Weihestunde
Ein Sonnenaufgang in den Bergen. Von Walter Hess.
Einsam stehe ich oben auf der hohen Warte und schaue ins Land hinaus Ein feiertäglich stiller Friede herrscht ringsum. Unwirklich sind die Bergumrisse; wie kalte, weisse und graue Massen liegen die Berge am Himmel. Ich weiss es nicht genau, ob es wirklich Berge sind; denn in der fahlen Dämmerung fliessen die Nähen und Weiten in eins: Der Fels, auf dem ich stehe, geht unmittelbar über in das Tal tief unter mir. Alles ist so blass und lebenslos. Die Berge in ihrem geisterhaften Weiss sehen aus wie Wolkengebilde. Soweit mein Blick reicht, nichts als ein phantastisches Gebilde von Linien und Flächen! Ich ahne zwar, wie die Linien zusammenhängen, und einzelne graue Flächen erkenne ich als die Felsen mir bekannter Berge.
Was ich sehe, ist ein duftig Bild von nebelzartem Weiss und nächtlichem Grau. Und darüber liegt leise und durchsichtig ein feiner Schleier, wie ein Hauch aus dem Paradiese. Es ist mir, als liege ich an einem unendlichen Meer, dessen wilde und schrecklich hohe Wogen vor einiger Zeit plötzlich erstarrt sind.
Kein Laut ist hörbar. Hier herrscht das Ewige, der Friede. Über mir glänzen friedlich die Sterne am dunkeln Nachthimmel. Einsam stehe ich da und glaube zu träumen.
Die Luft ist nächtlich kühl und feucht. Mich fröstelt. Und fester hülle ich mich in meine Windjacke. Die Natur liegt in tiefem Schlummer. Nur ein leises Wehen geht durch die Luft, und mir ist es, ich höre irgendwo seufzen. Vielleicht seufzen die Berge im Traum. Immer deutlicher klingt aus der Ferne ein wehmütiges Lied. Es singt von Hoffnung und von Erlösung. Ich glaube, ich bin ins Märchenland geraten, in Dornröschens verzaubertes Schloss: Alles liegt da in tiefem, tiefem Schlaf. Doch durch die träumenden Blätter der schlafenden Bäume geht ein leises Säuseln. Und das Säuseln singt von Erlösung und vom Auferstehen, es singt vom erlösenden Kuss, der wieder Leben bringen wird. Und hier stehen die Berge da, leblos und still. Sie träumen vom Augenblick, wo sie durch den Kuss der Sonne wieder zum Leben erweckt werden. Voll Sehnen und voll unerschütterlich tiefem Glauben warten sie stille auf den Glanz und auf die Schönheit, mit denen die Sonne sie bald überschütten wird. Wehmütig und zart singen die Berge von der Sehnsucht nach Licht und Wärme. Ihr Lied erzählt vom Glauben an die Erlösung aus der Finsternis.
Auch ich werde von der Feierlichkeit des Augenblickes ergriffen. Ich wage kaum zu atmen. Wie zwischen Traum und staunendem Erwachen stehe ich da und warte mit den Steinen und Felsen auf den festlichen Moment, wo die Sonne, die strahlende Sonne ihren Gang über die Erde antreten wird.
Langsam wird es heller am östlichen Himmel. Die Sterne verblassen nach und nach. Ein helles, silberweisses Licht quillt langsam aber stetig von Osten her in die graue Landschaft. « Die Sonne, die Sonne! » flüstern die Berge und raunen die Täler. Eine freudige Erregung nimmt alles gefangen. Die Natur zittert fast vor Freude an der kommenden Sonne. Die leuchtende, morgendliche Helle schwillt immer stärker an. Berge und Spitzen und Gräte werden nach und nach deutlicher, immer schärfer heben sie sich vom duft-klaren Horizonte ab. Schlanke Spitzchen werden sichtbar und streben kühn nach oben. Breite Bergrücken scheinen gewichtig zu schweben auf den Wogen des Morgendunstes. Allenthalben liegt bereits ein fröhlicher Glanz...
Wie ein Herold in rotem Mantel steht die Morgenröte am Morgenhimmel und verkündet das Erscheinen der strahlenden Sonne. Ein Rosenschimmer liegt über der Erde... Und langsam, ganz langsam steigt die Sonne am fernen Horizont empor. Verborgene Engelein haben sie unserer Erde wieder gegeben...
Da und dort wird in dem wirren Gewirr von Gräten und Zacken ein Spitzlein von den ersten Strahlen geküsst. Vor Freude leuchtet es hell auf: Es ist überglücklich, dass die Sonne es immer noch lieb hat. Es glänzt in leuchtender Freude! Ob dem Morgenkuss ist es erwacht aus tiefem Schlaf. Es hat die Bande der Finsternis abgeschüttelt. Es dehnt und reckt sich! Und frei und hell und glänzend steht es da!
Hier, dort, überall beginnt ein Blinken, ein Leuchten, ein Schimmern und Glänzen! Überall regt es sich! Die Berge drängen der Sonne entgegen. Sie sind ungeduldig wie Kinder. Sie suchen sich gegenseitig auf die Seite zu stossen. Jede Spitze möchte als erste von der Lebensspenderin begrüsst werden. Und wenn auch noch so viele Gipfel und Zäcklein, Gräte und Halden auf die Sonne warten, keines wartet vergebens! Jedes bekommt seinen Teil an der strahlenden Wärme.
Blendend leuchtet die Sonne auf im Schnee der Berge... Mächtig bricht sich das ewig glühende Feuer Bahn. Die Schatten flüchten sich in die Täler. In hellen Bächen ergiesst sich das hellflüssige Gold über die Landschaft. Und bald liegt es überall verschwenderisch hingestreut, das Gold der Morgensonne... Die Luft glimmert und zittert von Sonne. Nacht und Finsternis sind vergessen und verschwunden. Das Tote wich dem Lebendigen.
Der Tag ist wach geworden. Allenthalben jubelt und klingt es.von Sonne. Die Berge scheinen ihr Haupt zurückzuneigen, um die glühenden Strahlen stille über sich hinfluten zu lassen... Der Tag ist mächtig geworden. Und die Schönheit Gottes prangt über dem Gottesgarten. Auch mein Herz will hell werden und gläubig wie die Berge.