Wenn der Berg stärker war
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Wenn der Berg stärker war Wer scheitert, kommt weiter

Beim Bergsteigen streben wir nach dem Gipfel und schmücken uns mit den Erfolgen. Was aber, wenn wir umkehren müssen? Scheitern ist die Kehrseite sonnigen Gipfel­glückes – es kann uns aber auch weiterbringen.

Im Juni 2006 brechen die Spitzenbergsteiger Stephan Siegrist und Ueli Steck mit einem neunköpfigen Team in den Karakorum auf. Ziel ist der Gasherbrum-II-Ostgipfel, 7772 Me­ter hoch. Zum 70. Jahrestag der Erstbesteigung wollen die Alpinisten den Gipfel über eine neue Route bezwingen. Doch die prekären Schneeverhältnisse machen ihnen einen Strich durch die Rechnung: Ein Teammitglied wird beinahe von einem Schneebrett mitgerissen. Sechs Bergsteiger steigen ab, nur drei wagen den neuerlichen Versuch und erreichen den Gipfel. «Erfolgreicher Trainingslauf in der Todeszone», titelt die «Jungfrau Zeitung» bald darauf. Das Bild zeigt Ueli Steck auf dem Ostgipfel. Nur am Rand erwähnt werden jene sechs Bergsteiger, die umgekehrt sind, weil sie den Schneeverhältnissen nicht trauten, darunter Stephan Siegrist.

Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, und nichts steht so eindeutig für Erfolg wie ein Gipfelfoto: Man ist ganz oben, weiter geht es nicht. Dass hinter dem Gipfel der Abgrund lauert, dass der Grat zwischen Erfolg und Niederlage selten schärfer ist als am Berg, wird oft ausgeblendet. Dabei scheitert früher oder später jeder. Sein Scheitern am Gasherbrum II bezeichnet Stephan Siegrist noch heute als prägende Erfahrung: «Ich stand als Loser da», erinnert er sich. Selbstzweifel kamen auf. Wie sollte er das dem Sponsor beibringen? «Ich bin eben nicht mehr 20, wahrscheinlich müsst ihr euch einen andern suchen.» Solche Erklärungen legte er sich auf der Heimreise zurecht.

 

Das Problem der Zielfixierung

Scheitern kann hart sein. Der Speedrekordhalter in der Eigernordwand, Dani Arnold, musste im Winter 2012/13 am Cerro Torre umkehren: «Wir hatten taktische Fehler begangen, eine falsche Route gewählt.» Umzukehren, so erzählt Arnold, war in diesem Moment ein sachlicher Entscheid. Das Gefühl, gescheitert zu sein, kam erst später: «Das war dann natürlich schon Mist.» Noch vertrackter wird es, wenn man aufgrund eines Bauchgefühls umkehrt. Bei seinen ersten beiden Rekordversuchen am Eiger stieg der Urner gar nicht erst in die Wand ein. Er hörte auf seinen Bauch und blieb im Tal. «Das war schwieriger zu verarbeiten», erinnert er sich.

Wenn Menschen scheitern, fällt die Reaktion unterschiedlich aus. Einige sind wütend oder enttäuscht, kommen ins Grübeln, fühlen sich inkompetent und wagen das nächste Mal weniger oder zu viel. Oder sie ziehen sich gar ganz vom Sport zurück. Die Reaktion hängt davon ab, wie man den Misserfolg einordnet – letztlich scheitert jeder an der eigenen Messlatte.

Für die Sportpsychologin Romana Feldmann bedeutet Scheitern, «das Ziel nicht zu erreichen, das wir uns gesetzt haben». Und weil beim Bergsteigen das Ziel meistens der Gipfel ist, wird Umkehren oft mit Scheitern gleichgesetzt. Sich von dieser Gipfelfixierung zu lösen, sei schwierig, aber wichtig, urteilt Feldmann. Verschiedene Faktoren erschweren die Zielablösung. So ist die Motivation beim Bergsteigen intrinsisch, man tut es um seiner selbst willen. Mit einer grösseren Tour setzt man sich lange auseinander, dadurch wird die Fixierung auf das Ziel wichtig. Am Umkehrpunkt war man schon einige Stunden unterwegs, was den Abbruch nicht leichter macht.

 

Und dann noch der Erfolgsdruck

Bei den Profis kommt der Erfolgsdruck hinzu. «Als ich das Bergsteigen zum Beruf machte, wurde Scheitern schwieriger», sagt Siegrist. Auch Dani Arnold kennt Erfolgsdruck: «Ich spüre ihn am besten, wenn ich ein Projekt geschafft habe und der Druck von mir abfällt.» Beide Sportler beteuern indes, ihre Sponsoren hätten nie Druck auf sie ausgeübt – eher machten sie ihn sich selbst, weil sie dem Sponsor eine Gegenleistung bieten wollten. Siegrist erwähnt auch die «sehr schnellen» sozialen Medien. Sie transportierten Erfolg und Misserfolg unmittelbar und würden den Sportler so schon am Berg unter Druck setzen. Arnold sagt: «Am einfachsten ist es, wenn keiner weiss, was du machst.»

Aber muss Umkehren überhaupt Scheitern bedeuten? Die Österreicherin Gerlinde Kaltenbrunner, die als erste Frau alle Achttausender ohne Flaschensauerstoff bestiegen hat, sagt, sie sehe im Umkehren kein Scheitern mehr. 2010 verlor sie bei ihrem zweitletzten Versuch am K2 einen engen Freund. «Das war für mich echtes Scheitern. Eine Situation, die ich als tief greifenden Verlust erlebt habe.» Der Tod – sei es der eigene oder der eines Kameraden – als absolutes Scheitern? Kaltenbrunner brauchte lange, bis sie sich entschloss, an den K2 zurückzukehren. «Ich musste lernen: Wir alle gehen freiwillig da hinaus. Es geht weiter», sagt sie.

 

Scheitern ist Teil des Erfolgs

Der Abenteurer Thomas Ulrich stand 2006 kurz vor dem Tod: Beim Versuch, die Arktis zu Fuss zu durchqueren, trieb seine Eisscholle ab. Er geriet in einen Schneesturm und kämpfte vier Tage ums nackte Überleben. «Die ersten Stunden da draussen reagierte ich nicht gut», sagt er: «Panik. Selbstvorwürfe. Ich hinterfragte alles.» In letzter Konsequenz sei er aber nicht gescheitert. Seine Erfahrung habe damals einfach noch nicht ausgereicht, nun möchte er die Arktisquerung erneut versuchen. «Scheitern bringt dich weiter», sagt Ulrich.

Und hier laufen die Fäden zusammen, denn nicht nur Ulrich sieht im Scheitern auch Positives. «Scheitern holt dich auf den Boden zurück», sagt Siegrist. «Scheitern gehört dazu», meint Kaltenbrunner. «Scheitern ist einfach Teil des Erfolgs, ein Lernprozess», so Arnold. Sie alle sehen Scheitern letztlich als etwas Wichtiges, das zum Bergsteigen dazugehört. Soll Scheitern also gar nicht so schlimm sein? Der Berner Bergführer Mischu Wirth sagt, er sei dann gescheitert, wenn er mit Gästen ins Tal zurückkehre und diese total kaputt und gefrustet seien. Als junger Führer habe er den Fehler gemacht, seinen eigenen Leistungswillen auf den Gast zu projizieren – und es als Scheitern empfunden, wenn dieser dann auf den Gipfel verzichten musste. Heute sei ihm klar: «Man kann die Leute an ihre Grenze heranführen, aber nie darüber hinaus.» Wenn ein Gast im Himalaya den «Tunnelblick» kriege und in der Todeszone nicht umkehren wolle, müsse er als Bergführer hart bleiben. Die Erkenntnis ist in diesem Fall banal: Scheitern sei angesichts der Todesgefahr im Sinn des Gastes, auch wenn dieser das anders sehe. «Dass man Ziele nicht erreicht, ist ein integraler Bestandteil des Führens.»

 

Misserfolge konstruktiv genutzt

Ob man den Gipfel als Ziel erreicht, ist nicht entscheidend. Wichtiger ist, wie man damit umgeht, wenn man das Ziel verfehlt. Die Frage ist: Wie scheitert man richtig? David Hohl muss es wissen, in seine Kletterroute Ultime Souffrance (9a) in St. Loup ist der Romand wohl über 1000 Mal eingestiegen, ehe er sie punkten konnte. Wie ist es ihm gelungen, all die kleinen Misserfolge konstruktiv zu nutzen? «Wenn du dich auf die Suche nach der Ursache des Scheiterns konzentrierst, dann hilft das», sagt Hohl. «Lösungen finden statt Ausreden suchen», beschreibt er seine Strategie. In der Psychologie spricht man von einem Debriefing: Was ist schiefgelaufen? Was habe ich falsch gemacht? Was kann ich ändern? Als hilfreich bezeichnet die Psychologin Romana Feldmann auch, sich einzelne Handlungsziele zu setzen. David Hohl etwa teilte sich seine Route von Beginn an in einzelne Sektionen ein und fokussierte sich dann darauf, eine Lösung für den entscheidenden Zug zu finden.

Schliesslich ist Scheitern ein sozialer Prozess, auch wenn jeder an den Zielen scheitert, die er sich selbst gesetzt hat. In der Leistungsgesellschaft, die nur denen zujubelt, die zuoberst auf dem Gipfel stehen, ist es umso wichtiger, dass die Gescheiterten nicht vergessen gehen. Als Stephan Siegrist 2006 vom Gasherbrum II zurückkehrte, lud ihn der Chef seines Sponsors zum Mittagessen ein und beruhigte ihn: «Erstens verkaufen wir Sicherheit, und zweitens nützt du uns nur, wenn du wieder zurückkommst», meinte er. Es war ein emotionaler Moment für Siegrist: «Dieser Rückhalt gab mir Mut und Auftrieb, weiterzumachen», so erzählt der Berner. Dieser «Lehrblätz» habe ihm seither immer wieder geholfen, mit Misserfolgen umzugehen. Eine wichtige Erkenntnis, nicht nur für die Zukunft des Sports: «Vor allem den Jungen muss klar sein, dass sie scheitern dürfen», meint Siegrist. Denn nur, wer nach einem Sturz aufsteht, kann auch weitergehen.

Berge im Kopf

Ab Februar läuft in den Deutschschweizer Kinos der Dokumentarfilm Berge im Kopf und ab März auch in den Kinos der Romandie. Darin werden unter anderen Stephan Siegrist und Dani Arnold porträtiert. Mehr zum Film auf Seite 46.

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