Wie ein Lawinenairbag uns beeinflusst
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Wie ein Lawinenairbag uns beeinflusst Risikobereitschaft mit Lawinenairbag

Ein Lawinenairbag kann Leben retten. Doch treibt er uns gleichzeitig dazu, höhere Risiken einzugehen? Die neusten Ergebnisse aus der Forschung zeigen: Ja – aber nicht alle von uns gleichermassen.

Langsam zieht Michael vor mir Spuren in den frischen Schnee. Elf Monate ist es her, seit er sich bei einem Lawinenunfall den Oberschenkel gebrochen hat. Michael ist der neuste Eintrag in meiner persönlichen Statistik, die die weisse Gefahr über die Jahre immer näher an mich herangebracht hat: Freunde und Bekannte haben ihr Leben in Lawinen verloren oder sind mit einem blauen Auge davongekommen. Mit jedem neuen Eintrag frage ich mich ein bisschen lauter: Soll ich mir nun einen Lawinenairbag anschaffen?

Das Phänomen Risikokompensation

Technisch hat sich bei Lawinenairbags in den letzten Jahren nicht viel verändert. Nach wie vor stehen die herkömmlichen Systeme mit austauschbaren Kartuschen sowie jene mit eingebauten Ventilatoren zur Auswahl. Bislang habe ich mich für keines dieser Systeme entschieden, denn eine zentrale Frage plagt mich: Werde ich mit einem Lawinenairbag risikoreichere Entscheidungen treffen? Die Wissenschaft nennt dieses Phänomen Risikokompensation. Bei der Einführung von Sicherheitsgurten im Auto wurden dieselben Bedenken laut: Fahren wir plötzlich schneller Auto, wenn wir Sicherheitsgurte haben?

Die Theorie besagt, dass wir Menschen möglicherweise nicht danach streben, unser Risiko zu minimieren, sondern es lieber optimieren – bei bestmöglichem Ertrag. Auf der Skitour ist der Ertrag die berauschende Abfahrt. Doch nicht alle Sicherheitsmassnahmen führen immer gleichermassen zu Risikokompensation. Gemäss der Theorie erhöhen vier Faktoren die Wahrscheinlichkeit, dass wir unser Risiko (über-)kompensieren: wenn die Sicherheitsmassnahme deutlich sichtbar ist; wenn sie einen direkten Effekt auf mich hat, zum Beispiel bezüglich Komfort; wenn sie in direktem Zusammenhang mit meiner Motivation steht, eine Aktivität auszuführen; und wenn ich während der Aktivität freie Kontrolle über mein Handeln habe.

Huhn oder Ei: Airbag und Risikofreudigkeit

Ein Lawinenairbag erfüllt alle vier Kriterien für eine verstärkte Risikokompensation. Er ist deutlich sichtbar und bringt durch sein zusätzliches Gewicht einen gewissen Nachteil mit sich. Ist meine Motivation eine möglichst berauschende Abfahrt, so habe ich ein erhöhtes Interesse an der Risikoreduktion mittels Airbag. Und letztlich stehen wir beim Aufstieg und bei der Abfahrt immer wieder vor Entscheidungen: direkt und steil oder flach mit Umweg? Pulverschnee in der steileren Nordwand oder lieber Bruchharsch auf dem flacheren Südhang?

Doch wissenschaftlich zu testen, wie stark unsere Entscheidungen auf Skitouren vom Effekt der Risikokompensationbeeinflusst werden, ist nicht leicht. Einsicht in unser Verhalten lässt sich am einfachsten mit Fragebögen gewinnen. Und so sind Studien der letzten Jahre immer wieder zum Schluss gekommen, dass Skitourengänger und Freerider mit Lawinenairbag dazu neigen, mehr Risiko einzugehen. Aber Pascal Haegeli, Assistenzprofessor an der Simon-Fraser-Universität in Vancouver, Kanada, und Autor einer neuen Studie, mahnt zur Vorsicht: «Es genügt nicht, lediglich Leute, die einen Airbag besitzen, und solche, die keinen besitzen, zu befragen und dann ihre Antworten zu vergleichen. Damit decken wir möglicherweise nur auf, dass risikofreudigere Skifahrer eher einen Airbag haben.»

Mit oder ohne Airbag – wie entscheiden wir?

Zusammen mit Reto Rupf und Barbara Karlen von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften hat Pascal Haegeli eine neue Studie gestaltet, die dieses Problem umgeht. Zentraler Teil der Studie waren acht realistische Entscheidungssituationen, in denen die 406 Teilnehmenden aufgrund von zwei Fotos und einer vorgegebenen Lawinengefahrenstufe die bevorzugte Abfahrt wählen mussten. Die Fotos repräsentierten die Faktoren Steilheit, Hanggrösse, Geländebeschaffenheit (Wald, Couloir usw.) und Anzahl vorhandener Spuren. Zusätzlich wurden allen Teilnehmenden Fragen zu ihrer Person, zu ihrem skifahrerischen Können, zu einer möglichen Beteiligung an Lawinenunfällen, zu ihrer Risikofreudigkeit und zu ihrer Motivation gestellt. Rund 40% von ihnen gaben an, einen Airbag zu besitzen. Um zu testen, wie wir mit oder ohne Airbag entscheiden, wurde den Airbagbesitzern nach der Hälfte der Fragen gesagt, sie hätten nun keinen Airbag mehr. Für die Testgruppe, die angab, keinen Airbag zu besitzen, wurde das Szenario gedreht: Sie musste die Hälfte der Fragen im Wissen beantworten, dass sie nun mit Airbag unterwegs ist. Aufgrund der persönlichen Angaben der Befragten konnten Pascal Haegeli und sein Team die Verhaltensweisen statistisch vergleichen.

Auf der Suche nach dem Adrenalinkick

Grundsätzlich zeigt die Studie, dass Airbagbesitzer tendenziell schwierigeres Gelände mögen, bezüglich Lawinen besser ausgebildet sind, leidenschaftlicher Ski fahren, vorzugsweise freeriden und eher männlich sind. Zusätzlich ergeben die Resultate, dass Personen nach dem Kauf eines Lawinenairbags etwas häufiger in Lawinenunfälle involviert sind. Entscheidend ist aber, dass der Anstieg nicht alle Schneesportler gleich betrifft. «Wir sehen diesen Anstieg nur bei Leuten, deren Hauptmotivation der Nervenkitzel ist», erklärt Pascal Haegeli. Für Leute, die grundsätzlich konservativ unterwegs sind, einen Gipfel vor allem der schönen Landschaft wegen besteigen und sich im Idealfall noch über unberührten Pulver freuen, besteht diese Korrelation nicht. Sie scheinen von der Risikokompensation viel weniger betroffen zu sein. «Wichtig ist dabei, zu verstehen, dass wir nicht immer in der gleichen Kategorie sind», betont Pascal Haegeli. «Was wir auf Skitouren und beim Freeriden suchen, verändert sich ständig. Es kommt darauf an, mit wem wir unterwegs sind, ist abhängig von unserer Lebenssituation, unserem Alter oder unserer Tagesform. Diesen Veränderungen müssen wir Rechnung tragen.»

LVS, Schaufel und Sonde sind unverzichtbar

Die Tatsache, dass die Risikokompensation ein nachweisbarer Effekt sei, solle aber kein Argument gegen Lawinenairbags sein, findet Pascal Haegeli. Vielmehr müssten wir uns des Effektes bewusst sein und ihn in der Lawinenausbildung behandeln. Ähnlich klingt es auch vonseiten des SAC: Die Grundausrüstung im Lawinengelände bleiben LVS, Schaufel und Sonde, doch Lawinenairbags sind empfehlenswert. Besonders wer häufig auf der Suche nach dem Adrenalinkick ist, sollte sich vertieft mit der Risikokompensation auseinandersetzen. Denn auch ein Airbag bietet keine Garantie, einen Lawinenunfall unverletzt zu überstehen. In 61 (20%) von 307 untersuchten Lawinenunfällen zwischen 1994 und 2012 wurde ein vorhandener Airbag nicht ausgelöst. Hauptsächlich, weil er nicht richtig bedient wurde. Pascal Haegeli betont deshalb, dass das Auslösen geübt sein will. Im Ernstfall müssen wir den Airbag ohne zu überlegen auslösen können. Airbags mit Ventilatorensystem lassen sich beliebig oft auslösen, bei Kartuschensystemen übt man am besten ohne Kartusche. Zusätzlich können wir der Risikokompensation entgegenwirken, indem wir uns an den Airbag gewöhnen, beispielsweise, indem wir ihn auf jeder Tour zum Standard machen, egal welches Terrain wir ansteuern oder was im Bulletin steht.

Lawinenairbag – ja bitte!

Elf Monate nach Michaels Unfall diskutieren wir auf seiner ersten Skitour lange über den Lawinenairbag. Die Frage ist nicht mehr so sehr, ob ein Lawinenairbag angeschafft werden soll oder nicht, sondern bloss, welcher genau. Die Auswahl ist heute breit, und es findet sich für jeden Geschmack etwas. Gleichzeitig erinnert uns ein Blick auf Michaels Bein daran, dass auch ein Lawinenairbag keinen Schutz vor Absturz oder Kollision mit Hindernissen bietet. Gemütlich folgen wir dem kleinen Strässchen durch unsteiles Gelände, im Wissen, dass das Vermeiden einer Lawine noch immer der beste Schutz ist.

Studien zum Thema

Haegeli, P., Rupf, R., und Karlen, B., Do avalanche airbags lead to riskier choices among backcountry and out-of-bounds skiers?, in: Journal of Outdoor Recreation and Tourism, im Druck → https://doi.org/10.1016/j.jort.2019.100270

Haegeli, P., Falk, M., Procter, E., Zweifel, B., Jarry, F., Logan, S., Kronholm, K., Biskupič, M., und Brugger, H., The effectiveness of avalanche airbags, in: Resuscitation, v. 85, 2014, S. 1197–1203, → https://doi.org/10.1016/j.resuscitation.2014.05.025.

Wolken, N.J., Zweifel, B., und Tschiesner, R., Avalanche airbags and risk compensation: an empirical investigation, in: Proceedings of the 2014 International Snow Science Workshop, Banff, 2014, S. 957–962.

Airbag-Systeme

Ein Lawinenairbag ermöglicht, dass ein von einer Lawine erfasster Skitourengänger auf den Schneemassen «aufschwimmt». Dazu löst der Skitourengänger im Moment des Lawinenabgangs den in einem Rucksack integrierten Airbag aus, dieser bläst sich innert weniger Sekunden auf. Der physikalische Hintergrund für das Aufschwimmen ist der «Paranuss-Effekt». Dieser führt dazu, dass sich in einem fliessenden Medium wie einer Lawine die volumenmässig grösseren Körper an der Oberfläche absetzen, während die kleineren Körper zu Boden sinken, da sie sich dichter aneinanderlagern können. Aktuell sind verschiedene Airbag-Modelle erhältlich. Sie lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen: solche mit Kartuschensystem und solche mit Ventilatorensystem.

Kartuschensystem

In diesen Systemen wird der Airbag mittels komprimierter Luft aus Kartuschen aufgeblasen. Je nach Hersteller handelt es sich beim Inhalt der Kartuschen um Atemluft oder Stickstoff. Einmal ausgelöst, muss die Kartusche wieder gefüllt (bei Druckluftkartuschen) oder ausgetauscht (für Stickstoffkartuschen) werden. Dies kann in Sportgeschäften oder via Hersteller gemacht werden und kostet ca. 20 Franken.

Ventilatorensystem

Wie der Name sagt, funktionieren diese Systeme mit batteriebetriebenen Ventilatoren, die den Airbag bei einer Auslösung innert Sekunden aufblasen. Da dieses System noch relativ neu auf dem Markt ist, besteht weniger Auswahl, je nach Hersteller sind die Modelle teurer und etwas schwerer, dafür kann der Airbag beliebig oft ausgelöst werden.

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