensteckten und geruhsam ihr nervenberuhigendes Tagewerk begannen.

Wir hatten richtig gesehen. Eine halbverwachsene Fährte leitete uns unter das Felsband hinauf, das hier ohne Schwierigkeiten erstiegen werden kann. Darüber hört jede Spur auf. Zuerst durch magere Weide, dann über plattigen Schutt und einige Felsbuckel stiegen wir in der von zahlreichen trockenen Schmelzwasserrinnen durchfurchten Flanke unter dem Kastelhorn und dem Pizzo Cavergno langsam, aber stetig gegen den Basòdino an.

Auf einer Art Felsrippe direkt westlich unter dem Gipfel setzten wir uns zu einer letzten Rast. Dann betraten wir das Firnfeld, das den obern Teil der ganzen Wand bis weit gegen die Grathöhe hinauf bedeckt. Unter dem als Passo Cavergno bezeichneten Einschnitt, wo der Nordgrat des Basòdino anfängt, trat eine Schuppe Blankeis zutage. Wir richteten unseren Aufstieg gegen eine schmale Firnrinne, die unweit nördlich des Gipfels den Grat erreicht. Sie hatte uns schon auf dem Ofenhorn die Gewissheit gegeben, dass wir über sie auf den Grat gelangen könnten, wenn die Felsen aus irgendeinem Grunde nicht begehbar sein sollten.

Der Firn war rauh und hart wie Stockzucker. Mit den Kanten der Schuhsohlen liess er sich nicht bearbeiten. Steigeisen wären hier von Vorteil gewesen, aber die hatten wir zu Hause gelassen. Die Steilheit nahm rasch zu, und der Pickel erwies sich als unentbehrlich. Über eine schräg zur Hangneigung in gerader Linie angelegte Stufenreihe stiegen wir in den untersten Teil der Firnrinne hinauf. Die Felsen zur Linken, obschon mit losem Schutt bedeckt, zeigten sich begehbar. Der Übergang vom Firn auf das Gestein bereitete keine Schwierigkeiten, und nach einigen Minuten leichten Kletterns standen wir auf dem Grat.

Ebenso steil, aber bei weitem nicht so tief wie die Westflanke fällt seine Ostseite zum Basòdino-gletscher ab. Wir mussten den Umriss seiner blendendweissen Oberfläche fest ins Auge fassen, um eines leichten Schwindelgefühls Herr zu bleiben, das die windschnell darüber hinweghuschenden Wolkenschatten erregten.

Der Gipfel des Basòdino, den wir bisher nur im Profil als höchsten Punkt eines schwach nach oben gekrümmten Berges gesehen hatten, zeigte sich hier wie ein Querschnitt durch den scharfen Gneisgrat. Als mächtiger Turm wuchs er zur Rechten in die Höhe und stellte uns abweisend seine schattendunkle Nordkante entgegen. Leichter als erwartet überwanden wir dieses letzte Hindernis und standen um 10.40 Uhr auf der Spitze des Basòdino, 3272 Meter.

Eine gemischte Gesellschaft von Tessinern und Deutschschweizern, etwa acht Personen, war kurz vorher über den Ostgrat heraufgekommen, doch fand sich Platz genug, dass jeder, halb sitzend, halb liegend, sich ausruhen, die Aussicht betrachten, essen, reden oder - schweigen konnte.

Im Raum zwischen Monte Leone und Rheinwaldhorn nur vom Blinnenhorn an Höhe übertroffen, gewährt der Basòdino eine berühmte, durch keine nahe Erhebung beschränkte Rundsicht. Uns freilich blieb der Anblick der Hochgipfel verwehrt; eine Wolkendecke verhüllte den Alpenkamm auf etwa dreitausend Meter herunter. Das Ofenhorn war nur in längeren Intervallen für kurze Momente sichtbar, je nachdem der heftig wehende Wind ein Stück vom Rand der Nebeldecke wegriss und, in Fetzen aufgelöst, über uns nach Osten trieb. Auf unserem, der Hauptkette der Alpen südlich vorgelagerten Beobachtungspunkt sassen wir in einem Grenzgebiet der Witterung: im Nordosten, gegen den Gotthard hin, hingen zeitweilig jene grauen, schräggestreiften Schleier in der Luft, die einen lokalen Regen- oder Rieselschauer verraten, im Süden verlor sich der Blick zwischen den letzten Nebelschiffen im wolkenlos heiteren Himmel Italiens.

Die andern Gipfelbesucher waren wieder über den Ostgrat von unserem windumbrausten Gipfel abgestiegen. Der Weststurm, ohne so heftig zu sein, dass er uns vom Nordgrat zu reissen vermochte, über den absteigend wir einen letzten Blick in die Westflanke warfen, weckte mit seinen Stossen ein gesteigertes Lebensgefühl.

Ohne besondere Schwierigkeiten traten wir auf den Basòdinogletscher über, den wir im mittäglich aufgeweichten Schnee nordwärts durchschritten. Auf den Granitplatten an seinem Rande schalteten wir eine Rast ein, um unser Seil und die vom Schneewasser bis in die Nähte sauber ausgelaugten Schuhe etwas anzutrocknen.

Ein kurzweiliger Bummel durch unübersichtliches Gelände brachte uns auf die Alp Randinascia vor den merkwürdigen Alpstall unter der riesigen Steinplatte, und ein holpriger Alpweg leitete uns auf die Alp Robiei zur Basodinohütte, die wir zur guten Stunde, nämlich um die Teezeit, erreichten.

Träumerei am Lago Bianco Die Capanna Basòdino der Sektion Locarno des SAC kann von Bignasco aus durch das Bavonatal in etwa sechs bis sieben Stunden erreicht werden. Wir waren somit dem Endziel unserer Bergfahrt ziemlich nahe gerückt. Meine beiden Kameraden legten Wert darauf, den ihnen gewährten Familienurlaub nicht über Gebühr auszudehnen und wollten nach einer in der Hütte zugebrachten Nacht die Heimreise antreten.

Vor mehreren Jahren war ich mit einem Dutzend fröhlicher Gefährten eine Woche lang in den Tessiner Bergen herumgestiegen. Als sie damals über den Passo Cristallina südwärts zogen, um zum Abschluss bei prächtigstem Wetter den Basòdino zu besteigen, ich aber einer Verabredung wegen von ihnen Abschied nehmen musste, war mir, als ob dieser Berg und seine Umgebung in unerreichbare Fernen entschwände.

Nun sah ich mich - fast unerwartet - doch in dieses Traumland versetzt und gedachte wenigstens einen Tag darin zu verweilen.

In nicht zu früher Morgenstunde nahm ich vor der Basodinohütte Abschied von Hans und Walter, die in zügigem Schritt das Zickzackweglein neben dem stäubenden Wasserfall unterhalb der Hütte hinabliefen. Ich sah ihnen nach, bis sie hinter einer Ecke verschwanden, und stieg dann langsam den Pfad nach dem Passo Cristallina hinan.

Hinter der einsamen Alp Lielpe biegt der Steig nach einer kurzen Talenge scharf nach rechts ab und zieht sich über einen steilen Hang empor; links erweitert sich das Tal um einen kleinen See, den Lago Bianco. Der Bach verwehrt den Zugang auf sein felsiges Südufer, nördlich liegt in einer Runse noch eine Spreite Lawinenschnee. Dahinter ist der See frei zugänglich. Dieser Winkel scheint jenen wohlgestellten Zeitgenossen doch zu weltverloren, die in ahnungsloser Unverschämtheit die Uferstriche an den Tieflandseen aufkaufen und damit ihre Nebenmenschen vom Zutritt zum Wasser, diesem natürlichen Quell der Erholung, des Trostes und der Freude aussperren. Hier aber folge ich ungehindert « jener Zauberlinie, in der Wasser und Land sich berühren. Wir schenken dieser Linie im allgemeinen wenig Aufmerksamkeit und nennen sie kurzerhand Ufer », sagt Hermann Hiltbrunner - folge ihr nach Westen auf jene kleine Schwemmlandebene, die in gemeinschaftlicher Arbeit von drei nur kleinen Bächen, aber nach den gleichen Gesetzen wie das Delta des Mississippi und jedes andern Stromes aufgeschüttet wurde und noch wird. Aus der schmalen Zone trügerischen Schwemmsandes rette ich mich auf den festen, grasbewachsenen Boden und blicke zurück.

Der weisse See bildet nun den heiteren Vordergrund zu einem dunkel aufragenden Berg, dem Poncione di Braga. Er scheint von einem geheimen Leben erfüllt, das macht der unablässige Wechsel der Beleuchtung durch die darüber hinwegziehenden Wolken.

Es gibt Menschen, denen der Anblick treibender Wolken den Wunsch erregt, auch so durch den Raum fliegen zu können; ich gehöre nicht zu ihnen. Ich kann mir im Gegenteil sehr wohl denken, dass der Führer eines zukünftigen Raumschiffs die Hälfte seines restlichen Lebens darangeben würde, aus seiner Druckkabine befreit, hier wohlgeborgen in einem Rünzelchen der Mutter Erde im Grase liegen zu können und keine andere Sorge zu haben, als seinen Rucksack der naschhaften Zudringlichkeit eines Rudels Geissen zu entziehen.

Mir wurde auf die Dauer sogar diese Aufgabe zu viel, und ich stieg die nächste Talstufe hinan, einen Blick in das grossartig-öde Val Cavagnoli zu werfen. Hier kommt die Fährte - von einem Pfad kann kaum gesprochen werden - vom Passo Grandinagia herunter. Ich konnte nicht ahnen, dass einen Monat später sieben Unteroffiziere auf einem Fussmarsch von Bern an ihre Tagung in Locarno hier vorbeikommen würden, sonst hätte mein Nichtstun einen schweren Stoss erlitten. So aber bummelte ich nachmittags gemächlich in die Basodinohütte zurück.

Am Abend traf ein gutes Dutzend Mitglieder der hüttenbesitzenden Sektion Locarno ein. Die erste, jüngere Gruppe erreichte das schützende Dach knapp vor Ausbruch eines Gewitterregens, die Männer der zweiten Abteilung aber fanden Gelegenheit, ihren Regenschutz auf seine Durchlässigkeit zu prüfen.

Von alten Pfaden und neuen Strossen Zäher, nasser Nebel, der am frühen Morgen die Hütte einhüllte, schreckte die Locarnesen nicht ab, zur Besteigung des Basòdino aufzubrechen. Offenbar kannten sie ihren Berg und sein Wetter. Ich liess den Tag heraufkommen und stieg, als die Nebeldecke sich hob, langsam talwärts.

Im dichten Unterholz ob San Carlo ging ich unschlüssig an einer Tafel vorbei, die vor Sprengschüssen und Steinschlag warnte. Da mir schien, in der Ferne gäbe ein Geissbubenhörnchen drei Töne gleicher Länge von sich, setzte ich mich auf einen Stein am Weg und liess die Kanonade ausdonnern. Von fliegenden Steinen war nichts zu merken. Einen langgezogenen Hornstoss fasste ich als Einladung zum Weitergehen auf, und bald stiess ich auf einige Baracken und eine neue Strasse, die mich nach San Carlo führte.

Vor dem Kirchlein liess ich mich auf das alte Steinmäuerlein nieder und bedachte die Lage. Nach der Theorie hätte ich glücklich sein müssen, denn ein alter Wunsch war mir endlich erfüllt: Die Wanderung durch das ob seiner urtümlichen Schönheit und seiner unberührten Natur berühmte Bavonatal stand unmittelbar bevor. Ich musste mir eingestehen, dass auch in diesem Fall Theorie und Praxis nicht genau übereinstimmten. Schuld daran mochte der bedeckte Himmel tragen, vielleicht aber - einige Automobile, die ich zwischen den Häusern zu sehen glaubte. Ich war wieder einmal zu spät gekommen.

Durch ein enges Gässchen stieg ich gegen die Bavonabrücke hinunter. Am Anschlagbrett hing ein seitenlanger Traktat, von dem ich nur zwei Wörter der Überschrift meinem italienischen Wortschatz einverleibte: « Febbre aftosa » erklärte ich mir ohne Wörterbuch mit « Maul- und Klauenseuche ». Das kleine Wirtschäftchen war wirklich von parkierten Wagen umstellt, und ohne Halt schritt ich vorbei. Eine neue Strasse ohne Belag ist mit den modernsten Mitteln der Technik in den Talgrund gepflügt worden und hat den alten Saumweg bis auf geringe Reste unter sich begraben.

Wer gibt wem das Recht, einen alten, uralten Pfad einfach zu vernichten, nur um einen mit mechanischen Mitteln benutzbaren Verkehrsweg an seine Stelle zu setzen?

Eines der ursprünglichsten Rechte des Menschen ist die Freiheit der Ortsveränderung, die Möglichkeit, sich beliebig in der Natur bewegen zu können und ungehindert durch alle Gegenden zu ziehen. Deshalb sollte kein Fussweg, der eine durchgehende Verbindung ermöglicht, der technischen Entwicklung geopfert werden dürfen, ohne Ersatz dafür zu schaffen. Dass diese Forderung erfüllt werden kann, haben in beispielhafter Weise die Kraftwerke Oberhasli bewiesen, als sie den alten, vom Stausee Räterichsboden überfluteten Grimselweg unter erheblichen Kosten in die Plattenschüsse des Westhanges verlegten.

Bei Roseto geht die Strasse auf das linke Ufer der Bavona über; auf dem rechten blieb der alte Talweg bis Foroglio erhalten, eine Strecke, die in zehn Minuten abzuschreiten ist. Hier brach der erste Sonnenstrahl durch das Gewölk und fiel gerade auf den hohen Wasserfall, mit dem sich der Calneggiabach nicht weit hinter der Siedlung in das Haupttal stürzt. Wie lange noch?

Ich ging ganz oben gegen die Kirche hinein und von da abwärts ins Dorf. So konnten die Foro-glionesen denken, ich käme vom Val Calneggia herunter. Diesem Umstand ist es vielleicht zuzuschreiben, dass sie mir weniger freundlich begegneten, als die Bewohner der obern Dörfchen. Denn alsbald stiess ich von hinten auf eine Verbottafel, die, ein Kistendeckel, die Aufschrift trug:

Causa sequestro è vietato l' accesso al'Alpe.

( Wegen Stallbanns ist der Aufstieg zur Alp verboten. ) Eine breite Brücke führt auf die neue Strasse hinüber, wo die übliche Blechtafel mit dem aufgeklebten winzigen Fahrplänchen eine Postautohaltestelle andeutet. Auch Foroglio ist an den Weltverkehr angeschlossen, indem an Werktagen morgens ein Wagen von Bignasco herauf und abends wieder hinunter fährt.

Das Tal biegt hier stärker nach Osten ab, was den Höhenwinden Gelegenheit gab, die Wolkendecke immer mehr aufzureissen. Die Sonnenbeleuchtung minderte den Ernst der dunkeln Kastanienwälder und gab dem Tal zusehends ein heiteres Aussehen. Vor Cavergno führt die Strasse an der unterirdischen Kraftzentrale und dann an einer Reihe neuer Angestelltenheime vorüber, die architektonisch ansprechend gestaltet und gut in die Landschaft gebettet sind.

Um Mittag ziehe ich bei schönstem Wetter in Bignasco ein. Die recht fühlbare Wärme bringt mir erst jetzt zum Bewusstsein, dass die Alpen überschritten sind und der Süden offen vor mir liegt. Ein Gewaltmarsch im Stil der alten Schweizer brächte mich noch heute an das Ufer des Langensees. Jedoch, so vortrefflich unsere Landeskarte das von der Natur geschaffene Gelände wiedergibt, so unvollkommen muss die Darstellung der wechselnden menschlichen Einrichtungen: Wege, Stege und Zäune, bleiben. Auf dem rechten Ufer der Maggia, fernab der linksseitigen Asphaltstrasse, sind wohl einzelne Feldwege eingezeichnet, aber eine zusammenhängende Pfadspur von Bignasco bis Ascona lässt sich damit nicht aneinanderreihen.

Und ausserdem: der Süden ist nicht das Ziel. Im Geiste sehe ich wieder die saftig grünen Alpweiden, auf die wir vom Arbolagletscher hinabgeblickt haben; wie schön müsste es jetzt sein, vom windgekräuselten Lebendünsee über die Scatta Minoia nach der Alpe Dèvero zu wandern und zu schauen, ob und wie sich das Ofenhorn zwischen den dunkeln Fichten im See von Codelago spiegelt...

Ein blitzsauberes Hotel mit weissgedeckten Tischen steht an der Strasse, und ich erwäge noch einmal die Möglichkeit, hier haltzumachen und morgen den Weg zurück über die Pässe zu suchen. Veterinärpolizeiliche Überlegungen lassen mich davon absehen. Meine Route würde wahrscheinlich mitten durch das verseuchte Gebiet führen. Als ein Leichtfertiger und Gewissenloser die Seuche weiterverschleppen - das kommt nicht in Frage.

Gelassen schritt ich am Gasthaus vorbei zum Bahnhof, stieg in den bereitstehenden Zug und schob damit einer weiteren Abnützung meiner Schuhsohlen den Riegel vor.

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