Wege am Salbitschyn und Blauberg
Unterstütze den SAC Jetzt spenden

Wege am Salbitschyn und Blauberg

Hinweis: Dieser Artikel ist nur in einer Sprache verfügbar. In der Vergangenheit wurden die Jahresbücher nicht übersetzt.

Mit 6 Bildern.Von Jürg Weiss.

In den Gesprächen der Freunde Hans Frei und Hans Graf wurde oft des Salbitschyn-Westgrats gedacht. Ich begann, mir von den Türmen meine Vorstellung zu bilden. Ziemlich lange verharrte ich in diesem ersten Stadium: der Auseinandersetzung mit dem Berg in der Phantasie. Bezeichnungen wie der « Quergang », der « Spreizschritt », die « Gipfelnadel » oder der « Abseil-pendel » am Turm V waren mir geläufig und riefen abwechselnd verwegene und befangene Gefühle herauf, lange bevor ich den Berg erblickte. Die Begegnung dünkte mich längst fällig, als mir Hans Frei im Juli 1935 vorschlug, unsere Ferien in diesem Gebiet zu beginnen.

Wir trafen uns in Göschenen. Der Weg zur Voralphütte schlängelt sich um den Fuss der Westgrattürme herum. Aus breitem grünem Sockel schnellen ihre Wände hoch und münden in einen Wirrwarr von Zacken und Nadeln. « Wie werdet ihr mich empfangen? Was für Überraschungen haltet ihr mir aufgespart? » Wie vor jeder Fahrt versuchte ich vorauszulesen und auf dem Blatt der kommenden Tage die noch ungeschriebenen Zeichen zu entziffern. Ich muss wohl sehr damit beschäftigt gewesen sein, denn als Hans mir den Becher hinhielt, mischte ich ihm statt der Zitronensäure, die wir mitzuführen pflegten, Soda ins Wasser. Er machte zunächst ein nachdenkliches Gesicht, er hatte den Ausdruck eines Menschen, der merkt, dass etwas nicht stimmt, aber nicht weiss was. Dann glaubte er, es gefunden zu haben, bemerkte, meine Kristalk entbehrten der Säure. Als ich ihm neue nachschüttete, trank Geologie der Schweiz I, 369.

er mutig, bis er auf den Boden kam, goss plötzlich entrüstet die letzten dickflüssigen Tropfen heraus und machte seinem Unwillen Luft. Von da weg hatte ich als Mundschenk bei ihm ausgedient.

Turm II.

Man kann in der Höhle von Mittwald seitwärts des Hüttenweges nächtigen. Wir wählten, um an den Fuss unseres Turmes zu gelangen, den längeren Anmarsch von der Voralphütte her. Man folgt gleich hinter dem Haus dem Schlängelpfad auf die Rasenbänder hinauf, die einen, abwechselnd an- und absteigend, an die kulissenartig aufragende Schattenwand heranführen. Es ist ein sehr unterhaltsames Wandern über das Gewelle der grünen mit rupfenden Schafen bevölkerten Hügel hinweg, hinter denen sich immer beängstigender das Sägeblatt der Westgrattürme in den Himmel schiebt. Auf dem äussersten Rande der « Fluh » liessen wir die Schuhe zurück. Hans das Seil, ich den Sack umgehängt, kletterten wir über benetzte Schrofen ins Hornfellicouloir hinab. Ein halbebenes Plätzchen, eine vergilbte Zeitung erinnerten meinen Begleiter an eine Biwaknacht, in deren Mitte er durch einen heranlärmenden Steinschlag aufgeschreckt worden war. Dahinter erkletterten wir den Sockel unseres Turmes. Bald nahm uns die Rinne auf, die zwischen Turm I und II herabstreicht. Den Kopf im Nacken blickten wir zur Spitze, die als steingewordene Flamme orangefarben in den schwarzblauen Himmel züngelte.

Zwischen den rotweissen Riesenwänden des Einers und Zweiers rückten wir auf dem Grund der Rinne vor, bis wo sie sich im Gefels verliert. Hans schob den Seilknoten über der Brust zurecht und schwang sich in die Wand. Nur den Zehenspitzen war Halt geboten, ich sah die roten Duratasohlen ständig über mir. Das Seil schleifte in kleinen Rucken über den Fels und streifte von den Flechten winzige Blättchen ab, die mir manchmal ins Auge fielen. Eine Alpendohle durchlief in ständiger Wiederholung die gleiche Flugbahn und winkelte vor der Wand jedesmal an derselben Stelle ab. Wenn sie gerade über mir war, konnte ich ihre gelben Füsschen sehen. Nach 40 Meter kam die Reihe an mich. Der Fels ist zwar kleingriffig und steil, aber nicht eigentlich schwer. Der Stein fühlte sich warm an; mich dünkte, ich müsse ihn nur streicheln, damit er mir Fortkommen und Halt gewähre.

Drei oder vier Seillängen ging es so hinauf, dann hielten wir in einer Scharte, die einen breiten Klotz vom eigentlichen Massiv des Turmes spaltet. Ein schmales Kriechband führte ansteigend mitten in die Wand hinaus.

« Et maintenant, jeune homme, maintenant seulement nous allons commencer à grimper! » liess Hans sich hier vernehmen. Es sind bei Samivel die Worte des alten Routiniers, die er aus beklemmender Wand herunter zu seinem Schüler spricht, der sich eben mit letzter Anstrengung auf einen Block hinaufarbeitet, den er für den Gipfel hielt. Schliesslich musste Hans es wissen, stand er doch zum achtenmal hier.

Da langt man auf einem kleinen Boden an, auf dem man sich zunächst gründlich verrannt vorkommt Es ist die Schlüsselstelle, der Ausgangspunkt für den berühmten « Quergang ». Man steht unter dem vorgewölbten Balkon in der imponierenden Hausfront. Nach oben ist kein Fortkommen Bleibt der Weg unten durch, bis es drüben wieder aufwärts geht. Über der blauen Tiefe machten wir uns an ein Queren, Hangeln, Balancieren. Ein paar Eisenhaken staken im Fels. Gerne liessen wir unsere Karabiner in ihre rostigen Ringe schnappen. Ein Gefühl der Sicherheit überkam uns, das der Freude am Klettern durchaus nicht Abbruch tat.

Dann lag der Balkon rechts von uns, und der Durchschlupf nach oben wurde möglich. Hans klettert durch einen Riss und verschwindet in der zurücktretenden Wand. Ich kann fortzu Seil ausgeben, so rasch rückt er vor. Dann höre ich einen Karabiner klinken. « Seil straff », tönt es herab. Ich halte das Seil mit beiden Händen und fixiere den grauweissen Fleck Stein vor meinen Augen. Ein paar Steinchen und Sand rieseln durch die Stille herab. « Nachlassen! » Etwas gepresst klingt das Wort an mein Ohr. Zentimeterweise gibt die Hand Seil frei, die Sekunden dehnen sich. Aber plötzlich ist der Widerstand gebrochen, das Seil gerät in fliessende Bewegung, von ungeduldiger Hand angefordert. Ein ganzer Schub der verkrangelten Schlingen rollt ab, bis der Vorrat erschöpft ist. Da zwänge ich mich durch den Riss. Ein flacher Boden empfängt mich. Er geht in ein Band über, fenstersimsbreit. Das Sims hört auf, nein, es setzt nur aus. Drüben ist nochmals ein Sims, dazwischen aber die glatte, abscheulich ausgesetzte Wand. Abscheulich? So erscheint sie nur dem Wartenden. Der Kletternde empfindet diese Ausgesetztheit als einen mächtigen Impuls. « Der Karabiner ist ausgehängt », sagst du dir, « das Seil vermöchte dich an dieser Stelle nicht zu halten, in gigantischem Pendel führest du unter dem Sichernden rechts drüben in die Wand hinaus. » Da schmiegst du dich an den rauhen Stein, lässt deine Hände seine Unebenheiten abtasten, streckst den linken Fuss, den du vorsichtig auf den äussersten Rand des Gesimses vorgeschoben hast, streckst ihn mehr und noch mehr, denn immer ertastet sich dein rechtes Bein das jenseitige Gesimse nicht. « Es kann doch nicht mehr weit sein, » redest du dir zu. Aber Kopf und Fuss können einander nicht sehen, ganz verbindungslos sind sie sich selber überlassen, denn zwischen beiden ist der Körper an den Fels gepresst. Der Kopf aber darf sich nicht rückwärts beugen, auch er muss peinlich die Reibung mit dem Gestein suchen. Endlich begegnet der Fuss auf seiner Suche etwas Festem, sachte rückt er sich zurecht, die rechte Hand erschmeichelt sich einen Griff, so, nun kann das linke Bein herübergezogen werden. Und dann bist du dem festen Boden wiedergegeben.

Bis vor diese Stelle war Hugo Müller nach verschiedenen Versuchen gelangt. Ein Schritt — und der Weg zum Gipfel wäre offen gelegen. Da war aber der Abgrund zwischen dem Hüben und Drüben. Er kehrte um. « Geschlagen » heisst der Bericht, in dem er von seinen Versuchen erzählt. Ein Jahr später gelangte er dann ans andere Ufer.

Kamin folgte auf Kamin, eng und glatt die einen, breit und zerklüftet die andern. Ich begann sie dafür zu verwünschen, dass sie mir den Gipfel so lange vorenthielten. Schon hatten wir die Höhe des Westgipfels erreicht, da öffnete sich noch einmal ein Spalt, enger und höher als alle andern. Er nahm uns in eine böse Presse. Und dann war auf einmal nichts mehr über uns als unendlicher Himmel, und wir konnten uns auf einer Terrasse ausstrecken.

Ein herrlicher Gipfel! Verschwenderisch bietet er Platz an, obgleich der Besucher meist nicht viele sein werden. Hier und auf dem vierzig Meter tiefer gelegenen Boden hatte Hans zu wiederholten Malen biwakiert, wenn er die Türme des Westgrates vom Zweier weg in einem Zug erklettern wollte. Bis zur Gipfelnadel lief die zerschartete Gratschneide von uns weg, nach Norden zeitweilig überhängend, aber von nur geringer Höhe, nach Süden dagegen in atemraubenden Fluchten dachziegelig abstürzend.

Kreiste der Blick aber über die weissgescheckten Gotthardhöhen hinweg nach Westen, so begegnete er weiten Gletschern und schimmernden Graten. Nach den Disharmonien des Westgrat-Prestos entzückte uns die heitere Gelöstheit dieses landschaftlichen Largos. Von den Gipfeln flössen Gletscher zu Tal, und über sie hinweg wanderten die Schatten ziehender Wolken. Hundert nervös gewellte Firnbuckelchen hoben sich aus ihren schneeigen Flanken und belebten den geruhsamen Fluss des Largos durch ein munteres Pizzicato-thema.

Lange hielt es uns an der gastfreundlichen Stätte. Wir sahen hinüber zum Sustenhorn, das wir gestern über seinen Ostgrat betreten, und zum Hintern Sustenhorn, das wir anschliessend nach dem Sustenjoch zu überschritten hatten, und gedachten der enttäuschenden Rackerei in zerbröckelndem Gestein, die noch auf unsern Gliedern lastete. Dann wandten wir uns den Westgratzacken zu und damit den kommenden Tagen.

Bis langsam sich der Abend meldete. Hans erhob sich zuerst. Rauh glitt das Seil durch die ungelenken Finger. Schweigend trotteten wir ab. Wir wussten, es stand uns ein langer Abstieg bevor. Bis unter den Quergang wird frei geklettert. Ohne Spannung, aber auch ohne Unlust begaben wir uns auf den Weg.

Drei Stunden später wanderten wir über die Flühe hüttenwärts. Vor uns im dunkel erblühten Himmel blinkte zögernd und wie auf Widerruf ein Stern. Unwahrscheinlich und phantastisch wie je ragten in unserm Rücken die Zackenkulissen des Westgrats. Welle um Welle legten sich die grünen Hügel, über die wir wanderten, vor sie hin, und als wir uns vor dem Abstieg zur Hütte wieder nach ihnen umwandten, waren sie verschwunden, verschluckt von Erde und Nacht.

Turm IV1 ).

Als wir uns auf dem von Hans gefundenen Weg dem Turm IV zuwandten, war es bereits Abend. Wir hatten den Tag vergeudet mit dem Versuch, auf dem Scheitel des Westgrates hochzukommen. Der Erfolg, den wir verbuchen konnten, betrug vierzig Meter in der Höhe. Auf die Stunde machte das fünf Meter. Wir hatten unter der Scharte zwischen Turm III und IV an- gesetzt, d.h. etwas links davon unter der ersten Gratstufe. Es bot sich die Wahl zwischen einer abgespaltenen messerscharfen Platte linker Hand und der sich konzessionslos herauswölbenden Wand über uns. ( Dieselbe Schichtung lässt sich an mehreren Stellen beobachten, an der Gipfelnadel, an der Abseilplatte vom Fünfer ins Hornfelli: der Grat wird auf weite Strecken von griff-und trittlosen, kaum angeritzten Platten gebildet, die in der Verlängerung der Südwand wie Wächten sich ins Leere hineinwölben. ) Hans wandte sich dem Überhang zu, wohl weil er sich von ihm eine Erprobung seiner Trittbrettchen versprach, die er zum erstenmal mit sich führte und die, in Schlingen an den Karabinern baumelnd, ihm einen mehr oder weniger komfortabeln Stand boten. Als ich dann, die Haken und Schlingen vorweg einsammelnd, den Überhang zu bewältigen hatte, widerfuhr mir das Unangenehme, dass ich die Schwere in mir wachsen fühlte, dass die Kräfte, die mir gegen sie ins Feld zu führen blieben, immer unzulänglicher wurden und immer aussichtsloser mein Versuch, den freipendelnden Körper da hinaufzuziehen. So musste ich mich dem Seil und den Kameraden anvertrauen, die mich nach bekanntem Mehlsackverfahren neben sich auf den abgemessenen Standplatz hinaufzogen.

An eine Verfolgung der Gratschneide in freiem Klettern war noch nicht zu denken. Nur mittels verzwickter Manöver in der Südwand würde die nächste Stufe zu erreichen sein. Wir waren vier an diesem Sonntag. Während Eugen und ich die Seile zu bedienen hatten, die, durch Karabiner laufend, Hans von links und rechts her in der Weise der sich überschneidenden Scheren-backen sicherten, überwachte Mathis die Operationen und erteilte die Kommandos zum Ausgeben und Einziehen des Seils. Währenddessen tasteten unsere Blicke den schauerlichen Absturz des Dreiers zur Scharte ab, über den man sich zuweilen abseilt. Unsere Ohren horchten den Rufen, die von der Partie Weckerts am Turm II zu uns drangen. Ich versuchte mir vorzustellen, in welcher Situation sie sich gerade befanden, und hätte gerne mit ihnen getauscht. Denn, so sehr mich diese Art des Kletterns interessierte, es kam der Moment, wo mir jede andere, bei der man vom Fleck kommt, mehr zugesagt hätte. Es wurde mir klar, wie sehr die Überwindung des Raumes und der Schwerkraft, die wechselnden Eindrücke und Situationen zu einer Bergfahrt gehören. Ich kam mir hineingelegt vor. Natürlich hatte ich schon gewusst, mit welcher Art von Kletterei wir es zu tun haben würden. In welchem Masse diese Granitmauern aber unbegehbar sind, wie sehr sie sich gegen irgendwelche Bearbeitung mit Haken und Pflöcken sträuben, das erlebten wir im Laufe dieses Tages. Als wir vom bequemen Stand auf der obern Stufe vorausblickend den Grat auf den Vierer zu abwanderten, wurde uns klar, dass nicht zwei, sondern vier oder fünf Tage nötig wären zur Bewältigung aller Hindernisse bis zur Gipfelnadel. Wenn überhaupt... Und da gerade über den südlichen Gotthardbergen der Himmel sich in einem Gewitter entlud und ein allzu eifriger Wind sich anschickte, die Regenfront gegen uns heranzuführen, knüppelte Mathis kurzerhand das ganze vorhandene Seilzeug zusammen, schlang die Mitte um eine papiergepolsterte Zacke und warf die Schlingen mit Eleganz über dieselbe Wand hinaus, die wir in ihrem rechten Teil heraufgestiegen waren. Wenig unter unsern Füssen löste sich das Seil vom Stein, um erst an die 40 Meter tiefer ihn wieder zu berühren. Es war eine schwindlige Luftreise. So rasch sie auch vonstatten ging, es blieb Zeit genug, eine ganze Stufenleiter von Gefühlen zu durchlaufen, von denen der Beklommenheit, des Zauderns, als das Seil unter dem Wulst sich zu drehen begann, die Landschaft des engen Couloirs kreiste und tief unten die Figürchen der Kameraden sichtbar wurden — bis zur ruhigen Gewissheit und der Freude am gelungenen Abenteuer.

Da standen wir nun, im grau aus dem Nebel sickernden Regen, an der Stelle, von der wir acht Stunden zuvor aufgebrochen waren. Wir hatten aber mehrheitlich das Gefühl, noch nichts geleistet zu haben, das zählte — die Abseilerei hatte uns nur gekitzelt und den Appetit gereizt. So einigten wir uns, den Vierer, der uns auf seinem Westgrat genügend lang hintangehalten hatte, noch vor Nachteinbruch auf seinem gewöhnlichen Wege zu ersteigen. Alles Entbehrliche blieb im Hornfellicouloir zurück. Eine etwas heikle Platte war zu traversieren, ein Kamin aus brüchigem Gestein erforderte viel Vorsicht. Immer nach links in die Scharte zwischen Vierer und Fünfer haltend, querten wir unmittelbar über einem mächtigen Kellergewölbe gegen die Gratschneide hinaus. Wir gingen an zwei Seilen, ich folgte mit Geni in den Fussstapfen von Hans und Mathis. Wir waren uns einig, dass die Kletterei an diesem Miniaturturm abwechslungsreich und ansprechend sei. Die Felsen waren angefeuchtet, die Dämmerung hereingebrochen. Wir stellten es fest im Voranstürmen, aber es beeindruckte uns nicht. Als wir an die Schlusswand kamen, aus deren scheinbarer Glätte zahlreiche Steinköpfchen hervorgucken, entwickelte sich ein Wettrennen. Vor den letzten Zacken kam es zum Stillstand. Auf ihrer nördlichen, überhängenden Seite hangelten wir entlang. Die Spitze war so scharf, dass wir uns auf ihr mehr aufgespiesst als sitzend vorkamen. Aus einer Büchse zog Hans ein Büchlein hervor. Er trug unsre Besteigung als vierte ein. Ausser den von ihm geführten Partien war noch keine darin verzeichnet.

Nebel verpackten die Grattürme in Watte, als wollten sie sie in ihrer Zerbrechlichkeit vor Erschütterungen bewahren. In schauerlicher Flucht stürzten die Platten der Südseite ins Bodenlose, eine die andere von oben her überdeckend wie die Schuppen vorsintflutlicher Reptile. Die Kante, auf der wir sassen, schnitt uns ins Fleisch. In umgekehrter Reihenfolge, da wir nicht aneinander vorbei konnten, begannen wir den Abstieg. Über den Kamin und die untere Platte seilten wir in die Schlucht ab.

Als wir uns dann mit unsern verschmähten Lasten ( wir hatten 2-3 Tage vorgesehen ) heimwärts wandten, war auch schon Zeit, die Laternen zu entzünden.

Salbitzahn, Salbitnadel und Turm V.

Wir waren in die Salbithütte hinüber gezogen. Es regnete, und der Nebel strich um das Haus. Einen Tag lang machten wir gute Miene zum bösen Spiel. Am Abend taten wir, als betreffe das Getrommel auf Dach und Scheiben irgend jemand anderen und rüsteten zur Fahrt. Um 4 Uhr tröpfelte es Die Alpen — 1940 — Les Alpes.14 nur mehr leis. Die Wolken hingen wie Säcke herunter, und die Nacht war schwarz. Wir schritten dem Südgrat zu, Hans kannte den Weg. Das Gras strich uns nass um die Beine, und die Luft roch nach Erde und Wasser. An Hansens Hand schlenkerte eine Laterne. Ihr dünner Schein glitt über die von ihrer Regenlast gebeugten Gräser.

Plötzlich öffnete sich wundersam der Himmel. In der blauen Öffnung schwamm gelassen und fern der Mond. Das Licht der Laterne verblasste, nur im Schatten zeichnete es sich rötlich ab. Mit einemmal war Helligkeit um uns. Wir sahen die grünen Hänge unter uns in einen weissen Wolkensee auslaufen. Er füllte das ganze Tal. Wir waren stehen geblieben, wie aus einem Traum gerissen. Vielmehr: wie in einen Traum hinabgerissen. Denn als der Vorhang wieder zugegangen war und die Nacht uns schwärzer als zuvor umfing, als wir im Halbschlaf über Gras und Steine weiter stolperten, da mutete uns der nächtliche Spuk schon wie ein Traum an. Die Erinnerung daran wirkte aber wie ein Versprechen in uns nach. Wir waren überzeugt, dass wir an diesem Tag noch unsre Kleider an der Sonne trocknen könnten.

Der Salbitzahn gab uns dann sehr zu schaffen. Ein Kamin löste den andern ab. Alle waren nass, glitschig. Wir kletterten mit klammen Fingern. Aufgeweichte Erde haftete an ihnen. Erde klebte auch an unsern Hosen. Wir erschienen uns selber unappetitlich. Ein trüber Morgen war angebrochen. Ohne grosse Lust arbeiteten wir uns höher. Schliesslich hatten wir es so gewollt. Was man einmal begonnen hat, einem vorausschauenden Plan zufolge, soll man einer Stimmung wegen nicht aufgeben. Stimmungen wechseln wie das Wetter.

Zwar war es um dieses noch nicht viel besser bestellt, als wir auf dem Scheitel unseres Zahns ankamen. Jenseits der Scharte schwang sich der damals noch unbegangene Südgrat auf und verlief sich im Nebel. So sehr Hans seit Jahren um den Westgrat warb, der Südgrat war wie seiner Aufmerksamkeit entgangen. Erst als die Brüder Amstad ihn überklettert hatten, fiel sein Auge auf ihn. Er reiste an einem Samstag desselben Sommers hinauf und vollführte bei Regen die zweite Begehung. Sein damaliger Begleiter, Albert Müller, hat die Tur zweimal wiederholt. Weckert nennt sie die schönste Kletterei in den Urner Alpen. Hans verglich sie mit der Fuorikante in der Bondasca.

Wir seilten uns in die Scharte ab. Die Hug-Kurz-Route, der wir von hier weg folgten, ist durch besonders schöne Einblicke in den Westgrat ausgezeichnet. Anfänglich gab es nicht viel zu sehen. Aber während wir, nach Umgehung des Südgratmittelstücks, in der grasigen Rinne der Westseite gegen die Schlusswand anstiegen, begannen die Türme sich ihrer Vermummung zu entledigen. Es sah sich an wie ein munteres Balgen zwischen Fels und Nebel, und lange war nicht auszumachen, wer die Oberhand behielte. Aber schliesslich erwehrte sich der Westgrat seines Widersachers. Der Nebel verkroch sich in die Täler, und der Himmel trat blank hervor. Noch während wir durch die Plattenflucht gegen Ostgrat und Gipfel anstiegen, verspürten wir die Feuer der Sonne im Rücken. Wir staken noch tief in der Wand, als vom Gipfel her eine Stimme Hans willkommen hiess. Er sah sich dann bei seiner Ankunft einem Kameraden gegenüber, mit dem er zwei Jahre zuvor im Bergell unterwegs war. Er hatte Hans an seinem gelben Meiringer Rucksack erkannt, der ihm heute wie damals unsymmetrisch über seiner linken Schulter hing. Ruedi erzählte uns sein Missgeschick. Ahnungslos war er über das Gletscherchen und die Geröllbänder der Nordseite heraufgestiegen. Als der Weg versprach, interessant zu werden, zog er die Kletterschuhe an. Aber wenige Meter danach landete er auf der Gipfelplattform. Ihn für seinen Gang zu entschädigen und auch unsren Tag auszufüllen, schien uns ein Besuch des obersten Westgratturms am geeignetsten. Zunächst aber setzten wir uns hin und rasteten. Herausfordernd züngelte die Gipfelnadel.

Ich hatte als Knabe in einem Alpenkalender ihr Bild gesehen, dem die Bemerkung, sie sei noch unerstiegen, besondere Anziehung verlieh. Das war sie nun ja nicht mehr. Aber was ich von Hans über ihre Besteigung vernahm, klang nicht ermutigend. Er pflegte sie mit der Rasicaschneide zu vergleichen, doch erklärte er die Salbitnadel für bedeutend « giftiger ». Während er in einem einzigen Sommer fünfmal auf die Rasica stieg, vor allem ihres berühmten Gipfelkopfes wegen, pflegte er bei seinen Salbitschynbesuchen die Nadel zu übersehen. Ich wusste noch nicht, dass bei ihm diese seltsame Überschätzung von einem früheren Eindruck herrührte: er konnte seine erste Begegnung mit ihr nicht vergessen. Er hatte damals ihre Kante rittlings überklettert und wäre fast ins Leere abgedrängt worden. Die Erinnerung daran ging ihm nach und liess ihn sie mit Respekt behandeln.

Ich hatte sie vor ein paar Tagen zum erstenmal zu Gesicht bekommen. Hans führte seine Frau über den Nordgrat zur Spitze. Je mehr wir uns ihr näherten, die wie ein mächtiges Kristallgewächs aussieht, aus dem ein besonders herrischer Geselle seine vorwitzige Nase streckt, desto unerbittlicher fühlte ich meine Kräfte auf eine Auseinandersetzung hindrängen. Ich hätte, als ich Hans das Seil hinwarf und begann, mich auf die erste und zweite Stufe hinauf zu ziehen, mit jenem Wort eines Offiziers auf die Frage, ob ich denn nicht nervös sei, antworten können: « Wenn du solche Angst hättest wie ich, würdest du den Gang sicher unterlassen. » Ist es nicht jedem von uns Bergsteigern zuweilen so ergangen?

Vom zweiten Stand in ein Drittel der Höhe weg — ich höre, ein Blitz habe ihn später abgeschlagen — setzen sich die Füsse auf der trittlosen Fläche links in Bewegung. Die Hände eilen der guten Schneide nach, der Körper ist weggestemmt, während man auf angepressten Unterschenkeln oder auch nur der flachen Sohle hinauf rutscht. Ehe ich mich 's versah, hatte ich den letzten Griff unter den Händen und konnte mich auf die schräge Plattform emporziehen, auf der man, je nach Geschmack, sitzend oder stehend seine Schwindelfreiheit erproben mag. Ich hatte mich auf eine ungleich härtere Probe eingestellt und kam mir vor wie ein Schüler, der sich auf ein schlimmes Zeugnis gefasst macht, aber lauter gute Zensuren vorfindet. Ich kletterte in derselben Weise hinunter.

Heute drückten wir uns an der Nadel vorüber und stiegen den Nordgrat hinab bis zur Scharte, in der das Hornfellicouloir als enger Schuttkanal seinen Anfang nimmt. Wir sollten in den nächsten Tagen, als wir mit Freunden in der so filmgerechten Gipfellandschaft vom Morgen zum Abend unsere Aufnahmen drehten, Gelegenheit genug erhalten, dem wunderlichen Zacken unsere Aufwartung zu machen und ihm Stücke des Nimbus zu entreissen, der ihn in unsern Augen immer noch kleidete. Sogar der Präsensoperateur Berna liess sich nicht nehmen, zu guter Letzt die Nadel selber zu erklettern und von ihrer Spitze herunter die Gesellschaft zu filmen.

Der Weg auf die Adlerspitze, den 5. Westgratturm, den Hans Graf und Hans Frei nach verschiedenen Versuchen schliesslich fanden, führt aus dem Hornfelli über brüchige Stufen nach der dem Turm grataufwärts gegenüber gelegenen Schulter. Eine Abseilschlinge weist die Richtung. Über der brodelnden Tiefe wird abgeseilt, bis man sich, nach links pendelnd, über den Klemmblock weg auf die Gratkante ziehen kann, die wie ein Dachfirst an den Fünfer heranführt. Ein paar Meter kletterten wir senkrecht hoch, dann nahm uns der Riss auf, der die Ostseite der Adlerspitze spaltet und zwischen den Schnäbeln mündet. Der Nebel kam wieder an den Wänden herauf gekrochen, wogte unstet hinüber und herüber, erhob unbeachtete Zacken in den Rang von ansehnlichen Türmen und hängte uns Wasserstäubchen an Kleid und Haar. Die Platten der Südwand schienen in seinem vereinfachenden Lichte wie Prismen geradlinig gebrochen, und ihre sich überschneidenden Linien muteten an wie die Vision eines Kubisten. Auch auf diesem Gipfel zog Hans aus dem Fels ein Büchlein hervor und notierte unsern Besuch. Er bekam den vierten Platz, wie für den Vierer wahrte auch für diese Spitze Hans das Führungsmonopol. Eine fünfte Besteigung sollte wenige Tage später eingetragen werden, als wir, von Berna gefilmt, der Zacke einen neuerlichen Besuch abstatteten. Heute dürfte seine Besteigung keine Seltenheit mehr sein. Sie kann vom Gipfel aus in einer Stunde bewerkstelligt werden.

Im Abstieg zieht man sein Seil durch die Schlinge im Klemmblock zwischen Dachfirst und oberer Abseilwand. Der Antritt der Luftreise wird einem nicht leicht gemacht. Hängt man aber einmal sicher im Seil, so mag einen nicht verdriessen, dass die Wand mehr und mehr zurückbleibt. Vielleicht ergötzt man sich sogar, während man lautlos zur Tiefe gleitet, daran, dass zwischen der schräg gestellten Mauer, auf deren First man sich vorhin noch erging, und dem kompakteren Gratstück linker Hand ein Spalt erhalten geblieben ist, durch den der Himmel herein guckt. Mit einem leisen Bedauern auf den Lippen, dass die Reise nicht länger ging, landet man nach fünfzehn Metern im nischenartigen Unterschlupf.

Als wir im Nachmittag zur Salbithütte zurückkehrten, fand Hans eine Schar Zürcher Freunde vor. Sie luden uns ein, zum Filmen zu bleiben. Wir blieben gerne ein paar Tage. Dann reisten wir weiter ins Bergeil.

Gedanken.

Leicht lässt sich am Salbitschyn die Entwicklung des Bergsteigens verfolgen. Schon die Tatsache, dass hier das Beiwerk, die Zacken und Türme im lässig zur Spitze sich aufschwingenden Grat, von vielen wichtiger genommen werden als der zentrale und überragende Gipfelpunkt, mag auf- schlussreich erscheinen. Sie ist charakteristisch für eine Bergsteigergeneration oder, vorsichtiger ausgedrückt: eine Bergsteigerrichtung, für die das sportliche Element im Alpinismus an Bedeutung gewonnen hat. Müssen wir sagen: auf Kosten des ästhetischen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Empfänglichkeit für ästhetische Eindrücke bei diesen Leuten an die Voraussetzung besonders intensiver sportlicher Betätigung gebunden ist und dass heute Landschaften, die früher Grauen oder Furcht hervorgerufen hätten, in den Bereich des Schönen miteinbezogen sind und als ansprechend empfunden werden? Viele sind durchaus geneigt, darin eine Bereicherung zu sehen, bedauern aber das « Überhandnehmen der sportlichen Tendenzen ». Bedeutet dieses wirklich den Niedergang des Bergsteigens? Ich möchte hier nicht auf Überlegungen eingehen, die mir verquickt scheinen mit der Frage nach dem grösseren Wert von Tat oder Beschaulichkeit. Man findet übrigens bei Maduschka, Mazzotti und andern genug Belege, dass auch auf modernen Fahrten die Kontemplation sich mit der Aktion verträgt. Ebensowenig möchte ich untersuchen, inwieweit in der Pionierzeit eigentliche Erschliesser-absichten an Stelle der heutigen sportlichen Tendenzen treibend waren und das Bergerlebnis belasteten. ( Wie lässt sich etwa die Tatsache erklären, dass von den repräsentativen Gipfeln drei Viertel durch Engländer erschlossen wurden, wenn nicht aus der alten erschliessenden und erobernden, letztendlich imperialistischen Tradition dieses Volkes heraus ` I ) Es genügt mir, auszusprechen, was für viele längst zum Gemeinplatz geworden ist, dass eine sportliche Auffassung vom Bergsteigen, vorausgesetzt, dass sie nicht eine nur-sportliche ist, dieses keineswegs entwertet. Als Zeugen dafür mag man jenen Mann anführen, der wie kein zweiter an der Erschliessung der Kletterwege am Salbitschyn beteiligt war: Hugo Müller. Man lese seine Salbitschyn-monographie im Jahrgang 1927 der « Alpen ».

Mit der Erkletterung des Turms II errang Müller seinen schönsten Erfolg. Niemand ist es meines Wissens eingefallen, ihm den Erstersteigertitel für diesen Berg streitig zu machen, weil er nur den niedereren Westgipfel betrat, der kaum mehr als die Schulter ist, von der sich der letzte Pfeiler aufschwingt. Ist das nicht ein schönes Zeichen für jene sportlich sicher gewandteren Nachfolger?

Wo reihen wir heute diese Tur ein? Sie ist jener Nachklassik des Alpinismus zuzurechnen, die sich im wesentlichen mit neuen Wegen und Sekundär-gipfeln befasste und über der die Namen Mummerys und Kluckers stehen. Der Requin und die Ago di Sciora mögen sich zum Vergleich aufdrängen. Allerdings, gerade da wird man gewahr, dass der Turm II doch einen Schritt voran bedeutet. Die Kletterei ist durchgehender delikat, die Griffe sind dürftiger, die Tritte bemessener. Die ganze Fahrt ist zwar noch ohne Haken ausführbar, doch dürften ihrer wenige sein, die nicht beim Quergang oder vor dem Spreizschritt ihren Karabiner in einen der dort angebrachten Ringe schnappen liessen. ( Wer seiner Sache so sicher ist, dass er ihrer entraten will, möge daraus nicht einen Anspruch auf moralische Überheblichkeit herleiten. Geschändet wird der Berg durch diese Zeugen menschlicher Schwäche nicht. ) Noch weniger ist man bei einer Ersteigung der Türme IV und V auf Haken angewiesen. Und doch weisen sie in eine spätere Epoche des Alpinismus. Schon durch ihre Winzigkeit, die früher kaum Anstrengungen zu einer Erkletterung gerechtfertigt hätte. Besonders aufschlussreich ist der Anstiegsweg des Fünfers. Hier wird zuerst eine ebenso hohe Gratstufe gegenüber betreten. Von ihr aus gelangt man abseilend und pendelnd an den Fuss des Zackens. Dieser Umweg zum Ziel dünkt mich ein ziemlich schlüssiges Kriterium. Mit der Bezwingung des Südgrates und dem Versuch, den Westgrat mit Hilfe von Materialdepots in den Gratscharten samt den Verbindungsstrecken von Turm zu Turm zu bewältigen, gehört die Erkletterung dieser Türme — auch wenn die Schwierigkeiten der Unternehmungen nicht miteinander zu vergleichen sind — in die Nachkriegszeit, des Alpinismus.

Hugo Müller hatte sich jenen Aufgaben zugewandt, die ihm die zweite Epoche des Alpinismus zu lösen gelassen hatte. Hans Frei wurde zum Repräsentanten der dritten Epoche an diesem Berg. Zu wiederholten Malen erkletterte er an einem einzigen Sonntag sämtliche Westgrattürme vom Zweier weg. Seine Versuche, dies ohne Zwischenabstiege in die Hornf elli-rinne in ständiger Verfolgung des Grates zu bewerkstelligen, kamen über die Bewältigung einzelner Verbindungsstücke nicht hinaus. Jedes Jahr begann er unentwegt aufs neue. In grossartiger Versessenheit verschmähte er billige Erfolge in andern Gebieten. Diesen Grat hatte er sich ein für allemal in den Kopf gesetzt. Es blieben Versuche am untauglichen Objekt. Diese gewaltige Treppe rechnet mit andern als den menschlichen Dimensionen. Man müsste seine Beine über die Ohren heben können, um sie zu beschreiten.

Nordwestlicher Blauberg.

Von den Höhen des Salbitschyn wanderte unser Blick oft über das Göschenertal hinweg zu den blauen Bergen im Süden, deren einer wirklich den Namen Blauberg führt. Hans wusste von ihm zu berichten, dass er einen sehr hübschen Nordgrat habe, und wir kamen überein, ihn einmal zusammen anzugucken. Als wir so weit waren, schrieb man bereits den September 1936.

Wie es uns in diesem Gebiet so oft widerfuhr, wob der Nebel seine grauen Schleier über den Anfang. Die Fenster des Coupés waren von Regenschauern überronnen, und nur verzerrt und entstellt sah durch sie das Draussen herein. Der Göschenerbach wälzte Hochwasser, aber ich war von unbeirrbarer Zuversicht. Das waren auch die drei Kameraden, die ich auf der Göscheneralp vorfand. Bis zum Tagesanbruch drang ein gleichmässiges Rauschen durch die offene Tür in unsern Heuschober; dann verstummte es. Wir hängten die Säcke über und folgten dem Pfad gegen die Alpiglenlücke. Links haltend gelangten wir an den Fuss des NW-Grates. Hier entledigten wir uns der Schuhe.

Die Kletterei hub gefällig und unterhaltsam, aber noch nicht sehr einfallsreich an. Durch eine Rinne und über Platten kamen wir ohne Zaudern hoch. Eine Seillänge nach der andern lief überraschungslos ab, und halb erleichtert, halb enttäuscht meinten wir schon, den Stachel der Ungewissheit an diesem Tag nicht zu spüren zu bekommen. Da schlug das Brio des Spiels brüsk in ein Appassionato um.

Schon vom Einstieg her war uns die spitzwinklige Platte aufgefallen, die wie ein gebeugtes Knie in Gratnähe aus der Wand herausspringt. Ihr standen wir nun unmittelbar gegenüber. Durch einen Spalt, der im Leeren mündet, ist sie vom Berg abgesprengt. In ihm würgte Hans sich hoch. Richi, mit ihm durch das Seil verbunden, schien ordentlich zu krampfen. Dann verschwanden die beiden aus dem Blickfeld, und wir mussten uns sputen, wollten wir den Anschluss nicht verlieren. Ich spreizte hinüber und presste das linke Knie möglichst tief in den Spalt hinein. Die rechte Körperhälfte suchte an der Aussenseite und der abgeschliffenen hinteren Kante Unterstützung. Ich schindete und wand mich, und während mein Blick zum Einstieg hinab irrte, fand ich, es dürfte sich wieder einmal ein Griff einstellen. Schliesslich ertasteten sich die Finger etwas dergleichen, und mit einer gern geleisteten Schlussanstrengung zog ich mich aus dem Schacht. Mit Verständnis und Anteilnahme folgte ich dann den Bemühungen meines Kameraden, der sich abwechselnd aufs Streicheln und Strampeln verlegte, damit aber keinen sehr überzeugenden Sieg erfocht.

Die zweite « schöne Stelle » war weniger anstrengend. Im Gegenlicht, mit heller Kontur gegen den schattigen Fels abgegrenzt, verschwanden Hans und Richi in einem hohen Spalt. Ich begriff erst, als ich dran war, weshalb es so langsam ging. Der Kamin ist sehr glatt und etwas zu eng, als dass man sich richtig entfalten könnte. Während ich stemmend nach rechts querte, öffnete sich unter mir eine beträchtliche Tiefe. Am jenseitigen Rand der Kluft musste der Halt der Rückenwand aufgegeben werden. An kleinen Griffen hat man sich an die Gegenseite hinüber- und an ihr hochzuziehen bis zu einem Stand rechts aussen. Von einem Podestchen am Rand des Spalts sah der Kamerad durch seine Brillengläser verwundert zu mir hoch, ehe ihn die Verlockung ankam, herüber zu spreizen. Dann nahmen wir die Verfolgung unserer Vorderleute wieder auf.

Wir erreichten Richi im Schatten einer Höhle am eigentlichen Gipfelbau. Das Seil wies über eine glatte Stufe und ein Band nach links hinaus auf die Nordseite. Als ich dann dort auf schmaler Kanzel anlangte, tasteten meine Hände ratlos den Fels ab. Es handelte sich offenbar um die letzten Meter. Über mir sassen Hans und Richi, doch der Weg zu ihnen war mir noch unklar. Hans offerierte mir das Seil, aber ich wies es stolz zurück. Anfänglich schienen mir die Angriffspunkte zu minim. Als ich aber den Versuch machte und mich ihnen anvertraute, siehe, da ging es. Bald wimmelte es von Griffen. Da war ich aber auch schon oben. Dies dünkte mich die dritte « schöne Stelle ».

Zuweilen trat der Feldschyn aus dem Nebel, ein verrirrter Lichtblitz erreichte sogar den Gletscher zu unsern Füssen. Wir verliessen die kühne Spitze bald, seilten auf das Band ab und querten in die Höhle. Es war dann noch eine nette und vergnügliche Kletterei hinüber zum mittleren Blauberg.

Eigentlich war es unser Vorhaben gewesen, den ganzen Stock zum Feldschyn zu überschreiten. Der verspätete Aufbruch und der Gedanke an die Heimkehr im Extrazug hatten uns aber davon abgebracht. Wir lagerten uns deshalb auf die tellerebene Gipfelplatte und liessen den Herrgott einen guten Mann sein. Die Sonne strahlte bereits mächtig zu uns herab. Ringsherum brannte sie dem Nebel Löcher ins Gewebe, und in den Lücken begannen Wände sich hochzurecken, Spitzen hinaufzuzüngeln. Der Tag schickte sich an, blau und strahlend zu werden. Auf der Gipfelplatte lagen wir wie in einer schützenden Hand eine wunschlose Stunde lang.

Es war die letzte Gotthardhöhe, die ich mit Hans Frei betrat. Im kommenden Sommer, im Monat Mai, ereilte ihn der Tod in der Südwand des Ruchenfensterturms.

Feedback